Warum der Westen den Osten braucht

Ostdeutschland kostet die Westdeutschen sehr viel Geld - dabei müsste es nicht bleiben. Dass wir die Mittel für den Aufbau Ost nicht produktiv genug einsetzen, wirft das ganze Land zurück. Was gut ist für den Osten, ist noch besser für den Westen

Deutschland im Frühjahr 2003. Aus einer Konjunkturdelle ist eine veritable Wirtschafts-krise geworden. An allen Ecken und Enden ist die Rede vom Reformstau, von überbordender Bürokra-tie, von erstickender Steuer- und Abgabenlast. Die Sozialversicherungssysteme sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, werden von vielen gar offen in Frage gestellt. Die öffentlichen Haushalte sind in der Schieflage, die Maastricht-Kriterien werden wahrscheinlich zum zweiten Mal in Folge gerissen. Die Regierung ist unter Beschuss von allen Seiten. Verbände und Handwerkskammern, Gewerkschaften und Ärzteschaft, die Wirtschaft und natürlich die Opposition - alle spielen ihr ganz eigenes Spiel.


Und der Kanzler? Er hat eine ambitionierte Vorla-ge geliefert, mit der er die Probleme des Landes in den Griff bekommen möchte. Doch die SPD ist unsicher. Unsicher, ob die Lösung der Probleme nach mehr Staat oder mehr Markt verlangen. Unsicher, wie bei aller Notwendigkeit, den Sozialstaat umzubauen, ein Höchstmaß an Gerechtigkeit garantiert werden kann. Zumindest darin sind sich alle einig: Es muss etwas geschehen. So stehen wir vor tiefgreifenden Veränder-ungen bei den Sozialsystemen, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Gesundheit. Auch die Rente, gerade erst durch Riester "zukunftsfest" gemacht, steht wieder auf der Reformagenda.


Jedoch: Bei all den Diskussionen wird häufig mit den Symptomen argumentiert, die Ursachen der derzeitigen wirtschaftlichen Probleme bleiben nicht selten außer Acht. Und eine der zentralen Ursachen ist die wirtschaftliche Schwäche Ostdeutschlands.


Die Arbeitslosigkeit steht in den neuen Ländern auf Rekordhöhe. Noch nie nach der Wende sind so viele Menschen ohne Job gewesen, noch nie lag die Beschäftigungsquote so niedrig. Und das, obwohl allein 2001 und 2002 etwa 200.000 Ostdeutsche in den Westen zogen, obwohl zehntausende Menschen in ABM, Umschulungen und Ausbildungsmaßnahmen stecken. Trotzdem ist die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland etwa zweieinhalbfach so groß wie in den alten Ländern. Der "niedrigste" Arbeitsamtsbezirk im Osten hat eine höhere Arbeitslosigkeit als der "schlechteste" Bezirk im Westen. Einer Arbeitslosigkeit von 5 Prozent im bayrischen Freising steht eine Quote von 26 Prozent im sachsen-anhaltischen San-gerhausen gegenüber. Das sind fünfmal mehr Men-schen, die aus dem Arbeitsleben herausgerissen sind. Das sind fünfmal mehr Menschen, die Hunderte von Bewerbungen geschrieben und genauso viele Ableh-nungen bekommen haben. Das sind fünfmal mehr Menschen, die keine Hoffnung mehr haben. Die seit Jahren nicht mehr verreisen können. Die jeden Monat ein Stückchen mehr ihrer Fähigkeiten und ihrer Motivation beim Arbeitsamt abgeben.

Wie der Osten vom Radarschirm verschwand

Wir haben uns an diese Ungerechtigkeit gewöhnt in den letzten Jahren. Und wir haben uns daran gewöhnt, dass der Aufbau Ost nicht von der Stelle kommt. So ist Ostdeutschland in den letzten Jahren allmählich von der politischen Agenda Deutschlands verschwunden. Legt man die beiden Solidarpakte - die bis 2019 laufen - als Maßstab an, befinden wir uns in der Halbzeitphase des Aufbaus Ost. Keine schlechte Zeit, um Bilanz zu ziehen, aber auch die richtige Zeit, um Fehler zu korrigieren. Der Aufbau Ost basierte bisher vorrangig auf zwei Säulen. Zum einen sollte die Infrastruktur ausgebaut werden mit dem Ziel, Unternehmen in den Osten zu locken. Zum anderen fand - als Ersatz für die weg gebrochene Wirtschaftskraft - ein riesiger Sozialtransfer in die neuen Länder statt. An diesen beiden Säulen wurde in den letzten Jahren relativ wenig verändert.

Fort von Schneeberg, fort von Schwedt

Was haben wir erreicht? Im Osten gibt es heute moderne Flughäfen, neue Straßenbahnen, glanzvoll renovierte Innenstädte. Manches ist so neu, so gut, so modern, dass der eine oder andere Bürgermeister im Westen schon neidisch wurde. Jeder neue Straßenatlas war im Osten nach ein bis zwei Jahren wieder veraltet. Doch diese Zeit ist bald vorbei. Denn jetzt sind wir in Ostdeutschland an einen Punkt gelangt, da alle wichtigen Autobahnen in den kommenden zwei bis drei Jahren fertig sein werden. Bisher hatten wir angenommen, dass Autobahnen, moderne Straßen und Schienen die wichtigste Voraussetzung sind, damit es überhaupt zu wirtschaftlicher Aktivität kommt. Doch zunehmend schleichen sich Zweifel ein. Inzwischen müsste der Boom schon in den nächsten zwei, drei Jahren irgendwie vom Himmel fallen. Stattdessen sieht es eher so aus, als hätten die neuen Straßen dafür gesorgt, dass die Menschen sich schneller fortbewegen können. Fort von Schneeberg, fort von Schwedt und fort von Stralsund. Fort aus ihrer Heimat, nach Hamburg oder NRW, nach Hessen oder Bayern.


Natürlich, es gibt VW, Opel, Porsche und wie sie alle heißen. Sie haben dafür gesorgt, dass Ostdeutschland auf der Wirtschaftskarte im Atlas überhaupt noch vorkommt. Und sie haben dafür gesorgt, dass den Ostdeutschen die Puste nicht ganz ausgeht. Das neue BMW-Werk in Leipzig bringt nicht nur ein paar Tausend Arbeitsplätze. Es hat vor allem - fast noch wichtiger - Optimismus in die Region gebracht. Im Umkreis von 100 Kilometern um Leipzig herum verspricht man sich Wunder vom neuen Autowerk. Und dabei sind die Erwartungen in Chemnitz und Zwickau, in Döbeln, Halle und Torgau mittlerweile so groß geworden, dass sie eigentlich nur noch enttäuscht werden können.

Ist das Geld für den Osten gut angelegt?

Die extrem hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Län-dern ist letztlich "nur" die Kehrseite der geringen wirtschaftlichen Leistungskraft ebendort. Seit 1990 werden Jahr für Jahr etwa vier Prozent des deutschen Sozialprodukts nach Ostdeutschland transferiert. Das ist eine enorme Summe, die sich gesamtdeutsch in niedrigerem Konsum und geringeren Investitio-nen niederschlägt. Diese Transfers stehen für eine - historisch beispiellose - Solidarität, der sich die Deutschen rühmen können. Doch Solidarität darf man nicht überstrapazieren. Wichtig ist, dass das Geld gut angelegt ist. Genau daran bestehen zunehmend Zweifel. Denn die schwächelnde ostdeutsche Wirtschaft hat auch gravierende Auswirkungen auf die westdeutsche Wirtschaft. Aufgrund der geringen Einnahmebasis im Osten und der gleichzeitigen - real existierenden - Rentenansprüche sind die Rentenbeiträge in Deutschland seit der Wende um etwa zwei bis drei Prozent gestiegen. Auch Arbeitslo-sen- und Gesundheitsversicherung wurden "einigungsbedingt" (wegen der hohen Arbeitslosigkeit Ost) höher. Der erst kürzlich beigelegte Streit um den Risikostrukturausgleich der Krankenkassen - kurz gesagt: die Solidarität der reichen Westkassen mit den armen Ostkassen - ist ein Beispiel für die Leistungen der Sozialversicherungen. Unser Sozial-system hat auf diese Weise einen Großteil der Kosten der Einheit aufgefangen. Die Regierung Kohl hat das damals so gewollt und einigungsbedingte Kosten allein den Arbeitnehmern und -gebern überlassen, statt sie über Steuern zu finanzieren. Dieser Fehler ist bis heute nicht korrigiert. Immerhin, es geht um vier bis fünf zusätzliche Punkte bei den Sozialversicherungen. Wie viel gedämpfter wäre wohl der derzeitige Krawall, wenn die Sozialversicherungsbeiträge um diesen Betrag niedriger lägen.


Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Erst wenn Ostdeutschland einen wirklichen Aufschwung erlebt, wenn dort die Arbeitslosigkeit nachhaltig sinkt und die Beschäftigung steigt - erst dann können die Sozialver-sicherungsbeiträge deutlich sinken und ein schrumpfender Solidaritätszuschlag der Binnenkonjunktur auf die Beine helfen. Bei einem Drittel weniger Arbeitslosigkeit wäre die Quote zwar immer noch doppelt so hoch wie im Westen - wir könnten aber die Lohnnebenkosten bereits um einen, vielleicht sogar zwei Punkte senken. Stattdessen tobt in Deutschland der Protest, wenn die Rentenbeiträge um zwei Zehntelpunkte steigen. Dabei haben wir den Schlüssel für deren Absenkung längst in der Tasche - einen Schlüssel, der womöglich bessere Ergebnisse liefern würde als die Flexibilisierung des Kündigungsrechts. Auch die Reform der Sozialversicherungen könnten mit mehr Ruhe und weniger Druck erfolgen. Wir können wenig daran ändern, dass wir älter werden und dass die Gesundheitstechnik besser und teurer wird. Aber wir können andere Ursachen der hohen Sozialstaatskosten beseitigen. Wenn im Osten wieder produziert und gearbeitet wird, werden die Interessen- und Verteilungskämpfe bei den anstehenden Arbeitsmarkt- und Sozialreformen weniger heftig sein.

Neuer Mut und neue Stärke

Was Deutschland deshalb braucht, ist ein nachhaltiger Aufschwung in den neuen Ländern. Das bisherige Konzept hat keine ausreichenden Ergebnisse gebracht. Deshalb sollten beim Aufbau Ost neue Wege beschritten werden. Um solche neue Wege bestreiten zu können, braucht der Osten vor allem zweierlei: neuen Mut und neue Stärke.


Stichwort Neuer Mut. Von der Wirtschaft heißt es, 50 Prozent sei Psychologie. In der Politik ist es nicht anders. In dem Maße, wie der Aufbau Ost von der politischen Agenda verschwand, ist in weiten Teilen des Ostens Resignation eingekehrt. Zu viele Menschen haben die Hoffnung verloren, dass es aufwärts geht, dass überhaupt etwas passiert. Zu viele Menschen haben sich damit abgefunden, dass sie sich in einer ewigen Schleife von Arbeit, Arbeitslosigkeit, Fortbildung und ABM befinden. Zu viele Freunde, Bekannte und Verwandte haben ihre Sachen gepackt und sind in den Westen gezogen. Diesen Teufelskreis von Abhängigkeit, Inaktivität und Mutlosigkeit werden wir nur durchbrechen können, wenn der Aufbau Ost wieder ernst genommen wird. Zwei Drittel der Ostdeutschen sehen die Lebensperspektiven der jungen Ossis in den alten Ländern. Die Menschen in den neuen Ländern brauchen wieder Mut. Dazu gehört politische Psychologie. Wie Zuversicht das Klima verändert, lässt sich gut in Leipzig besichtigen. Auch wenn die Rahmendaten nicht viel besser sind als anderswo: Die Stadt will mit allen Mitteln neue Ziele erreichen. Neue Messe, eine florierende Innenstadt, neuer Hauptbahnhof, ein neues Stadion, ein S-Bahntunnel, der Stadt und Region verbindet, BMW und Porsche. Und jetzt noch die Aussicht auf Olympia in Leipzig: ein Gedanke, der die Menschen inspiriert und sie Mut schöpfen lässt.

Den Geist der Depression vertreiben

Wenn die Menschen in Ostdeutschland merken, dass wieder über ihr Schicksal diskutiert wird und daraus sicht- und fühlbare Konsequenzen folgen, wird auch wieder die so dringend benötigte Zuversicht einziehen. Die Ostdeutschen müssen wieder vorkommen auf der politischen Agenda. Mit einer Stimmung des Aufbruchs lässt sich Schritt für Schritt der Geist der Depression vertreiben - und auch die unglückliche Spirale von Abwanderung und aufgegebenen Regionen stoppen. Die bundesdeutsche Politik muss stärker auf die spezifischen Situationen im Osten Rücksicht nehmen. Nicht alles was für den Westen gut ist, ist auch gut für den Osten. Eher gilt heute: Was für den Osten gut ist, ist auch gut für den Rest der Republik. Denn bei allem Zusammenwachsen: Die Uhren ticken in den neuen Ländern immer noch anders. Unternehmen haben hier nur ein Bruchteil der Eigenkapitaldecke, die Vermögens- und Eigentumslage Ost liegt bei einem Drittel des Westens. Und das sind nur die wirtschaftlichen Rahmendaten. So hilfreich Steuersenkungen sein mögen: Wenn Unternehmen keine Gewinne machen, zahlen sie überhaupt keine Steuern. Und können deshalb von einer Steuersenkung nicht profitieren. Im Osten geht es den meisten so.


Auch der Westen Deutschlands wird deshalb von einer neue Debatte über den Aufbau Ost profitieren. Zu sehr hat man sich eingerichtet und abgefunden mit der Vorstellung, die neuen Länder auf Dauer alimentieren zu müssen. Doch andersherum wird ein Schuh daraus: Die alte Logik, derzufolge der Westen den Osten mitziehen würde, stimmt nicht mehr. Schon die Boomphase von 1998 bis 2000 fand vor allem im Westen statt - im Osten blieben die Wachstumsraten weit zurück. Vielmehr gilt umgekehrt: Wenn es dem Osten gut geht, wird es dem Westen besser gehen. Denn dann werden die Mittel frei, die der Standort Deutschland so dringend für Investitionen und Konsum braucht. Der Osten will in Wirklichkeit nicht der Dauer-Sozialhilfeempfänger des Westens sein. Gewiss, die neuen Länder brauchen noch eine ganze Weile Unterstützung. Aber sie wollen auch erwachsen und selbständig werden, sie wollen auf eigenen Füßen stehen. Es geht nicht um Verteilungskämpfe, im Gegenteil: Der Aufbau Ost liegt im ureigenen (west-)deutschen Interesse.


Genau deshalb ist es wichtig, dass der Osten stärker vorkommt. Dass die Solidarität immer wieder neu organisiert wird. Das gilt natürlich auch für die handelnden Personen. Wie groß ist der Anteil derjenigen, die ostdeutsche Erfahrungen mitbringen in Verbänden, Gewerkschaften und Regierungen? Zu klein jedenfalls, um Ostdeutschen das Gefühl zu geben, sie seien angekommen in der vereinten Republik. Dabei haben die Ostdeutschen auch etwas mitzubringen. Nämlich die Erfahrungen, in den letzten Jahren durch einen wirtschaftlichen und sozialen Umbruch gesegelt zu sein, der keine Biografie so gelassen hat, wie sie vor 1989 war. Das Meistern des Wandels, die Fähigkeit zur Anpassungs an neue Situationen, ohne auf gewohnte Rechte zu schauen - genau dies ist eines der großen "Mitbringsel" der Ostdeutschen.

Gute Ideen und hervorragende Produkte

Stichwort Neue Stärke. Für die Zukunft ist es wichtig, sich auf die vorhandenen Kräfte in Ostdeutschland zu konzentrieren. Seien wir ehrlich: Neue industrielle Großansiedlungen wird es kaum mehr geben; wie schwierig diese Stratgie ist, kann man gerade im Fall der Frankfurter Chipfabrik besichtigen. Um die Probleme am Arbeitsmarkt im Osten zu lösen, bräuchten wir 400 BMW-Werke. Dass das nicht realistisch ist, wissen wir alle.


Dabei gibt es zahlreiche gute Ideen, zahlreiche Unternehmen mit hervorragenden Produkten, die aber einfach nicht in der Lage sind zu expandieren. So merkwürdig es klingt: Die meisten Betriebe in den neuen Ländern sind schlicht zu klein, um wachsen zu können. Ihre Kapitaldecke ist zu dünn, ihre Erfahrung für Marktexpansionen zu gering. Im Durchschnitt haben die Unternehmen im Osten 40 Beschäftigte, im Westen sind es über 100. Im Osten macht der Chef noch fast alles selbst - und ist damit vollkommen überlastet. Die meisten Firmen agieren auf regionalen Märkten - und die stagnieren oder schrumpfen. Um zu exportieren oder wenigstens auf westdeutsche Märkte vorzudringen, fehlt die Kraft. Da hat etwa ein Unternehmen in Grimma - zu DDR-Zeiten mit mehreren Tausend Beschäftigten - fast alle Öl-Raffinerien in der Sowjetunion gebaut. Die Verbindungen dorthin gibt es heute noch, auch würden die Nachfolgestaaten gerne ihre Erdölindustrie erneuern und ausbauen. Doch sie können nicht so zahlen, wie es die Grimmaer bräuchten, um die Aufträge abwickeln zu können. Volle 200 neue Arbeitsplätze werden deshalb nicht geschaffen.

Um mehr Geld für den Osten geht es nicht

Was in den ostdeutschen Unternehmen fehlt, sind Management-Knowhow und Eigenkapital, Vertrauen der Banken und Engagement des Staates. Sinnvoll ist deshalb eine verstärkt einzelbetriebliche Strategie, die die vorhandenen Unternehmen durch Bürgschaften und Beteiligungen stärkt, damit sie ihre guten Produkte auch verkaufen können. Dazu kommt: Mit der Stützung vorhandener kleiner Betriebe lassen sich die größten Effekte erreichen. Eine Milliarde an Fördermitteln hat bei Unternehmen mit über 500 Beschäftigten insgesamt etwa 10.000 Arbeitsplätze geschaffen - die gleiche Milliarde bei Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten führt zu rund 50.000 Arbeitsplätzen. Zumal die Unterstützung der "Kleinen" auch im ureigenen sozialdemokratischen Interesse liegt. Denn häufig genug beweisen Handwerksmeister und Kleinunternehmer größere soziale Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitern als irgendein Weltkonzern. Sicher, dieser Weg ist nicht so spektakulär wie ein paar Großprojekte. Er ist komplizierter und vielleicht auch langwieriger - aber auch nachhaltiger und erfolgversprechender.


Daneben sollten wir uns auch fragen, ob wir das viele Geld bisher immer sinnvoll angelegt haben. Der Chemnitzer Raum ist ein traditionsreicher deutscher Standort des Maschinen- und Anlagenbaus. Unlängst gelang es, dort ein Unternehmen für die Neuansiedlung zu gewinnen. Das Arbeitsamt vermittelte dem Betrieb 2.000 Menschen - doch nur ganze 40 von ihnen konnte der Maschinenbauer einstellen. Die anderen hatten nicht (mehr) die nötige Qualifikation. Bleibt die Frage, wem die Milliarden genutzt haben, die in den letzten Jahren für Umschulungen, Fortbildungen und ABM ausgegeben worden sind. Offenbar haben sie jedenfalls nicht durchweg dazu geführt, die Menschen zu befähigen, up to the job zu sein.


Sinnvoller scheint es, ein Großteil des für Sozialhilfe, SAM und ABM eingesetzten Geldes produktiver einzusetzen. Ein kommunales Investitionspro-gramm könnte aus diesen Mitteln gespeist werden. Damit würde das lokale Handwerk unterstützt, damit würden Arbeitsplätze geschaffen sowie Schulen und Kitas saniert. Damit kein Missverständnis entsteht: Um den Osten auf die Wachstumsstraße zu setzen, geht es vordergründig nicht um mehr Geld. Sinnvoller ist es, das vorhandene Geld besser und vor allem produktiver einzusetzen. Dabei sollten ohne Scheu neue Modelle und Ideen in Verwaltung, Politik und Wirt-schaft ausprobiert werden. Die nötige Offenheit ist im Osten längst vorhanden.

Die SPD kann die gesamtdeutsche Partei sein

Eine neue Debatte um den Aufbau Ost hat aber auch eine politisch-strategische Komponente für die SPD. Das Bundestagswahlergebnis von 2002 hat gezeigt, dass die Sozialdemokratie die einzige gesamtdeutsche Partei ist. Die Sozialdemokraten haben von den Ostdeutschen 1998 und erneut 2002 einen Vertrauensvorschuss bekommen, den sie einlösen müssen. Sonst lassen die Ossis diesen Scheck beim nächsten Mal erbarmungslos platzen. Dass sie die flexibleren Wähler sind, haben sie bereits mehrfach bewiesen.


Gleichwohl, die Ausgangslage in den neuen Ländern könnte für die Sozialdemokraten nicht besser sein. Eigentlich. Solidarität und Gerechtigkeit haben im Osten einen höheren Stellenwert als im Westen. Frau Noelle-Neumann fragt die Deutschen regelmäßig, ob für sie "Freiheit" oder "Gleichheit" wichtiger sei. Seit zehn Jahren ähneln sich die Ergebnisse: Der Westen präferiert zu über 50 Prozent die Freiheit, der Osten zu über 60 Prozent die Gleichheit. Mit diesem Wertekanon im Rücken hat die SPD im Osten die besten Chancen, die Partei der inneren, der sozialen Einheit zu werden. Dabei nützt ihr auch der Niedergang der PDS, der die SPD zu der dominanten Partei im Osten machen könnte.

Solidarität, Erneuerung und Kreativität

Doch soweit ist es noch (lange) nicht. Voraussetzung für eine erfolgreiche SPD im Osten wäre deren konsequentes Engagement für die neuen Länder. Eine Politik, die die ungerechte Arbeitslosigkeit wirkungsvoll bekämpft und keine Beruhigungspillen verschreibt. Eine Politik, die die gesamtdeutschen Dinge nicht mit NRW-Tunnelblick betrachtet. Eine solche Politik könnte helfen, die wirtschaftlichen Probleme der alten Länder zu lösen, indem auch dort mittelfristig die Steuer- und Abgabenlast sinkt. Dass dies eine der wichtigsten Aufgaben ist, wurde im vergangenen Sommer deutlich. Die rot-grüne Steuerreform ist noch nie so gelobt worden wie an dem Tag, als sie - wegen des Hochwassers im Osten - um ein Jahr verschoben wurde. Das alles bedeutet aber auch, dass die Reformagenda 2010 der Bundesregierung um eine ostdeutsche Komponente ergänzt werden muss, um in der derzeitigen wirtschaftlichen Schieflage im Osten weitere soziale Schieflagen zu vermeiden.


Den neuen Schwung beim Aufbau Ost als ein sozialdemokratisches Thema zu entdecken, könnte sich für die SPD auszahlen. Kurzfristig würden sich die Wahlchancen der SPD bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen im Herbst 2004 verbessern. Damit ließe sich das Tor öffnen, um die Vorherrschaft der CDU im Bundesrat zu beenden. Mittelfristig könnte die SPD damit ein Thema haben, mit dem sich in Zukunft auch gesamtdeutsch Wahlen gewinnen lassen. Zumal Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 2006 schon neue Motive liefern und neue Ziele ansteuern müssen: Weder das Argument "Weiter so" noch die Rede von der "zweiten Halbzeit" wird dann noch zünden. Mit einem neuen "Projekt Ost" könnte es außerdem gelingen, neue Mitglieder für die SPD im Osten zu gewinnen; heute steht die Partei dort vor der personellen Auszehrung. Und abgesehen davon könnte die Dominanz der SPD im Osten weitere Wahlerfolge im Bund absichern helfen.


Der Aufbau Ost ist ein Thema, bei dem die Sozialdemokratie sehr gut verdeutlichen könnte, was Solidarität und Gerechtigkeit bedeuten - erst recht, wenn sie mit Erneuerung und Kreativität einhergehen. Es steht der SPD deshalb gut zu Gesicht, Ostdeutschland ernster zu nehmen als bisher. Die dezente politische Unterstützung für die Leipziger Olympiabewerbung war ein gutes Zeichen.

Die Mühe wird sich lohnen!

Der Lohn für neues Engagement könnten ein beschleunigter Wachstumsprozess in ganz Deutschland, ein Image als Partei der "inneren Einheit" und dauerhafter elektoraler Erfolg sein. Die (west-)deutsche Wirtschaft lässt sich wieder in Schwung bekommen, wenn zuvor Ostdeutschland flott gemacht wurde - und dann lösen sich einige Probleme (fast) von selbst. Um das zu erreichen, ist die Zeit knapp geworden - aber die Mühe lohnt sich! Die Alternative wäre die weitere Erosion in Gesellschaft und Demokratie. Erste Anzeichen des Rückzugs - wie etwa die deutlich niedrigere Wahlbeteiligung in Ostdeutschland - gibt es bereits. Wir können nicht abwarten, bis die Ostdeutschen ihre Quittung für die Versäumnisse der vergangenen Jahre ausstellen. Tun wir es doch, wird es zu spät sein.

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