Wahlrecht statt Kulturkampf
Seit vier Jahren radelt der Steuerberater Aydin Akin als lebende Litfaßsäule durch Berlin – mit Trillerpfeife, Papptafeln und einem Megafon, das seine Forderung nach Wahlrecht auf türkisch wiederholt. „Ich zahle eine halbe Ewigkeit Steuern in Deutschland, habe Pflichten, aber keine Rechte, nur weil ich einen türkischen Pass habe“, sagt er. Seit Jahren schreibt Akin Briefe an Politiker, Medien und Migrantenvereine. Die einen ruft er auf, Gesetze zu verändern, die anderen, für ihre Rechte zu protestieren. Jedes Schreiben wird mit einer Seriennummer versehen und dokumentiert. Rund 25.000 Briefe und E-Mails sind bisher zusammengekommen.
Aydin Akin ist einer von etwa 6,1 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern Deutschlands ab 18 Jahren, die ausgeschlossen sind vom grundlegenden Bürgerrecht, wählen gehen zu können. Immer deutlicher stellen sie die Frage, ob im integrationspolitischen Diskurs nicht eine gewaltige Schieflage eingetreten ist: Wenn es um Einwanderer geht, dann ist viel die Rede von Sprachkenntnissen, Erziehungsstilen und vom Streit um Multikulti. Man eilt vom Sozialpädagogenkongress zum Integrationsgipfel und von der Talkrunde über Integrationsverweigerung zur Islamkonferenz, um Problemhorizonte auszuloten und neue Programme zu entwickeln. Das hat seine Berechtigung, und wichtige Reformen wurden angestoßen, doch eine zentrale Ebene fehlt: Es geht immer weniger um Bürgerrechte, Staatsbürgerschaft und Demokratiebeteiligung von Minderheiten. Dieser „blinde Fleck“ hat nicht nur integrationspolitisch gravierende Folgen, sondern stellt die demokratischen Grundsätze insgesamt in Frage.
„Was alle betrifft, bedarf der Zustimmung aller.“ So lautet das weitgehend anerkannte Grundprinzip demokratischer Gesellschaften. Im Klartext: Die Wahlbevölkerung, aus der die Staatsgewalt hervorgeht und die der Staatsgewalt unterworfene Wohnbevölkerung müssen möglichst weit übereinstimmen, sonst kommt es zu einem Machtungleichgewicht zwischen Einbezogenen und Ausgeschlossenen. Die gleichberechtigte Teilhabe an der Verteilung von Macht und Ressourcen ist Voraussetzung dafür, dass sich Menschen als Bürger und damit als gleichberechtigter Teil eines demokratischen Gemeinwesens fühlen. Sie stiftet Identifikation mit dem politischen System und schafft die Grundlage für seine Legitimation. Die jahrzehntelang ausgebliebene politische Reaktion auf die Einwanderung hat diese demokratischen Grundregeln in der Bundesrepublik aufgeweicht. Wie in kaum einem anderen europäischen Land sind Einwanderer bei uns aufgrund einer restriktiven Wahlrechtspraxis von der Teilhabe an den politischen Prozessen ausgeschlossen. Lassen wir einige Zahlen sprechen: Die meisten der hier lebenden Erwachsenen mit ausländischem Pass sind keine Neubürger, sondern leben seit vielen Jahren hier, zahlen Steuern und beteiligen sich am gesellschaftlichen Leben. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Türken in Deutschland beträgt immerhin 17 Jahre! Im Jahr 2000, während der letzten großen Debatte um das Staatsbürgerschaftsrecht, hatte Deutschland unter allen Ländern der Europäischen Union mit 8,2 Prozent den größten Anteil an nicht-wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern. Zum Vergleich: In Großbritannien waren es 4,6 Prozent, in Frankreich 5,2 Prozent, in den Niederlanden 4,6 Prozent. Geändert hat sich an dieser Situation seitdem nicht viel.
Demokratiefreie Zonen in den Armutsvierteln
Am Beispiel Berlin lässt sich zeigen, wie weitreichend der Ausschluss gerade in den Einwandererquartieren ist: Von den 2,87 Millionen über 18-jährigen Berlinern haben 408.800 keine Wahlberechtigung – das sind 16,5 Prozent. In den Einwandererbezirken Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg sind 23,5 Prozent ohne Wahlrecht. Das Schlusslicht bildet der Bezirk Mitte mit 28 Prozent. „In den Armutsvierteln der Städte und in den Stadtteilen mit den höchsten Migrantenanteilen sind ‚demokratiefreie Zonen‘ entstanden, in denen nur noch eine Minorität der Menschen am politischen Leben partizipiert und die Mehrheit in der örtlichen Politik kein Gewicht hat“, schreibt der Soziologe Klaus Peter Strohmeier. Mit fatalen Folgen: Wer nicht wählen darf, steht nicht im Vordergrund parteipolitischer Aufmerksamkeit. Im Gegenteil wird auf dem Rücken der Einwanderer Wahlkampf gemacht, um konservative Wählerschichten zu bedienen. Beispiele dafür gibt es in der deutschen Geschichte genug. In Hessen hat Roland Koch mehrfach versucht, Wahlen zu einem Plebiszit gegen Einwanderer und Einwanderung umzumünzen.
Aber nicht nur die Verteilung von Wählerstimmen, auch die Verteilung von Einfluss und der Zugriff auf Ressourcen wie politische Ämter und Führungspositionen im öffentlichen Sektor werden in einer Demokratie mittelbar über die politischen Kräfteverhältnisse bestimmt. Die Wählergruppen wollen sich repräsentiert sehen. Hier liegt einer der Gründe, warum Einwanderer und ihre Nachkommen im öffentlichen Dienst kaum zu finden sind. Umgekehrt erschweren das fehlende Wahlrecht und die geringe Repräsentanz in den öffentlichen Institutionen die Identifikation der Ausgeschlossenen mit dem gesellschaftlichen System. Das Demokratiedefizit wird zum Integrationshindernis. Zusätzlich verschärft wird diese Situation paradoxerweise durch plebiszitäre Elemente, mit deren Hilfe die repräsentative Demokratie eigentlich attraktiver werden soll. So hat Berlin im Jahr 2005 die Zulassung von Bürger- und Volksbegehren erheblich vereinfacht. Und tatsächlich beteiligen sich seither mehr Bürger an zentralen politischen Entscheidungen in der Stadt, ob es um die Schließung des Flughafens Tempelhof oder um die Organisation des Religionsunterrichtes geht. Doch auch hier sind diejenigen ausgeschlossen, die keinen deutschen Pass haben, denn eine Teilnahme an Volksbegehren ist an das allgemeine Wahlrecht gebunden.
Wie der internationale Vergleich zeigt, ist das Auseinanderklaffen von Wohnbevölkerung und Wahlbevölkerung kein Schicksal. Erstens hat Deutschland nach wie vor eine der niedrigsten Einbürgerungsquoten der EU: Im Jahr 2006 wurden nur 1,8 Prozent aller ausländischen Bewohner eingebürgert. Vor allem in den EU-Mitgliedsstaaten mit kolonialer Vergangenheit können sich Einwanderer aus ehemaligen Kolonien sehr leicht einbürgern lassen, andere Länder haben ihr Einbürgerungsrecht frühzeitig modernisiert. In Großbritannien lag die Einbürgerungsquote im Jahr 2006 bei 5,1 Prozent und in Schweden bei 10,7 Prozent. Zweitens verweigert Deutschland Ausländern das Wahlrecht. Das Gros der EU-Staaten gewährt inzwischen auch Nicht-Staatsbürgern das Wahlrecht, zumindest auf kommunaler oder regionaler Ebene. Zehn Mitgliedsstaaten der EU-15 haben ein kommunales Ausländerwahlrecht, darüber hinaus gibt es ein weitergehendes Wahlrecht für Einwohner aus bestimmten Ländern. In Großbritannien zum Beispiel können auch Bürger aus den Commonwealth-Staaten wählen gehen. In der Bundesrepublik ist das kommunale Wahlrecht auf EU-Bürger beschränkt.
Wer über die Zukunft des Multikulturalismus diskutiert, muss sich zunächst diese grundlegenden Unterschiede im Rechtsstatus der Einwanderer vergegenwärtigen. Beispielsweise verweisen die Verfechter einer Entliberalisierung des Integrationsdiskurses gern auf die Niederlande, die viele Jahrzehnte als das Musterland des aufgeklärten Multikulturalismus galten und mit dem Tod des Filmemachers Theo van Gogh eine Kehrtwende in der Integrationspolitik vollzogen haben. Jedoch blenden sie aus, dass sich die Appelle zu stärkerer Integration in den Niederlanden an eigene Staatsbürger richten. Die übergroße Mehrheit der niederländischen Einwanderer verfügt über volle politische Mitbestimmungsrechte. Aufgrund des kommunalen Wahlrechts auch für Nicht-EU-Bürger sind bei Entscheidungen auf kommunaler Ebene mehr als 90 Prozent der Bewohner wahlberechtigt. Einwanderer bestimmen mit ihrem Wahlzettel auch die Ausrichtung der Integrationspolitik mit. Deshalb gilt: Wer fordert, Deutschland müsse die holländische Politik nachahmen, der muss auch Veränderungen im deutschen Recht fordern.
Zum einen müssen wir Einbürgerungen erleichtern, indem wir doppelte Staatsbürgerschaften hinnehmen. Laut Umfragen geben 55 Prozent der bei uns lebenden Ausländer an, gegen eine Einbürgerung spreche die Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft. Wie weltfremd die deutsche Debatte ist, zeigt die so genannte Optionsregelung, die im Jahr 2000 in das Staatsbürgerschaftsrecht aufgenommen wurde: In der Bundesrepublik geborene Kinder von Ausländern können neben der Staatsbürgerschaft der Eltern auch automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, müssen sich aber bis zum Alter von
23 Jahren für eine der beiden Staatsbürgerschaften entscheiden. Inzwischen wachsen fast eine halbe Million „Options-Kinder und -Jugendliche“ heran. Zum anderen müssen wir das Wahlrecht für Ausländer zumindest auf kommunaler Ebene erweitern. Jedoch folgt die deutsche Politik mehrheitlich dem Dogma, dass die vollen Bürgerrechte erst am Ende des Integrationsprozesses stehen sollen – sozusagen als Krönung einer erfolgreichen Integration.
Der grundlegende Politikwechsel, für den ich plädiere, hat eine tiefgreifende Veränderung im Umgang mit Minderheiten zur Folge. Er führt zu einer neuen Deutung dessen, wer und was das Volk ist, von dem laut Grundgesetz alle Macht ausgeht. Ein solcher Politikwechsel würde somit auch eine zukunftsweisende Antwort auf die Herausforderungen ermöglichen, vor denen die westlichen Demokratien angesichts von Globalisierung und weltweit zunehmender Migrationsströme stehen. Die aktuellen Debatten und die politischen Mehrheitsverhältnisse geben wenig Anlass zu Hoffnung. Aber vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte: Das allgemeine Wahlrecht musste gegen Monarchie, Aristokratie und Bourgeoisie erkämpft werden, die ihre Privilegien verteidigten. Auch im Mutterland des modernen Parlamentarismus, in England, war lange nur ein kleiner Teil der Männer wahlberechtigt, musste das allgemeine Frauenwahlrecht Anfang des 20. Jahrhunderts erstritten werden. In den USA, seit ihrer Gründung als Demokratie konzipiert, musste eine Bürgerrechtsbewegung das Wahlrecht der Afroamerikaner erst durchsetzen. Wird es auch in Deutschland irgendwann eine solche Bewegung geben, die die Teilhabe der Einwanderer zum zentralen Thema macht? Die Antwort auf diese Frage wird nicht nur für die Integrationspolitik, sondern auch für die Weiterentwicklung der Demokratie insgesamt von zentraler Bedeutung sein.«