Warum die Europäische Konföderation Europas Krise nicht lösen kann
Europa steckt in seiner tiefsten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sätze wie diesen hört man häufig in diesen Tagen. Im Lager der Euroskeptiker werden sie mit Begeisterung aufgenommen. Endlich wankt das europäische Haus – der Zusammenbruch der EU als wünschenswertes und unumgängliches Finale des fehlgeleiteten europäischen Projekts. Innerhalb der pro-europäischen Bildungselite wird diese Einschätzung dagegen, bei aller nüchterner Analyse einzelner Krisensymptome, eher als Alarmismus abgetan, als Teil eines weiteren Krisendiskurses, von denen der europäische Einigungsprozess in den vergangenen 50 Jahren schon so einige überstanden hat.
Das Problem ist nur: Der Satz ist wahr. Diese Krise ist anders. Es kümmert sie nicht, wie sie diskutiert wird, sie ist nicht herbeigeredet, kein primär diskursives Phänomen. Die Panzer in der Ukraine rollen, ob wir nun über sie sprechen oder nicht, die Verzweiflung der arbeitslosen Jugendlichen in Spanien und Griechenland ist real, und nicht nur eine Statistik, nicht nur ein Argument in der akademischen Debatte um die beste Funktionsweise von Währungsunionen.
Gerade erst haben Deutschlands führende Wirtschaftsinstitute wieder einmal unmissverständlich klar gemacht, dass sich Griechenland nicht aus eigener Kraft von seinen Schulden wird befreien können. Sie rechnen mit einem Schuldenschnitt. Ob dieser kommt oder nicht – diesen Sommer wird das griechische Drama erneut auf der politischen Tagesordnung stehen.
Gleichzeitig sorgt Wladimir Putin, der gerade seinen Winterfeldzug in Syrien beendet hat und den Flüchtlingsstrom in Richtung Europa noch einmal deutlich anschwellen ließ, mit neuen Provokationen im Luftraum über der Ostsee für weitere Spannungen mit dem Westen. Zudem ist im milden Frühlingswetter gerade eine zweite Migrationswelle über das Mittelmeer gestartet, die mit der Situation im Nahen Osten so gut wie nichts zu tun hat, da sie sich hauptsächlich aus krisengebeutelten Staaten wie Eritrea oder Nigeria speist. Schließlich wäre da noch Großbritannien und das Referendum über den möglichen Brexit, welches uns in den kommenden Monaten zusätzlich umtreiben wird. Und das bisschen politische Führung in Europa, für das Angela Merkel in den vergangenen Jahren stand, droht angesichts der ersten wirklichen Regierungskrise seit ihrem Amtsantritt 2005, noch schwächer auszufallen als zuvor.
Kommt die politische Union irgendwann von allein? Keineswegs!
Schon lange geht es für überzeugte Europäer nicht mehr darum, den Menschen zu erklären, warum Europa gut für sie ist und funktioniert. Es geht nur noch darum, deutlich zu machen, warum es in seiner momentanen Konfiguration nichts für sie tun kann, warum es nicht mehr funktioniert, und was wir daran ändern können. Für die weitere Einigung aber gebe es „momentan keine Mehrheiten“. Diese wäre aber eigentlich erforderlich, um Europa endlich die notwendigen Handlungsoptionen an die Hand zu geben, um die zahlreichen Probleme anzugehen. Es scheint so, als hoffe man in Brüssel und Berlin darauf, dass sich das Blatt schon wenden wird, dass der Sturm irgendwann abebbt und dass man dann, in den fetten Jahren wieder zum altbekannten Modus der schleichenden Europäisierung zurückkehren könne.
Die derzeitige Situation wird demnach als Rückschlag eines nach wie vor fortschreitenden Einigungsprozesses gesehen – nicht als ein Problem, das gelöst werden müsse und dessen Lösung eine starke europäische Regierungsmacht voraussetzt. Die Flüchtlingskrise ist hauptsächlich deshalb ein Problem, weil sie den Schengenraum in Bedrängnis bringt; und die sozialen Verwerfungen im Süden Europas sind deshalb krisenhaft, weil sie die Funktionsweise des Euro infrage stellen. Manche Europaexperten ziehen dabei zum Teil haarsträubende Vergleiche. Ganz so als könne man das französische und niederländische „Non!“ zum Europäischen Verfassungsvertrag 2005 mit der Euro- und Flüchtlingskrise gleichsetzen. Nur ein weiterer Stolperstein auf dem Weg hin zur politischen Union, die – irgendwann – kommen muss. Doch muss sie das wirklich? Keineswegs.
Europa muss sich entscheiden: Komplette Union oder Rückkehr zum Nationalstaat
Der Modus, nach dem die europäische Einigung über Jahrzehnte funktionierte, ist an sein logisches Ende gekommen. Und dies simultan in den zwei wichtigsten Bereichen, die den Kern der nationalen Souveränität berühren: der Fiskal- und der Außenpolitik. In puncto Fiskalpolitik haben die europäischen Staaten im Zuge der Einführung der Gemeinschaftswährung ihre Souveränität de facto soweit aufgegeben, dass sie keine autonomen Entscheidungen mehr treffen können. Gleichzeitig haben sie diese Entscheidungsmacht aber auch nicht an eine höhere Stelle abgetreten. Sie ist schlicht diffundiert, irgendwo zwischen den Hauptstädten des Kontinents und einer europäischen Bürokratie, die weder die Legitimation noch die Mittel hat, um fiskalpolitisch entscheidend einzugreifen. So wird jedes politische Handeln zu Symbolpolitik, die jeden noch so unproduktiven Kompromiss als Erfolg verkaufen muss, um das Ende mit Schrecken noch ein bisschen weiter hinauszuzögern. Den beiden einzig halbwegs effektiven europäischen Regierungsinstitutionen, der EZB und Wolfgang Schäubles Eurogruppe, mangelt es derart offensichtlich an Legitimation, dass sie weitgehend im Schatten agieren müssen, um zumindest einen Minimalkonsens zu erzielen. Die Folge: Transparenz wird zur Unmöglichkeit und zum Feind belastbarer Verhandlungsergebnisse.
Statt uns aber den Problemen zuzuwenden und sie gemeinsam zu lösen, behandeln die Politiker unserer nominell souveränen Staaten einzelne Aspekte der europäischen Krisen als Verhandlungsmasse. Dadurch folgt ein ungünstiger Kuhhandel dem nächsten. Das europäische Konzert ist nur noch eine Kakophonie, weil wir vergessen haben, dass auch die begnadetste Gruppe von Solisten einen Dirigenten braucht. Dies gilt etwa für die Außenpolitik: Die einzelnen Staaten sind schon längst nicht mehr in der Lage, den Herausforderungen einer globalisierten Welt allein zu begegnen. Das jüngste Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, das aus unserer kollektiven Unfähigkeit geboren wurde, die gemeinsamen Außengrenzen effektiv zu schützen und Flüchtlinge innerhalb der Union gerecht zu verteilen, hat die Probleme erneut nur verlagert, ohne sie wirklich zu lösen. Darunter wird Europas normative Gestaltungsmacht in unserer unmittelbaren Nachbarschaft weiterhin leiden.
Der Schwebezustand zwischen Konföderation und einzelnen Elementen einer politischen Union – wie die gemeinsame Währung, die Außenhandelskompetenz oder die offenen Grenzen – wird ein Ende finden. So oder so. Europa steht damit vor einer binären Entscheidung: null oder eins. Vollständige politische Union oder Rückkehr zum Nationalstaat und – je nach Interessenlage – punktuelle Kooperation in einem losen Staatenbund. Ohne Schengen, ohne Euro, und letztlich ohne Brüssel. Denn der mühsam ausgehandelte Kompromiss als Mittel des gemeinsamen Voranschreitens, die Verregelung und Verrechtlichung als Alternative zu demokratisch legitimiertem Regierungshandeln ist nicht länger tragfähig.
Die Gründe dafür lassen sich anschaulich an historischen Beispielen zeigen. So hat die europäische Geschichte im Laufe der Jahrhunderte zwei Arten von staatlichen Unionen hervorgebracht. Die erste Form, beispielsweise die Union aus Polen und Litauen oder das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, waren schwache politische Gebilde, zum Teil weil sie durch interne Konflikte gelähmt wurden oder weil sich ständig auswärtige Mächte in ihre inneren Angelegenheiten eingemischt haben. Polens Nachbarländer Russland, Österreich und Preußen untergruben im 18. Jahrhundert durch wiederholte Interventionen die Souveränität des polnischen Staates. Sie nutzten dabei die Zersplitterung des Parlaments und das so genannte liberum veto aus – das Einspruchsrecht jedes einzelnen Abgeordneten, mit dem Entscheidungen blockiert werden konnten. Dadurch wurde der Staat hilflos gegenüber inneren Machtgruppen und äußeren Feinden. Im Heiligen Römischen Reich wiederum wurden im Westfälischen Frieden 1648 Frankreich und Schweden als Garantiemächte eingesetzt, wodurch sie das Recht erhielten, in die deutsche Politik einzugreifen. Im 18. Jahrhundert wurde zudem auch Russland in den Kreis der Garantiemächte aufgenommen.
In beiden Fällen wollten die Großmächte ihre Rivalen daran hindern, einen entscheidenden Vorteil zu erlangen. Zugleich sorgten sie dafür, dass die beeinflussten Staaten nicht genug inneren Zusammenhalt entwickeln konnten, um zu einer Bedrohung heranzuwachsen. Der 1815 gegründete Deutsche Bund, der Nachfolger des Heiligen Römischen Reiches, war ganz ähnlich konstruiert: Er sollte sicherstellen, dass Deutschland nicht in einen Bürgerkrieg abglitt und stark genug blieb, um Angreifer von außen zurückzuschlagen, ohne so stark zu werden, dass es für seine Nachbarn eine Gefahr darstellen konnte. Alle diese politischen Gebilde fanden ein unrühmliches Ende: Polen wurde am Ende des 18. Jahrhunderts geteilt, das Heilige Römische Reich brach Anfang des 19. Jahrhunderts unter dem Ansturm des revolutionären Frankreichs zusammen, und der Deutsche Bund wurde schließlich von Bismarck zerstört, der ein geeintes Deutsches Reich schaffen wollte. Wie in der heutigen EU reichten Regeln und Verfahren allein nicht aus, um das Fehlen einer gemeinsamen Regierung auszugleichen.
Wie es die Briten und die Amerikaner besser machten
An der westlichen Peripherie Europas dagegen verlief die Entwicklung anders. Dort entstand im 18. Jahrhundert eine alternative und wesentlich funktionsfähigere Form einer staatlichen Union. Im Jahr 1707 kamen die Schotten und die Engländer überein, die Jahrhunderte währende militärische, diplomatische und wirtschaftliche Rivalität der beiden Länder zu beenden und sich zusammenzuschließen. Die Schottisch-Englische Union verfolgte zwei Ziele: Zum einen sollten die langwierigen Konflikte zwischen den beiden Staaten beigelegt werden, die Englands Gegnern immer wieder eine Möglichkeit eröffnet hatten, von Norden her Druck auf das Land auszuüben. Zum anderen sollten die Kräfte der einstigen Gegner auf der Insel gebündelt werden, um sie wirkungsvoller gegen äußere Mächte einsetzen zu können. Deshalb wurde von beiden Parlamenten der Act of Union, das Vereinigungsgesetz verabschiedet, durch das Schottland eine großzügige Repräsentation im Parlament von Westminster erhielt, sein Rechts- und sein Schulsystem beibehalten durfte, aber auf eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik verzichtete. Der gemeinsame Kampf gegen das Papsttum und die Universalmonarchie schweißte die beiden Hälften wirkungsvoller zusammen, als Bestechungsgelder, Einschüchterung oder schnöde wirtschaftliche Vorteile es jemals vermocht hätten. So wurde Großbritannien geboren und mit ihm eine Art von politischer Einheit, die sich seit jeher besser durchzusetzen verstand, als es ihrem demografischen und wirtschaftlichen Gewicht entsprach.
Ein ähnlicher Prozess führte Ende des 18. Jahrhunderts zur Entstehung der Amerikanischen Union. Die 13 ehemaligen Kolonien waren aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien mit hohen Schulden hervorgegangen. Doch das war nur eines der Probleme, mit denen sie zu kämpfen hatten. Nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit fanden sich die 13 Staaten plötzlich in einer gefährlichen Welt wieder. Durch den Abzug der schützenden britischen Marine waren die amerikanischen Handelsschiffe sofort den Angriffen der Seeräuber ausgesetzt, die von Nordafrika aus operierten. Auch aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft erwuchsen Gefahren für die junge Republik. Spanien hatte 1784 den Mississippi für die Schifffahrt gesperrt und stellte im Süden, in Florida, eine ständige Bedrohung dar. Großbritannien behauptete sich in Kanada und blieb dem neuen Gemeinwesen feindlich gesinnt. Das aus dem Revolutionskrieg stammende konstitutionelle Regelwerk erwies sich als völlig ungeeignet, um die Herausforderungen der 1780er Jahre zu bewältigen. Es gab keine echte Exekutive, der Kongress verfügte nicht über das Recht der Steuererhebung, um nationale Projekte finanzieren zu können, und sämtliche internationalen Verträge mussten von jedem Mitgliedsstaat einzeln ratifiziert werden, damit sie in Kraft treten konnten. Daher besaßen die Vereinigten Staaten von Amerika auch keine nennenswerte Armee und Marine, denn die Einzelstaaten konnten sich nicht darüber verständigen, wer sie bezahlen sollte, und sie fürchteten, diese Streitkräfte könnten dazu benutzt werden, ihre Freiheiten zu untergraben. Die Bande, welche die Konföderation zusammenhielten, waren so locker, dass viele Amerikaner die Sorge hatten, dass die Vereinigten Staaten bald wieder in ihre Bestandteile zerfallen oder gar im Bürgerkrieg versinken würden.
Das germanische Reich mit seinen gärenden Innereien
Aus diesem Grund versammelten sich 1787 Vertreter der 13 ehemaligen Kolonien in Philadelphia, um eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten. Dabei stellte sich ihnen jedoch sogleich die Frage, welchem europäischen Unionsmodell sie folgen sollten. Die Gründerväter James Madison und Alexander Hamilton untersuchten das „föderative System“ des „germanischen Reiches“ und stellten fest, dass es sich dabei um einen „nervenlosen Körper“ handele, „der unfähig ist, seine Mitglieder zu lenken, unsicher in der Bewältigung äußerer Bedrohungen und aufgewühlt durch unablässige Gärungen in seinen Innereien“. Auch Polen, so urteilten sie, sei „gleichermaßen unfähig zur Selbstregierung und Selbstverteidigung [und] ist seit langem auf das Wohlwollen seiner mächtigen Nachbarn angewiesen, die ihm in jüngster Zeit gnädigerweise ein Drittel seiner Bevölkerung und seines Staatsgebiets abzunehmen bereit waren“. Von allen europäischen Vorbildern konnte allein die Anglo-Schottische Union von 1707 vor den Augen der Föderalisten bestehen. John Jay, ein weiterer Gründervater, betrachtete diese Form einer „vollständigen und vollkommenen Union“, womit er einen Ausdruck aus einem Schreiben von Königin Anne an das schottische Parlament im Juli 1706 aufgriff, als den einzigen Weg zur Schaffung einer Amerikanischen Republik.
Die Verfassung, die in Philadelphia in den Jahren 1787 / 88 ausgearbeitet wurde, zeigte, dass die Amerikaner aus den Erfahrungen der Briten, der Deutschen und der Polen gelernt hatten. Wie die Schotten und die Engländer ließen sie sich von der Absicht leiten, wie es in der Präambel heißt, „unseren Bund zu vervollkommnen“. Kurzum, die Amerikaner gaben sich eine innere Verfassung, die den äußeren Bedürfnissen des Staates entsprach und sicherstellte, dass die Energien und die Kräfte des Landes für das gemeinsame Ganze mobilisiert und nicht vergeudet oder fehlgeleitet wurden, etwa in Form von Bürgerkriegen.
Wie Draghis Hummel ins Trudeln geriet
Am 12. Dezember 1791 wurde in Philadelphia schließlich auch eine Nationalbank gegründet. Gegen den hartnäckigen Widerstand von Thomas Jefferson war es Alexander Hamilton gelungen, George Washington davon zu überzeugen, dass eine Nationalbank die wirtschaftliche Entwicklung des Landes begünstigen und fördern könne. Auf Beschluss des Kongresses mit einem Grundkapital von 10 Millionen Dollar und mit der Befugnis ausgestattet, staatenübergreifend zu agieren, schuf die Bank die Voraussetzungen für die Aufnahme von Staatsschulden und ermöglichte dem entstehenden amerikanischen Finanzwesen den Zugang zu Krediten. Diese Bank wandelte Washingtons Kriegsanleihen in Bankaktien um. Indem sie der Regierung einen unbegrenzten Kreditrahmen einräumte, gab sie Investoren aus allen Teilen der Welt die Sicherheit, dass die Vereinigten Staaten von Amerika stets ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen würden. Nach Jahrzehnten vielfältiger Versuche und Irrtümer, als Nationalbanken abgeschafft und wieder eingerichtet wurden – meist nach größeren Finanzkrisen – wurde durch den Federal Reserve Act von 1913 schließlich ein Zentralbank-System geschaffen, das bis heute die amerikanische und darüber hinaus auch die globale Geldpolitik bestimmt.
Zu den großen Errungenschaften von Hamiltons Bankenkonzept gehört, dass es diesem System gelang, die Dynamik von Schulden, Zinsen und Staatsausgaben als Mittel zur Integration nutzbar zu machen. Im Gegensatz zur heutigen Eurozone, die wegen eben dieser Probleme zu zerfallen droht, wurden die Teilstaaten der Vereinigten Staaten nicht ständig in eine Situation gebracht, in der sie sich in erster Linie als Gläubiger oder als Schuldner gegenüberstanden. Darüber hinaus beweist die amerikanische Erfahrung, dass die gegenseitigen Abhängigkeiten, die aus einer hohen, jedoch handhabbaren Staatsverschuldung entstehen, positive Auswirkungen auf den globalen Einfluss einer staatlichen Union entfalten und auch ein stabilisierender Faktor für die heimische Wirtschaft sein können.
Heute wissen wir zudem, dass das elementare Gesetz nach wie vor gilt, wonach eine Währungsunion nur funktionieren kann, wenn sie mit einer politischen Union verbunden ist, die automatische Transfers ermöglicht. EZB-Präsident Mario Draghi hat die Gemeinschaftswährung einmal mit einer Hummel verglichen, einem rätselhaften Wesen, das sich entgegen allen Erwartungen und scheinbar unter Missachtung der Naturgesetze in die Luft erheben und fliegen kann. Wie sich herausstellte, kann diese Hummel nur dann fliegen, wenn besonders günstige Bedingungen herrschen. Auch das Funktionieren des Euro war zu stark von solchen unwahrscheinlichen Bedingungen abhängig. Lange Zeit behandelten die Anleihemärkte die Mitglieder der Eurozone, als wären sie alle völlig gleich. Doch sobald die Investoren am Zusammenhalt Europas zu zweifeln begannen und sich der Renditeabstand der Anleihen vergrößerte, war das Spiel zu Ende und Draghis Hummel geriet ins Trudeln. Aus dem Trudel konnte sie sich erst befreien, als Draghi erklärte, er werde „alles tun, was nötig ist“, um den Euro durch Anleihenkäufe zu stützen. Sobald aber diese Entscheidung politisch ernsthaft in Zweifel gezogen wird, wird die Hummel abermals vom Himmel stürzen. Dies kann jederzeit geschehen und aus vielen verschiedenen Gründen.
Kurzum: Eine Fortsetzung des bisherigen Kurses, das Durchwursteln, das Hoffen und Beten dafür, dass die Zuversicht auf wundersame Weise zurückkehren möge, wird uns nicht aus dem Schlamassel herausführen. Selbst eine noch so lockere Geldpolitik nicht. Und auch Putin, der islamistische Terror und das Flüchtlingsproblem werden nicht verschwinden. Selbst wenn wir wollten: Wir können und werden den Weg nicht fortsetzen, auf dem wir uns gegenwärtig befinden. Wir müssen in Europa eine Union schaffen, die die elementaren Gesetze der allgemeinpolitischen, währungspolitischen, strategischen und – vor allem – der historischen Aerodynamik respektiert.
Eine Staatenunion entsteht nur durch einen »großen Knall«
Eine Staatenunion entsteht nicht auf evolutionärem Weg, sondern durch einen „großen Knall“. Es sind Ereignisse, nicht Prozesse, die sie zustande bringen. Selbst in Deutschland führte der Zollverein von 1833 /34 nicht automatisch in den folgenden sechs Jahrzehnten zur staatlichen Einigung: Diese wurde erst durch Bismarck in einer Reihe von erbitterten Kriegen gegen Nachbarmächte herbeigeführt. Die gegenwärtige politische Integrationsstrategie Europas ist dagegen ein langfristiges Engagement, das nicht in der Vermählung enden wird, sondern in Tränen und Trennung.
So richtig ist diese Erkenntnis in Europa noch nicht durchgedrungen. Obwohl den meisten Experten klar ist, dass die offensichtlichen Konstruktionsfehler der EU uns daran hindern, unsere Probleme zu lösen, beharren sie weiter auf der alten Erzählung vom allmählichen Fortschritt.
Joschka Fischer etwa, der sich sonst stets mit Weitsicht zu dieser europäischen Krise geäußert hatte, sprach jüngst bei einer Veranstaltung in Berlin von „möglichen Rückzugsorten“, also von Minimalpositionen, welche die pro-Europäer im Angesicht der sich bedrohlich auftürmenden Welle neuer Nationalismen verteidigen müssten: Schengen, Freizügigkeit, Euro.
Man fragt sich nur, woher er dann kommen soll, der günstige Moment, an dem Europa wieder konstruktiv über seine innere Verfasstheit nachdenken kann. Soweit ist es schon gekommen, dass selbst die sonst so unreflektierten Euroskeptiker am rechten Rand des politischen Spektrums schärfere Analysen liefern als selbsterklärte Europa-Experten, die keinesfalls der EU und ihren mangelhaften Strukturen die Schuld für die ökonomische und geopolitische Doppelkrise in die Schuhe schieben wollen. So traurig das ist: Bernd Lucke hat, bevor ihm seine AfD vollends in den braunen Morast entglitt, die systemischen Probleme des Euro dem Wahlvolk besser beschrieben als die Vertreter der Bundesregierung, die – auch als Griechenland kurz vor dem Austritt stand – nicht viel mehr als ein mantrahaftes „Verträge sind einzuhalten“ über die Lippen brachten. Es ist zu hoffen, dass sich diesen Sommer in der Griechenlandfrage ein anderer Grundsatz durchsetzt: ad impossibilia nemo tenetur – zu Unmöglichem kann keiner gezwungen werden.
Das bedeutet aber auch, dass ein anderer Weg gefunden werden muss, um notwendige Reformen durchzusetzen. Dieser Weg kann nur gesamteuropäisch konzipiert und legitimiert werden. Entweder wir statten also eine wirkliche Regierung der Eurozone mit echter Handlungsmacht aus und legitimieren diese durch europaweite Wahlen. Oder wir sehen dabei zu, wie sich die EU abschafft. Langsam aber sicher, Stück für Stück, auf die gleiche Art und Weise, wie sie einst entstand.
Bis wir den politischen Willen für die Reformen aufbringen, wird jede nationale Wahl zur potenziellen Katastrophe. Europas Fortbestehen hängt dann davon ab, dass wir an jeder Abzweigung den richtigen Weg wählen. Die Kräfte der Desintegration müssen dagegen nur ein einziges Mal die Oberhand gewinnen, um alles, was seit Jahrzehnten aufgebaut wurde, zunichte zu machen. Wir haben uns in eine Situation manövriert, in der die (nationale) Demokratie zum systemischen Risiko geworden ist.
Soviel also zu den Rückzugspunkten und zum Minimalkonsens. Es kann und wird ihn nicht geben. Warten wir ab, wird die Situation nur noch schlimmer. Wenn sich die pro-europäischen Kräfte jetzt irgendwo zwischen Euro-Rettung und der Aufgabe des Schengenraums ihren Sammelplatz suchen, kann es gut sein, dass sie dort solange rumstehen, bis es nichts mehr zu verteidigen gibt.
Dies ist nicht der richtige Weg. Wir müssen jetzt in die Offensive gehen und diese Krise nutzen. Das bedeutet aber auch, dass man die Renationalisierung als Alternative zu einer dysfunktionalen EU ernstnimmt. Europa hat schon in diesem Zustand existiert und es wäre durchaus möglich, dass man wieder zu einem vergleichbaren Arrangement zurückkehrt. Das Beispiel des Heiligen Römischen Reiches zeigt, dass es keinen Automatismus gibt, keine unsichtbare Kraft, die den Kontinent am Ende zusammenhält.
Wir Europäer müssen eine vollständige politische Union errichten
Die rein „nationale Lösung“ hingegen gilt es abzuwenden, wenngleich sie im Gegensatz zum Fortbestand der gegenwärtigen EU zumindest theoretisch denkbar ist. Auch die größeren Staaten der Union würden dann zu Zwergen auf der internationalen Bühne. Der formelle Souveränitätsgewinn brächte letztlich keine größere Teilhabe der Bürger, weil sich ihre Interessen im Zustand der europäischen Zersplitterung ohnehin nicht gegen größere Konkurrenten wie Russland oder China, aber auch nicht gegenüber den Vereinigten Staaten durchsetzen ließen.
Wenn also der Status quo unhaltbar ist, und die einzige Alternative nicht wünschenswert sein kann, fällt die Entscheidung leicht: Wir Europäer müssen eine vollständige politische Union errichten, die in der Lage ist, unsere kollektiven Interessen mithilfe demokratisch legitimierter Institutionen zu verteidigen.
In Anbetracht der Vielfalt der Europäer wird unmittelbar einsichtig, dass für den Aufbau dieses künftigen Europas eine breite Koalition notwendig ist. Sie muss so unterschiedliche Europäer vereinen können wie den antikapitalistischen Demonstranten in Madrid, der um das soziale Gewissen Europas fürchtet, oder den Leiter eines deutschen mittelständischen Betriebs, der sich um die Zukunft seiner Exporte sorgt, falls die Gemeinschaftswährung scheitert. Kurz gesagt: Eine politische Union in Europa sollte politische Konflikte nicht ausschließen und unterbinden, sondern vielmehr neuen Platz für sie schaffen. Eine Verfassung für ein solches Europa wird kein bestimmtes ökonomisches oder gesellschaftliches Modell festlegen, das die Union zu übernehmen hat, sondern sie wird eine Grundlage schaffen, auf Basis derer solche Modelle neu entwickelt werden können.
Dieser Text beruht in Teilen auf dem Buch „Europa am Abgrund: Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa“, das die Autoren im C.H. Beck-Verlag veröffentlicht haben. Es hat 140 Seiten und kostet 12,95 Euro.