Warum Bürokratieabbau so schwer ist



„Bürokratieabbau“ hat derzeit Konjunktur. Das Thema ist Gegenstand der letzten Koalitionsvereinbarung, es gibt inzwischen einen neu eingesetzten „Normenkontrollrat“ und einen „Small Business Act“. Für die deutsche EU-Präsidentschaft hat die Kanzlerin diesen Schwerpunkt angekündigt, und auch EU-Kommissar Günter Verheugen schlägt sich derzeit damit herum. Gleichzeitig sind Bürokratieabbau oder Entbürokratisierung klassische Themen der Staats- und Verwaltungsmodernisierung, die mit schöner Regelmäßigkeit auf der politischen Agenda auftauchen.

So gab es in Westdeutschland bereits in den siebziger Jahren in fast allen Bundesländern Entbürokratisierungskommissionen. Auch umfangreiche – und immer noch nachlesenswerte – Anhörungen der Bundesregierung fanden schon damals statt. Seitdem hatten wir verschiedene Entbürokratisierungskommissionen der Kohl-Regierungen; vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an die Schlichter-, Waffenschmidt- und Scholz-Kommissionen – und wie sie alle hießen. Auch die letzte Schröder-Regierung setzte dieses Thema im Rahmen der „Initiative Bürokratieabbau“ auf ihre Agenda.

Aber das Problem ist älter: Die erste bundesdeutsche Entbürokratisierungskommission wurde bereits 1947 in der Bizone eingesetzt, von den Versuchen in der Weimarer Republik gar nicht zu reden. Es gibt ein berühmtes Entbürokratisierungsgutachten von Bill Drews aus dem Jahre 1914 und schon in der Paulskirche wurden Anträge gestellt, die überbordende Bürokratie einzudämmen. Offensichtlich haben diese vielen Klagen, Gutachten, Kommissionen und die durch sie ausgelösten Aktivitäten das Problem bisher nicht „gelöst“. Daher sollte man versuchen, einige Lehren aus den bisherigen Ansätzen zu ziehen. Es nützt offenbar nichts, alle paar Jahre den Bürokratieabbau neu zu erfinden und sich dann zu wundern, dass daraus nichts wird.

Ausgangspunkt sind drei einfache, leicht zugespitzte Thesen und die sich daraus ergebenden Fragen: Erstens: Wir wissen nicht genau, was wir mit Bürokratieabbau bekämpfen wollen; was also ist eigentlich das Problem? Zweitens verfolgen wir die falschen Schuldigen; wo sitzen also die tatsächlich Verantwortlichen? Und drittens reden wir zu viel über Instrumente und Maßnahmen und zu wenig über Organisationsformen und Institutionen; wo sollte man also vor allem ansetzen?

Was ist eigentlich das Problem?

Die Missverständnisse fangen bei den zugrundeliegenden Problemen an. „Bürokratisierung“ und „Bürokratieabbau“ benennen in der öffentlichen Wahrnehmung sehr vielfältige Phänomene: die aufgeblähte Bürokratie, die berühmten unnützen und überflüssigen Gesetze und Vorschriften, aber auch bürokratisches Verhalten, unverständliche bis absurde Vorschriften und Bescheide, umständliche Sprache, unfreundliche Mitarbeiter der Verwaltung, Unpersönlichkeit, Rigidität, Dogmatismus, undurchschaubare Prozesse und Zuständigkeiten und so weiter. In dieser Kakophonie sollte man mindestens sechs unterschiedliche Ebenen unterscheiden:

Erstens geht es um „zuviel Staat“; das ist die staatliche Aufgabenebene. Es ist wenig sinnvoll und verschleiert das Problem, Bürokratieabbau zu fordern, wenn eigentlich die Reduzierung staatlicher Aufgaben und Ausgaben gemeint ist. Die hohe Staatsquote hat bei uns viel mit sozialstaatlicher Umverteilung und vor allem mit Besitzstandswahrung zu tun – und sehr wenig mit Bürokratie. Immerhin machen Sozialausgaben inzwischen beinahe 50 Prozent des Bundeshaushalts aus. Wenn die Ausgaben für Zinsen und Verteidigung dazu kommen, bleiben für sämtliche übrigen staatlichen Ausgaben gerade noch gute 26 Prozent übrig. Politische Kontroversen über den Umfang staatlicher Aufgaben sind notwendig und legitim, aber sie sind etwas anderes als Bürokratiekritik, und man sollte daher keinen billigen Etikettenschwindel betreiben. Also nicht den Sack Bürokratie schlagen, wenn man den Esel Sozialstaat meint.

Zweitens gilt ähnliches für die immer wieder gern beschworene „aufgeblähte staatliche Bürokratie“. Der Anteil öffentlich Beschäftigter an der Gesamtbeschäftigung beträgt in Deutschland 12 Prozent, was im internationalen Vergleich unteres Mittelfeld bedeutet. Gleichzeitig schrumpft der Anteil seit Jahren. Der typische deutsche Beamte ist Lehrer beziehungsweise Lehrerin, dann kommen Polizisten, dann die Justiz, dann kommt ganz lange nichts – und dann der Sozialbereich. Die Vorstellung, der deutsche öffentliche Dienst bestünde überwiegend aus unproduktiven Bürokraten, entbehrt jeder Grundlage. Tatsächlich ist beispielsweise die Zahl der auf Bundesebene im öffentlichen Dienst Beschäftigten heute geringer als 1989 – trotz der neuen Länder, die selbstverständlich in den Zahlen für die Bundesrepublik 1989 nicht enthalten sind. Vermutlich kann der öffentliche Sektor in Deutschland auf bestimmten Gebieten mit noch weniger Personal auskommen. Es gilt, weitere Produktivitätsgewinne zu realisieren – aber auch dies ist nicht das zentrale Bürokratieproblem.

Fehlende Kundenfreundlichkeit und abstruse Sprache

Drittens steht in der täglichen Bürokratiekritik eine ganz andere Ebene im Zentrum, nämlich die Frage nach der „bürokratischen Organisation“ von Behörden und dem Verhalten von Behördenmitarbeitern. Dabei geht es um übertriebene Hierarchisierung, langsame und schwerfällige Bearbeitung, interne Koordinationsprobleme, mangelndes Kostenbewusstsein, Unpersönlichkeit, mangelnde Dienstleistungs- und Kundenorientierung, abstruse Verwaltungssprache und so weiter. Tatsächlich lässt die Kundenfreundlichkeit und Schnelligkeit unserer Behörden (allerdings nicht nur der Behörden) oft zu wünschen übrig. Hier kann und muss noch einiges geschehen. Allerdings sollte auch zur Kenntnis genommen werden, dass es in den vergangenen Jahren auf diesem Gebiet erhebliche Fortschritte gegeben hat. Die deutsche Verwaltung erfährt seit Mitte der neunziger Jahre einen erheblichen Modernisierungsschub, etwa durch die Einführung moderner Managementmethoden, durch das so genannte E-Government sowie neue Angebote wie „Kundenzentren“ oder „One-Stop-Shops“. Empirische Untersuchungen zeigen immer wieder, dass direkte Kontakte zwischen Bürgern beziehungsweise Unternehmen und der Verwaltung in den weitaus meisten Fällen unproblematisch ablaufen. Das Stereotyp des unfreundlichen, langsamen und inflexiblen Verwaltungsmitarbeiters ist schwer auszurotten. Es mag auch gelegentlich noch berechtigt sein, ist aber ebenfalls nicht das zentrale Bürokratieproblem – und auf jeden Fall weitgehend anders zu bekämpfen als mit den üblichen Instrumenten des Bürokratieabbaus.

Viertens treten besondere Probleme auf, wenn verschiedene Verwaltungen beteiligt sind. So lassen sich etliche häufig angesprochene „Bürokratieprobleme“, etwa die zu lange Dauer von Prüf- und Genehmigungsverfahren und die Mehrfachbelastung durch Formulare und Berichtspflichten, als inter-organisatorische Probleme zwischen verschiedenen sektoralen Regelungen und damit beschäftigten Verwaltungseinheiten identifizieren. Das gleiche gilt für die komplexe, für den Adressaten oft schwer zu durchschauende Struktur von Ansprechpartnern, Verzögerungen aufgrund interner Kommunikations- und Abstimmungsprobleme zwischen Verwaltungen oder sogar Kompetenzstreitigkeiten. Die einzelne Regelung ist oft gar nicht das Problem, sondern die Kombination unterschiedlicher, einander oft überlappender Regulierungen. Diese Komplexität ist vor allem eine organisatorische Folge spezialisierter sektoraler Regelungen, Zuständigkeiten und Aufgabenverteilungen innerhalb des deutschen Föderalismus. Allerdings sind diese vielfältigen Zuständigkeiten in aller Regel fachlich begründet und politisch gewollt. Wenn man kommunale Selbstverwaltung will, darf man sich nicht regelmäßig beschweren, wenn sie wahrgenommen wird. Tatsächlich gibt es in Fragen der überkommenen Aufgabenverteilung offensichtlich Reformbedarf, wie dies in der Föderalismusreform oder in verschiedenen Strukturreformen der Bundesländer problematisiert wird – aber auch dies ist kein typisches Bürokratieproblem.

Fünftens
geht es um den Abbau von sektoralen Normen und Regeln, also um klassische Deregulierung. Das ist die bekannte Kritik an der Gesetzes- und Verordnungsflut, an den berühmten „unnützen und überflüssigen“ Gesetzen und Vorschriften, etwa im Arbeits-, Umwelt- oder Denkmalschutz. Überflüssige Vorschriften ähneln allerdings sehr den überflüssigen Subventionen: Es gibt bekanntlich, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, eine große, beinahe unüberschaubare Menge überflüssiger Subventionen. Wenn allerdings eine einzelne konkrete Subvention abgeschafft oder gekürzt werden soll, entbrennt erbitterter Widerstand der Betroffenen. Der Widerstand der Interessenverbände – und der von diesen Interessen instrumentalisierten Opposition – bei den von der letzten Bundesregierung versuchten Deregulierungen der Handwerksordnung, der Honorarordnungen für Architekten oder Rechtsanwälte, der Apothekenordung oder des Vergaberechts illustrieren das Problem. Erst kürzlich scheiterte der amtierende Wirtschaftsminister bei dem Versuch, das Gaststättengesetz abzuschaffen am kombinierten Widerstand von Verbänden und Kommunen. Deregulierung, so lautet die entscheidende Erkenntnis, ist offensichtlich ein politischer, kein bürokratischer Prozess.

Sechstens schließlich geht es um die Dichte und Komplexität von Regelungen, also um die konkrete Ausgestaltung politisch gewollter Regulierung und die dadurch verursachten Kosten bei den davon direkt Betroffenen. Das Ziel ist nicht platte Deregulierung, sondern (in den Worten der OECD) „better regulation“ oder „smarter regulation“. Hier sollte der zentrale Ansatzpunkt zukünftiger Maßnahmen liegen. Es ist nicht sinnvoll und verwirrt die öffentliche Debatte, bloß allgemein „die Bürokratie“ zu beschimpfen, die, wie gezeigt, viele Gesichter und viele Gründe hat. Ziel des „Bürokratieabbaus“ sollte sein, mit Regulierungen verbundene Belastungen für Unternehmen und Bürger zu reduzieren. Gleichzeitig ist offenkundig, dass es immer eine Abwägung, einen trade off zwischen dem politisch gewollten Nutzen von Regulierungen und den Kosten gibt, die mit ihnen einhergehen.

Wer ist schuld?

Auch auf die Frage, wer denn für bürokratische Regulierungen und Hemmnisse verantwortlich ist, wo denn die Schurken sitzen, gibt es eine Reihe populärer und einfacher Antworten. Wenn man die Wirtschaft fragt, wird gern auf die Bürokratie verwiesen: Innerhalb der Staatsbürokratie entwickelten hyperaktive Bürokraten unkontrolliert Regulierungen, die vor allem ihrer Selbstbeschäftigung und ihrem Eigeninteresse dienten, etwa der Budgetmaximierung. Fragt man hingegen Bürokraten, also Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung, so verweisen diese gern auf die Politik: Wenn die Politiker nicht so viele Gesetze und Verordnungen machen würden, wäre alles viel einfacher, die Bürokratie viel schneller und flexibler. Fragt man dann die Politiker, verweisen diese auf die Wirtschaft, auf Interessengruppen und Lobbyismus: Ohne politischen Druck gäbe es keine Regulierung. Damit ist die Schuldfrage geklärt: Jeder verweist auf jeden. Für Bürokratieabbau und Deregulierung gilt offenbar, was auch schon über das staatliche Sparen gesagt wurde: Staatliches Sparen ist generell populär – und im Detail unpopulär.

Bürokratieabbau ist generell populär. Diese Überzeugung endet meist abrupt bei eigener Betroffenheit und dreht sich dann nicht selten in organisierten Widerstand um, wie die genannten Beispiele gegen Deregulierungsversuche der rot-grünen Bundesregierung zeigen. Ein weiteres Beispiel ist der in Niedersachsen deutlich gewordene massive Widerstand von Elterninitiativen, unterstützt von Berufsverbänden der Erzieher, gegen die Absenkung „bürokratischer“ Standards in den Kitas. Offensichtlich ist es das wohlverstandene Eigeninteresse von Eltern und Erzieherinnen, gegen die Absenkung von Standards bezüglich baulicher Ausstattung oder Gruppengrößen ihr Widerstandspotenzial zu mobilisieren – welche Eltern hätten daran kein Interesse?

An weiteren Beispielen besteht kein Mangel: Instruktiv sind die Reaktionen auf Vogelgrippe, Schweinepest, Gammelfleisch oder den Zusammenbruch der Hallendecke in Bad Reichenhall. Immer erschallen einhellige Forderungen nach schärferen Gesetzen und intensiverer Überwachung. Wenn ein Landrat versucht, die Friedhofsverordnung aufzuheben, bekommt er Ärger mit dem Verband der Bestatter. Und wenn die Bundesregierung beschließt, dass zukünftig das Handelsregister elektronisch geführt wird und daher Änderungen nicht mehr in der Zeitung veröffentlicht werden müssen, beschweren sich die Zeitungsverleger – sonst unermüdliche Vorkämpfer der Entbürokratisierung. Sollen in den Bundesländern das Baurecht vereinfacht und den Architekten größere Verantwortung übertragen werden, lehnen dies gerade die Verbände der Architekten ab.

Wozu eine Verordnung über die Beschaffenheit der Spreewaldkähne?

In der gleichen Woche, in der der Normenkontrollrat der Bundesregierung eingesetzt wurde, forderten der Juristentag und die Ärzteverbände eine präzisere gesetzliche Regelung der Sterbehilfe, Bauern- und Verbraucherverbände schärfere Regelungen und Überwachungen im Lebensmittelrecht. Zugleich wurde ausgiebig über eine zukünftig verschärfte Regulierung des Rauchens in öffentlich zugänglichen Räumen und das Doping im Sport diskutiert. In Brandenburg wurde in jener Woche eine neue Verordnung über die Beschaffenheit der Kähne im Spreewald veröffentlicht. Dort wird unter anderem geregelt, wie dick der Boden dieser Kähne sein muss, wie breit sie sein dürfen und wie eng der Abstand zwischen den Sitzbänken zu sein hat. Dies ist nicht, wie die Presse selbstverständlich sofort vermutete, eine Ausgeburt unterbeschäftigter und übermotivierter regelungswütiger Bürokraten, sondern folgt Forderungen der Spreewaldkahnbetreiber, die damit unsichere Boote und eine ruinöse Konkurrenz vermeiden wollen.

Entscheidend ist folgendes: Alle drei oben genannten potenziellen Verursacher von Regulierung – Bürokratie, Wirtschaft, Politik – sind schuld, weil sie zusammenarbeiten. Regulierungen, die sich im politischen Entscheidungsprozess durchsetzen und etablieren, basieren üblicherweise auf der Unterstützung engagierter und einflussreicher Akteure mit spezifischen und substanziellen Interessen im jeweiligen Bereich. Diese durchaus legitimen Klientelinteressen und deren organisierte Vertretung in Verbänden verbünden sich dabei mit Fachkoalitionen von Politikern (etwa Agrar-, Umwelt- oder Sozialpolitikern) und den damit beschäftigten Behörden. Dass zuständige Behörden dabei bestimmte Interessen wahrnehmen, ist kaum zu kritisieren: Eine Naturschutz- oder Denkmalschutzbehörde, die sich nicht dezidiert für Natur- oder Denkmalschutz engagiert, verfehlt offensichtlich ihre Aufgabe.

In den Sozialwissenschaften spricht man in diesem Zusammenhang von „selektiver Problemperzeption“ und von „Eisernen Dreiecken“. Demnach verfügen Regulierungsbefürworter als Spezialisten in „ihrem“ Regulierungsbereich über eine „natürliche“ Unterstützung durch Klienten, Adressaten, Fachbehörden und Fachpolitiker. Zur Absicherung ihrer fachpolitischen Interessen können diese Eisernen Dreiecke erhebliches Mobilisierungspotenzial aktivieren. Dabei stützen sie sich vor allem auf ihre überlegene spezialisierte Expertise. Während also Regulierung vor allem eine Sache von Spezialisten ist, die ein konkretes materielles Interesse an einem Politikbereich haben, werden Deregulierungs- oder Entbürokratisierungsinteressen vor allem von Generalisten vertreten, beispielsweise von Querschnittspolitikern in Regierungszentralen oder – in Deutschland seltener – von Finanzministerien. Unterstützung für generelle Anliegen, also etwa den „Bürokratieabbau“ ist diffus, kaum organisiert und daher auch schwer zu mobilisieren – auch das ist aus der Politikforschung hinlänglich bekannt. In der Auseinandersetzung mit den Spezialisten der fachpolitischen Koalitionen sind die Generalisten zudem aufgrund fehlender Detailinformationen unterlegen. Regulierungswut hat also etwas mit einem Ungleichgewicht zwischen Spezialisten und Generalisten zu tun. Jedes Ressort und jeder Politikbereich ist ein bodenloser Ozean von Detailwissen. Wer sich auf fachliche Diskussionen mit Regulierungsbefürwortern einlässt, hat in der Regel schon verloren.

Allerdings gibt es auch noch andere gesellschaftliche Voraussetzungen der Regulierungsfülle in Deutschland. Im internationalen Vergleich zeichnen wir uns durch eine besondere Intoleranz gegenüber Unsicherheit aus. Ermessensspielräume, unbestimmte Rechtsbegriffe, überhaupt: rechtlich nicht geregelte Materien sind uns ein Gräuel. Wir wollen klare, nachprüfbare Regeln. Und wir wollen jede einzelne Verwaltungsentscheidung vor Gericht anfechten können. Ein Beispiel liefert die Realisierung der so genannten Hartz-Reformen: Nach erfolgreichen ausländischen Vorbildern wurden Fallmanager eingeführt, um gegenüber den Klienten flexibler und angemessener reagieren zu können. Kaum aber waren diese Fallmanager geschaffen, wurden von den üblichen Anhängern der Entbürokratisierung – unter anderen von Ministerpräsident Stoiber – klare und eindeutige Richtlinien gefordert, aus denen hervorgehen solle, was Fallmanager im Einzelfall wann entscheiden dürfen, nach welchen Kriterien und warum. Und inzwischen wird natürlich jede dieser Entscheidungen vor den Arbeitsgerichten angefochten und dort überprüft.

Wir sind besessen vom Problem der Einzelfallgerechtigkeit. Und wir sind stolz auf unser ausgeklügeltes juristisches System der Überprüfung jeder administrativen Entscheidung durch besondere Verwaltungsgerichte. Das sind alles unbestreitbare rechtsstaatliche Errungenschaften, aber sie verursachen Kosten. Wir wollen absolut einwandfreie, korrekte, jederzeit gerichtlich überprüfbare rechtsstaatliche Verfahren – und wir wollen Flexibilität, Schnelligkeit, Kundenfreundlichkeit und unbürokratisches Verhalten. Aber wir sind nicht bereit anzuerkennen, dass nicht beide Ziele gleichzeitig maximiert werden können. Als banales Beispiel: Wenn wir einen Anbau an unserem Haus planen, erwarten wir eine schnelle, flexible, kundenfreundliche, „unbürokratische“ Entscheidung des Bauamtes. Wenn aber unser Nachbar einen Anbau plant, erwarten wir, dass das Baurecht korrekt eingehalten wird. Anderenfalls behalten wir uns vor, vor Gericht zu klagen. Unser Baurecht ist vor allem deshalb so kompliziert, weil es ein Nachbarschaftsrecht ist.

Was kann man tun?

Die skizzierten Mechanismen sind in der Verwaltungswissenschaft wohl bekannt. Leider wurden daraus für Bürokratieabbau und bessere Regulierung bisher kaum Schlussfolgerungen gezogen. Stattdessen überwiegt eine technokratische und instrumentenfixierte Betrachtung, die davon auszugehen scheint, dass der Bürokratieabbau eigentlich ganz einfach sei, wenn wir nur endlich die richtigen Instrumente anwenden und uns alle ganz viel Mühe geben. Diese Eigentümlichkeit der deutschen Entbürokratisierungsdiskussion zeigt sich deutlich in dem ewigen Recycling altbekannter Instrumente, die seit langem auf der Tagungsordnung stehen, bisher keinen durchschlagenden Erfolg vorweisen konnten, aber dennoch immer wieder gern ausgegraben werden.

So steht an erster Stelle der Vorschläge seit langem die „quantitative Reduzierung“ der Anzahl von Vorschriften. Auch dazu ein Beispiel: Es gibt bei uns über 30.000 Normen, die wirtschaftliches Handeln regulieren, jährlich kommen ungefähr 500 dazu, und über 2.000 werden novelliert. Allerdings handelt es sich in diesem Fall um „gute“ Normen, die von allen Beteiligten gelobt werden und deren Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Deutschland außer Frage steht, nämlich um die DIN-Normen. Niemand beklagt sich über die Anzahl und Komplexität der neuen Regulierungen oder den Gesamtbestand an Vorschriften – weil jeder weiß, dass diese unerlässlich für eine hochentwickelte und international konkurrenzfähige Wirtschaft sind. Wie das Beispiel der DIN-Normen zeigt, besagt die Anzahl von Vorschriften also rein gar nichts über die Qualität dieser Normen, ihren Nutzen oder die mit ihnen verbundenen Belastungen für Unternehmen oder Bürger.

Warum Tonnenideologie beim Bürokratieabbau nicht weiterhilft

Dennoch hat diese „Tonnenideologie“ immer noch ihre Anhänger. Besonders ehrgeizige Landesregierungen geben Reduktionsziele vor. Dies führt möglicherweise zu schnell politisch verwertbaren Erfolgsmeldungen („Halbierung von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften bis zum Jahr X“). Auf diese Weise ist das Bundesrecht im Rahmen des Projekts Rechtsbereinigung seit 2003 bislang um 75 Gesetze und 296 Rechtsverordnungen bereinigt worden, weitere 350 sollen folgen. Die Bundesregierung sieht das Projekt Rechtsbereinigung als „den größten Beitrag zur Bereinigung des Bundesrechts in den letzten 40 Jahren“. Hat das irgendjemand bemerkt?

Durch Rechtsbereinigung und schematische Reduktionsziele wird vor allem ein „kreativer“ Umgang mit Vorschriften gefördert. Ministerien schlagen ohnehin nicht beachtete Vorschriften zur Abschaffung vor oder fassen Vorschriften zusammen, um Reduzierungsziele zu erreichen. Selbstverständlich sind regelmäßige Aufräumaktionen unerlässlich. Aber eine primitive Tonnenideologie der Regulierung ist einer modernen Gesellschaft nicht angemessen, setzt den Beteiligten die falschen Anreize und fördert einen höchstens kurzfristig erfolgversprechenden Entbürokratisierungspopulismus. Tatsächlich verdeutlicht die Entwicklung der letzten Jahre einen ganz anderen Mechanismus, nämlich more markets, more rules. Voraussetzung funktionierender Märkte, etwa im Bereich der bekannten Netzindustrien, ist nicht weniger, sondern mehr und andere Regulierung.

Ähnlich skeptisch ist ein anderer Standardvorschlag einzuschätzen: die generelle „Befristung von Rechtsvorschriften“. Mit einer so genannten sunset legislation verbindet sich die Hoffnung, die Beweislast zu Ungunsten derjenigen umkehren zu können, die eine Regulierung unterstützen. Auf Grundlage einer systematischen Prüfung (beispielsweise nach fünf Jahren) werde die Änderung oder sogar Abschaffung der „auf Wiedervorlage“ beschlossenen Regulierung leichter durchsetzbar sein – so jedenfalls die Vorstellung. Die bisherigen Erfahrungen zeigen etwas anderes. Befristungen aktivieren immer auch – und vor allem – das Mobilisierungspotenzial der Regulierungsbefürworter. Sunset legislation führt also vor allem zu schnellerer und oftmals verschärfter Wiederholung regulierungspolitischer Auseinandersetzungen. Die Vorstellung von Befristungen als Autopilot der Entbürokratisierung ist unrealistisch und durch keinerlei empirischen Nachweis gedeckt.

Ähnliches gilt schließlich für technokratische Vorstellungen einer regelmäßig durchzuführenden umfassenden „Gesetzesfolgenabschätzung“. Seit Jahren steht dies in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, seit Jahren gibt es dazu umfangreiche technische Anleitungen – und seit Jahren wird dies erfolgreich ignoriert. Allerdings greifen die üblichen Erklärungen wiederum zu kurz, die unwillige und faule Bürokraten, hektische Politiker oder mächtige Lobbyisten als Schuldige identifizieren. Eine einfachere Erklärung lautet, dass eine realistische Einschätzung sämtlicher Folgen einer Regulierung, ihres direkten und kurzfristigen Nutzens und ihrer Kosten, aber auch sämtlicher indirekter und langfristiger Folgen, mindestens extrem kompliziert ist. Nach den Erkenntnissen der empirischen Entscheidungsforschung ist sie sogar im Detail unmöglich und wird daher immer kontrovers sein. Kontroverse Regulierungen – etwa im Umwelt- oder Verbraucherschutz – beruhen auf unsicheren Annahmen und Abwägungen, die nur politisch entschieden werden können. Diese politischen Prozesse können nicht durch technokratische Folgenabschätzungen ersetzt werden, und seien diese noch so umfangreich. Damit ist nicht gesagt, Folgenabschätzungen seien prinzipiell unmöglich, aber sie eignen sich nur für bestimmte Fälle. Politische Kontroversen und Entscheidungen können sie nicht ersetzen.

Die richtige Frage: Welche Belastungen schafft die Bürokratie?

Bleibt der immer wieder geforderte „Bürokratie-TÜV“, den alle neuen Normen passieren müssen. Die Idee berücksichtigt, dass die Autoren und Nutznießer von Rechtsvorschriften „ihren“ Vorschlägen nicht unbedingt mit einer besonders kritischen Haltung gegenüberstehen. Jedoch stellt sich hier wiederum das Problem der Unterlegenheit gegenüber den fachpolitischen Koalitionen. Ein Bürokratie-TÜV kann die Funktion des Gatekeeper mit aufschiebender Vetomacht haben, wird aber nicht alle Vorschläge umfassend prüfen können. Auch hier muss man die informationellen Ressourcen und auch die Machtverhältnisse realistisch einschätzen. Daher ist es sinnvoll, solche Prüfungen auf spezifische und eindeutige Aspekte zu konzentrieren.

Hier zeigt sich die Relevanz von Schätzungen der mit Regulierungen verbundenen administrativen Lasten, wie sie in den letzten Jahren in den Niederlanden, aber auch in Skandinavien unter dem Namen Standard Cost Model eingeführt worden sind. Dabei sollen tatsächlich nur die Kosten gemessen werden, die bei Unternehmen direkt durch die Befolgung staatlicher Regulierungen anfallen, vor allem die so genannten Informationsbefolgungskosten. Ein darauf gerichteter Bürokratie-TÜV kann in der Tat erfolgversprechend sein. Weniger deshalb, weil die derzeit in den Niederlanden, in Großbritannien und Skandinavien initiierten Messverfahren eine vollkommen objektive Messung der wirklichen Bürokratiekosten ermöglichten. Denn über die „Objektivität“ der durch derartige Messverfahren gewonnenen Daten lässt sich sicher streiten. Aber ein solches Verfahren bietet Generalisten und Regulierungsskeptikern die Chance einer erheblichen argumentativen und politischen Aufrüstung gegenüber den Spezialisten und Regulierungsbefürwortern. Anstatt sich über den immer unsicheren und schwer zu quantifizierenden Nutzen einer Regulierung zu streiten (hier sind die Spezialisten regelmäßig überlegen), wird die Auseinandersetzung an den administrativen Lasten aufgehängt. Das ermöglicht die Abwägung zwischen der politischen Notwendigkeit der Regulierung und den damit verbundenen direkten Belastungen. Genau in diesem Effekt – einer Stärkung der Generalisten und Regulierungsskeptiker im politischen Prozess – liegt die Chance dieses Instruments, nicht in der ohnehin unmöglichen „objektiven“ Messung von Bürokratie.

Es ist eine gefährliche technokratische Illusion, dass Instrumente einer „besseren Rechtsetzung“, wie beispielsweise umfangreiche Gesetzesfolgenabschätzungen, Evaluationen, abstrakte Qualitätskriterien „guter Regulierung“ und so weiter vor oder jenseits der politischen Auseinandersetzung wirken könnten – also dort, wo sich angeblich „vernünftige Sachexperten“ mit der Angelegenheit befassen statt „interessengeleitete Politiker“. Diese Vorstellung missachtet die Realitäten und normativen Grundlagen des demokratischen politischen Prozesses. Über die Notwendigkeit und den Umfang staatlicher Regulierung wird bei uns politisch entschieden – wie denn sonst? Die Instrumente, die dabei relevant sind, müssen daraufhin durchdacht und eingesetzt werden, wie sie den politischen Prozess beeinflussen, wie sie in der Interaktion zwischen politischen Akteuren wirken. Und genau hier liegt die Bedeutung des Normenkontrollrates. Dieser wird nie die Rolle eines regulierungspolitischen Besserwissers spielen können, und er darf diese Rolle auch nicht annehmen. Es geht darum, den Prozess der Regulierung zu verändern, nicht darum, ihn technokratisch zu ersetzen.

Starke Symbole und gute Beispiele

Der Normenkontrollrat hat die wichtige Aufgabe, die Rolle und den Einfluss der Generalisten und Regulierungsskeptiker gegenüber den Spezialisten und Regulierungsbefürwortern zu stärken. Das kann er, indem er dafür sorgt, dass neue, bisher nicht vorhandene Informationen im Regulierungsprozess erhoben, transparent gemacht und berücksichtigt werden. Dies geschieht durch das Standardkostenmodell. Um dies durchzusetzen, bedarf es der politischen Unterstützung. Daher ist es gut, dass dieser Normenkontrollrat im Bundeskanzleramt angesiedelt ist.

Aber dafür gibt es auch noch einen anderen Grund. Wir wissen aus der Organisationstheorie, dass Prozesse nicht nur durch formelle Regeln und neue Prozeduren beeinflusst werden. Das ist ja der Glaube der Juristen: „Ich mache ein neues Gesetz oder einen neuen Verfahrensvorschlag – und alles wird besser.“ (Gelegentlich gilt das übrigens auch für Ökonomen, die manchmal einen ungebrochenen Glauben in die absolute Macht formeller Spielregeln haben.) Die Organisationstheorie hingegen erkennt an, dass neue Institutionen nicht nur durch formelle Regeln wirken, sondern vor allem auch durch informelle Regeln, Werte und Annahmen, also all das, was allgemein für richtig, wichtig und wahr gehalten wird.

Wenn wir also unserer regulatorischen Ängstlichkeit und unserer Regulierungswut etwas entgegenstellen wollen, brauchen wir deshalb nicht nur größere informationelle Ressourcen und mehr Macht, sondern auch starke Symbole, gute Beispiele und öffentliche Aufmerksamkeit. Es geht nicht nur – und nicht einmal in erster Linie – um die technokratische Quantifizierung bürokratischer Belastungen. Vielmehr geht es um einen Bewusstseinswandel innerhalb der Verwaltung, aber vor allem auch in der Öffentlichkeit. Strukturverändernde Politik braucht öffentliche Aufmerksamkeit und Resonanz. Genau darin sollte die zentrale Aufgabe und Besonderheit des Normenkontrollrates liegen.

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