Warum der Westen Warschau braucht
Die Jahre nach 2008 waren die „goldenen Jahre“ der polnischen Außenpolitik. Fest in den westlichen Institutionen verankert, errang sie Respekt und Ansehen in der ganzen Welt. Zwei wichtige Faktoren trugen hierzu besonders bei: Erstens verbündete sich Polen ebenso eng wie erfolgreich mit Deutschland. Warschau lernte, zur Lösung politischer Probleme Koalitionen zu schmieden. Das Weimarer Dreieck (mit Deutschland und Frankreich) sowie die Visegrád-Gruppe (mit Ungarn, der Slowakei und Tschechien) wurden zu den wichtigen Instrumenten der politischen Koordinierung.
Zweitens gewann auch Polens Ostpolitik an Profil. Mit der Gründung der von Polen und Schweden eingeleiteten „Östlichen Partnerschaft der EU“ wurde das Problem de facto europäisiert. Verstärkt wurde Polens Glaubwürdigkeit durch seine pragmatische Politik gegenüber Russland. Donald Tusks Regierung machte es sich zum Prinzip, mit dem real existierenden Russland umzugehen, statt ein Russland herbeizuwünschen, wie wir es gerne hätten. Russlands Außenminister Sergej Lawrow nahm sogar an Sitzungen des Weimarer Dreiecks teil, besuchte das jährliche Gipfeltreffen der polnischen Botschafter und schuf gemeinsam mit seinen deutschen und polnischen Kollegen das so genannte Kaliningrader Dreieck. Polen löste sich von seinem früheren Image als post-cold war warrior und hatte zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht mehr das Gefühl, aus seiner geografischen Lage zwischen Deutschland und Russland erwachse ein geopolitischer Determinismus.
Die stabilen Zeiten sind vorüber
Das alles änderte sich 2014. Das vergangene Jahr markiert das Ende der goldenen Jahre. Verantwortlich dafür war die russische Aggression gegen die Ukraine. Für Polen hat diese Aggression Instabilität in der unmittelbaren Nachbarschaft verursacht, sie bedeutet aber zugleich eine Herausforderung der freiheitlichen Weltordnung, die nach der friedlichen Revolution von 1989 die Grundlage für Wohlstand und Wachstum in Polen war. Die Ereignisse im Osten wie Süden Europas haben die Schwächen der beiden großen Organisationen bloßgelegt, die den institutionellen Rahmen der polnischen Außenpolitik bilden: EU und Nato waren nicht in der Lage, die Annexion der Krim durch Russland sowie das Eindringen russischer Soldaten in die Ostukraine zu verhindern. Die aus polnischer Sicht wünschenswerte Ordnung – mit EU und Nato als stabilen Ankern zur Sicherung von Polens Platz in der Welt – ist in Unordnung geraten.
Angesichts der neuen Umstände zeigte sich, dass die deutsche „Ostpolitik“ zu scheitern drohte. Damit traten erneut die grundlegenden Unterschiede hinsichtlich der Frage in den Vordergrund, wie mit Russland und den Länder zwischen Russland und der EU umzugehen sei. Es sei daran erinnert, dass diese Unterschiede schon lange existieren. Beim Bukarester Nato-Gipfel im Jahr 2008 waren es Deutschland und Frankreich, die der Ukraine und Georgien den Weg in die Nato verbauten. Wenig später wurde Russland nicht für seine Militäraktion gegen Georgien bestraft. Im Glauben, Russland könne gleichsam von unten nach oben erneuert werden, startete Deutschland stattdessen das Projekt einer „Modernisierungspartnerschaft“. Seit Beginn der Östlichen Partnerschaft der EU hat Russland zudem sehr deutlich gemacht, dass es sich in keiner Weise an Beratungen beteiligen will, die dieses Projekt in kooperativem Geist vorantreiben und möglicherweise Vorteile für alle Beteiligten bringen könnten. Stattdessen brachte Russland seine „Eurasische Union“ an den Start, die für die Länder im Osten der EU ein Nullsummenspiel bedeutet. Die Konfrontation war also längst angelegt, wenngleich nur sehr wenige Menschen dies von Anfang an erkannten.
Darf Putin aussuchen, mit wem er reden möchte?
Als die Ukraine über ein Assoziierungsabkommen mit der EU verhandelte, warb Polen daher für die Sichtweise, dass dabei sehr grundlegende Fragen auf dem Spiel stünden. Andere Länder hingegen konzentrierten sich lieber auf den Fall der inhaftierten Julija Timoschenko und den möglichen Boykott des ukrainischen Teils der Fußball-Europameisterschaft 2012. Einige Monate vor dem dramatischen Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Vilnius scheiterte Polens Versuch, die EU zu einer ernsthaften Reaktion auf Russlands harte Handelssanktionen gegen die Ukraine zu bewegen. Diese russischen Maßnahmen führten dazu, dass sich die ukrainische Wirtschaftsleistung in einigen zentralen Sektoren halbierte.
Trotz der genannten Differenzen war es zu dieser Zeit noch immer die Europäische Union, die im Verhältnis zu Russland die Schlüsselrolle spielte. In der Nacht vor Viktor Janukowitschs Flucht nach Russland verhandelten die Außenminister des Weimarer Dreiecks über ein Ende des Blutvergießens in Kiew. Die anschließende Annexion der Krim durch Russland kam für viele überraschend, obgleich Polens damaliger Premierminister Donald Tusk seine EU-Kollegen bereits im Dezember 2013 über diese Bedrohung in Kenntnis gesetzt hatte.
Seit dieser Zeit gehört Polen zu den ganz wenigen Staaten, die härtere Sanktionen gegen Russland befürworten. Diese Strategie war zumindest nicht fruchtlos, denn immerhin hat die EU eine gemeinsame Position bislang aufrechterhalten und ihre Sanktionen nicht im Laufe der Zeit zurückgenommen. Dennoch hat Polen einen politischen Preis dafür bezahlt, als „Falke“ wahrgenommen zu werden. Heute ist Warschau – auf ausdrücklichen Wunsch Russlands – von allen Verhandlungsformaten ausgeschlossen und besitzt nur noch sehr begrenzten Einfluss auf die Ereignisse.
Um diese Tatsache zutreffend einschätzen zu können, ist eine erweiterte Perspektive notwendig. Fünf Punkte sind dabei besonders wichtig:
Erstens ist auffällig, dass Deutschland heute in seiner Führungsrolle alleine dasteht. Polen scheint ins Abseits gedrängt zu sein. Aber: Es befindet sich in dieser Hinsicht in der Gesellschaft der Vereinigten Staaten und Großbritanniens – beides Unterzeichnerstaaten des berühmten Budapester Memorandums von 1994, das der Ukraine ihre territoriale Integrität garantierte. Kiew gab im Gegenzug dafür seine Atomwaffen auf. Dass Deutschland Wladimir Putins einzig ernsthafter Gesprächspartner ist, dürfte aus seiner Sicht als eine sehr erfreuliche Situation erscheinen. Deutschland trägt damit die größte Last – aber die gewünschten Ergebnisse kann Berlin auf sich allein gestellt nicht erzielen. Dass Putin darüber entscheiden durfte, mit wem er zu sprechen wünscht, ist eine strategische Falle.
Polen ist russophiler, als viele glauben
Zweitens wird in Polen stark gewürdigt, dass sich die deutsche Position gegenüber Russland weiterentwickelt hat. Es gibt kein Zurück zum alten business as usual. Im Ergebnis wird die russische Wirtschaft ganz erheblich getroffen, wobei allerdings die Sanktionen nicht den wichtigsten Hebel ausmachen. Denn eines muss uns klar sein: Verändert haben die Sanktionen des Westens nichts. Weder haben sie Putin abgeschreckt, noch haben sie den Konflikt deeskaliert oder Russland dazu gebracht, sich an das Abkommen von Minsk zu halten. Russland spielt einfach ein völlig anderes Spiel. Sollte Europa zum Zweck der Deeskalation de facto bereit sein, die territoriale Integrität der Ukraine zu opfern (was Russland ermöglichen würde, die Ukraine weiter zu destabilisieren und damit Kiews Chancen schwinden ließe, das EU-Assoziierungsabkommen praktisch zu verwirklichen), dann ist Putin wieder der Gewinner. Er wird dann nicht nur jede Möglichkeit der Demokratisierung und Europäisierung des postsowjetischen Raumes stoppen, sondern auch die Grundregeln der internationalen Ordnung wirksam untergraben. Das Paradoxon besteht darin, dass immer mehr Menschen im Westen Putins Rhetorik auf den Leim gehen, der zufolge diese Regeln für Russland von vornherein ungerecht und demütigend gewesen seien. Waren sie das wirklich?
Drittens ist Warschau gegenüber Russland durchaus kein russophober „Falke“. Tatsächlich ist Polen russophiler, als viele Menschen glauben. Warschau weist schlicht und einfach darauf hin, dass Verhandlungen nur aus einer Position der Stärke erfolgreich geführt werden können. Wirksame Abschreckung ist die Voraussetzung für Deeskalation. Anders wird es nicht funktionieren. Niemand will, dass die Lage außer Kontrolle gerät, aber keine Option sollte öffentlich ausgeschlossen werden. Wer der Ukraine das Recht verweigert, sich mit nicht-tödlichen Defensivwaffen zu versorgen, während Russland zugleich modernstes tödliches Material sowie Soldaten schickt, der signalisiert damit sein Einverständnis in die Aufteilung des ukrainischen Territoriums.
Jetzt ist nicht die richtige Zeit für Streiterei
Viertens nimmt Polen an, dass das „russische Problem“ nicht nur darin besteht, kurzfristig zu deeskalieren und eine mittelfristige Abschreckungsstrategie zu entwickeln. Klar ist, dass es ein Russland nach Putin geben wird – und nicht unbedingt ein besseres. Es stimmt zwar, dass Frieden in Europa nicht gegen Russland gefördert werden kann. Aber solange Russland das Selbstbestimmungsrecht anderer Völker leugnet, können wir keine Kompromisse schließen. Wenn wir wirklich meinen, dass die Welt der „Einflusssphären“ vergangen sein muss, dann sollte sich der Westen auf ein langfristiges Spiel vorbereiten. Dies erfordert von Deutschland, endlich ein reifer geopolitischer Spieler zu werden.
Fünftens schließlich: Polen ist sich bewusst, dass das russische Problem für Europa mindestens ein Jahrzehnt lang ein zentrales Thema sein wird – in einer Zeit, da sich EU und Nato intern in keiner guten Form befinden. Umfragen zeigen, dass sich die polnische Öffentlichkeit heute so bedroht fühlt wie nie zuvor in den Jahren seit 1991. In den vergangenen Jahren hat Polen massiv darauf gesetzt, die träge gewordene europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik wieder zu beleben. Damit ist Warschau gescheitert. Die anderen EU-Länder haben nicht einmal angestrebt, Europas Sicherheitsstrategie auf die Höhe der Zeit zu bringen. Kein Wunder, dass einer Umfrage des German Marshall Fund zufolge heute 78 Prozent der Polen die Vereinigten Staaten positiv sehen und zwei Drittel von ihnen die Nato als unerlässlich für ihre Sicherheit einschätzen. In dem Maße, wie sich Europa als unvorbereitet und demilitarisiert erweist, wird Amerika erneut als wichtiger Verbündeter betrachtet. Aus polnischer Sicht erregt daher der schlechte Zustand der deutsch-amerikanischen Beziehungen Besorgnis. Auch wenn es dafür einige Gründe gibt: Jetzt ist nicht die richtige Zeit für Streitereien. Die transatlantische Partnerschaft muss belebt und neu verankert werden. Passivität ist die schlechteste Strategie überhaupt, wenn der Frieden bewahrt werden soll.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr