Warum Herr Leif sich nicht gut auskennt
Die Attacke auf den Freiwilligensurvey ist zentral für Leifs politische Bewertung. Er meint, die Politiker würden "mit geschönten Daten operieren". Kon-kret geht es um die "zentrale Botschaft, dass 22 Millionen Menschen in Deutschland ehrenamtlich aktiv seien". Diese Zahlen, "gebetsmühlenartig verkündet", dienten als Politikersatz. "Die Faszination der großen Zahl wirkt dann wie eine Droge, die zu einem langen Rausch des "Weiter so′ einlädt." Leif ist nicht zimperlich in seiner Kritik, er konstatiert der Studie "methodische Fehler, wissenschaftliche Defizite und teilweise absurde Ergebnisse". Solche Kritik ist grundsätzlich natürlich zulässig, sollte aber ein Mindestmaß an Seriosität und Fairness der Argumentation aufweisen. Dieses Mindestniveau hat Leif unterschritten.
Thomas Leif hat eine klare Sprachregelung. Er spricht nur von der "Auftragsstudie" und den "Auftragsforschern", kurzum vom "bestellten "Freiwilligensurvey′". Damit wird suggeriert, dass eine von einem Ministerium in Auftrag gegebene Forschungsarbeit als Gefälligkeitsgutachten zu betrachten sei und zu "geschönten Daten" führe.
Tatsächlich ist der Freiwilligensurvey 1999 ein mustergültiges Beispiel parteipolitisch unabhängiger Forschung im Auftrag eines Fachministeriums: Sorgfältig vorbereitet durch Konferenzen und Machbarkeitsstudien, öffentlich ausgeschrieben, vergeben an einen Verbund mehrerer renommierter Institute, begleitet von einem wissenschaftlichen Beirat, dem auch Vertreter wichtiger Verbände angehörten, Ergebnisse frühestmöglich veröffentlicht, und zwar ohne irgendeine inhaltliche Einflussnahme des Auftraggebers, Schlussfolgerungen auf öffentlichen Fachkonferenzen diskutiert, die Originaldaten nach Projektabschluss der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht.
Führt Leif bewusst in die Irre?
Die Untersuchung soll ehrenamtliches Engagement in all seinen Formen erfassen, also nicht nur das "Ehrenamt", sondern ebenso Freiwilligenarbeit und bürgerschaftliches Engagement in Vereinen, Initiativen, Projekten und Selbsthilfegruppen. Dieser breite Ansatz wurde in der Fachwelt angesichts der Diskussion um "altes" und "neues" Ehrenamt einhellig gefordert. Leif hat das Konzept entweder nicht verstanden oder er stellt es bewusst irreführend dar. Seine Darstellung läuft darauf hinaus, wir hätten die Befragten quasi ins Ehrenamt hineingedrängt. Genau das aber haben wir durch unsere mehrstufige Fragetechnik vermieden.
Leif tut so, als stütze er seine Kritik auf methodische Aussagen der Forscher selbst. Die von ihm verwendeten Zitate sind meist sogar korrekt, der Sinn aber wird verdreht. Dazu zwei Beispiele: Nach Hinweisen auf "dutzende Studien", die vermeintlich zu anderen Ergebnissen kommen als der Freiwilligensurvey 1999, sieht Leif bei den Autoren wenigstens eine "diplomatische Distanznahme" und zitiert: "Eine derartige Streubreite der Ergebnisse ist für die sozialwissenschaftliche Profession kein akzeptabler Zustand, sondern Hinweis auf die noch fehlende Konsolidierung des Forschungsstands zum Thema Ehrenamt, schreibt von Rosenbladt voll intellektueller Reue." Peinlich für Leif: Das Zitat stammt gar nicht aus unserem Untersuchungsbericht zum Freiwilligensurvey 1999, sondern aus einem Konferenzbeitrag von Ende 1997, in dem ich die methodischen Probleme eines Messkonzepts zur Verbreitung ehrenamtlichen Engagements dargestellt habe. Unser kritisches, methodenbewusstes Herangehen an das Thema dürfte mit ein Grund dafür gewesen sein, dass der von mir koordinierte Forschungsverbund im Herbst 1998 dann den Zuschlag für die Durchführung des Freiwilligensurveys erhalten hat. Man wollte eine methodisch solide Studie - und ich denke, man hat sie erhalten.
Neu ist die veränderte Sicht auf die Dinge
Aber vergessen wir einmal Leif′sche Fouls und versuchen, zu einem sachlichen Kern der Sache zu gelangen, über den zu debattieren es lohnt. Warum reiben sich manche Kritiker so daran, dass nach dem Freiwilligensurvey 1999 etwa jeder dritte Bundesbürger (ab 14 Jahren) in irgendeiner Form freiwillig engagiert ist, also 22 Mio. Menschen in Deutschland? Was soll daran so schlimm sein? Diese Frage ist einerseits wissenschaftlich zu diskutieren, also in Bezug auf die Validität der Untersuchungsergebnisse. Andererseits ist sie politisch zu diskutieren, also in Bezug auf die Wirkung einer solchen Studie im politischen Raum. Das sind unterschiedliche Fragen, die man trennen sollte, aber sie haben auch einen sachlichen Zusammenhang. Dieser hat nicht mit "geschönten Daten" zu tun, sondern mit dem Gegenstand selbst.
Ehrenamtliche Tätigkeit und bürgerschaftliches Engagement sind keine neue Erscheinungen. Neu ist die sich verändernde Sicht auf die Dinge: ein wachsendes Bewusstsein, dass diese vielfältigen, ganz unterschiedlichen Tätigkeiten zusammen zu sehen sind und für unsere Gesellschaft insgesamt große Bedeutung haben. "Freiwilliges Engagement" ist der Begriff, auf den diese Sache nun gebracht wird (in Anlehnung an den internationalen Sprachgebrauch des "Volunteering"). Der "Freiwilligensektor" nimmt gedanklich und politisch Gestalt an.
Der Freiwilligensektor ist ein weites Feld
Dass es den Freiwilligensurvey gibt, ist Ausdruck dieser Entwicklung - und zugleich befördert er sie. Wir haben jetzt eine bessere Grundlage, um uns ein Bild von der Sache zu machen, über die wir sprechen. Dies allein ist förderpolitisch bedeutsam. Es gibt dem Freiwilligensektor und den dort Tätigen "Visibility", Sichtbarkeit, - ein Ziel, das die Vereinten Nationen ausdrücklich mit dem "Internationalen Jahr der Freiwilligen" angestrebt haben.
Bis zu einem gewissen Grad ist der "Freiwilligensektor" nur ein Konstrukt, eine gedankliche Zusammenfassung von Verhaltensweisen und Handlungsfeldern, die unmittelbar gar nicht zusammenhängen. Aber das Konstrukt ist hilfreich, um Gemeinsamkeiten und Strukturen in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu erkennen. Und es gewinnt zunehmend an realer Substanz. Der Freiwilligensektor bildet sich als eigenes Handlungsfeld heraus, mit eigenen Institutionen, Akteuren und Zielen. Hier ist Raum für unterschiedliche politische Konzeptionen - und durchaus auch für Interessenkonflikte.
Es ist eine Stärke des Freiwilligensurveys, dass er nicht nur eine allgemeine Zahl nennt, sondern zeigt, wie sich die freiwillig engagierten Bürger und Bürgerinnen zusammensetzt, welche Strukturen des Freiwilligensektors dahinter stehen. Das Ergebnis erschöpft sich also nicht in der Ermittlung einer Quote. Vielmehr zeigt der Survey hinter der Zahl die große Vielfalt und Heterogenität freiwilligen Engagements in Bezug auf Tätigkeitsfelder und Tätigkeitsformen, organisatorische Bedingungen usw. Dieser zweite Aspekt der Ergebnisse wird nicht immer ausreichend beachtet. Und da es nun einmal um einen heterogenen Gegenstand geht, lässt sich auch gut streiten. So haben Verbandsvertreter natürlich viel Praxiswissen zum Ehrenamt, aber sie haben auch auf ihr Feld begrenzte Wahrnehmungen und vielleicht etwas andere Definitionen. Dasselbe kann für andere wissenschaftliche Studien gelten.
Streit ist gut - aber fundiert sollte er sein
Um so wichtiger ist es, dass für das Gesamtfeld mit dem Freiwilligensurvey nun eine Untersuchung vorliegt, die Referenzdaten bereitstellt. Sie macht den Gegenstand beschreibbar und fassbar, und zwar mit Definitionen, die vorab im Konsens erarbeitet wurden und zu differenzierten und nachvollziehbaren empirischen Informationen führen. Sie bietet damit die Chance, die Diskussion auf einer gemeinsamen Basis zu führen. Auf dieser kann man, wenn man will, dann auch fundierter streiten.
So werden etwa - auch von Leif - Studien zitiert und gegen den Freiwilligensurvey ins Feld geführt, die sich mit politischem Engagement befassen und zeigen, dass das Engagement zurückgeht. Das mag stimmen, aber der Begriff "freiwilliges Engagement" wurde eben deshalb eingeführt, weil er ein breiteres Aktivitätsspektrum beschreiben soll, das wir im Untertitel der Studie mit den Begriffen "Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, bürgerschaftliches Engagement" abstecken.
Ein wichtiger Befund der Untersuchung ist, dass der größere Teil des freiwilligen Engagements eben nicht im politischen und sozialen beziehungsweise Wohlfahrtsbereich liegt, sondern in freizeitnahen Bereichen wie Sport und Bewegung, Musik und Kultur, Geselligkeit. Freiwilliges Engagement bedeutet hier: die Organisation von Gemeinschaftsaktivität. Das ist durchaus etwas, auch im Selbstverständnis der Engagierten, mit dem man sich für das "Gemeinwohl" einsetzt, aber nicht unbedingt im Sinne eines politisch-sozialen Engagements. All diese Formen freiwilligen Engagements einzubeziehen, halten wir konzeptionell für wichtig und richtig.
Am Gemeinwohl orientiert oder nicht?
Natürlich kann man andere Konzeptionen haben. Wenn beispielsweise bürgerschaftliches Engagement als Grundlage für eine "neue Sozialstaatlichkeit" gesehen und mit entsprechenden Erwartungen versehen wird, dann ist sicher zu fragen, ob hier nicht ein engerer, "politischerer" Begriff von Engagement im Blick ist, unter den nicht alles fällt, was an Tätigkeiten im Freiwilligensurvey erfasst wird. Wer ein solches engeres, stärker "gemeinwohlorientiertes" Konzept von Engagement will, müsste dafür allerdings empirisch taugliche Abgrenzungskriterien vorlegen - also sagen, was gemeinwohlorientiertes Engagement ist und was nicht.
Im konzeptionellen Rahmen des Freiwilligensurveys könnten zusätzliche Differenzierungen dieser Art grundsätzlich berücksichtigt werden. Die Diskussion darüber sollte konstruktiv und rechtzeitig geführt werden. Denn schließlich soll der Freiwilligensurvey keine einmalige Veranstaltung bleiben. Er soll nach einigen Jahren erneut durchgeführt werden, um für Deutschland endlich eine Grundlage für differenzierte Trendaussagen zur Entwicklung des freiwilligen Engagements zu schaffen.
Abschließend ein Wort zur Wirkung der Studie im politischen Raum. Wenn Leif die Dinge so sieht, dass die "fantastischen Studienergebnisse" politisch als Vorwand für ein Nichtstun gewirkt hätten, dann halte ich das für eine Fehlwahrnehmung. "Wenn die Zahlen stimmen würden, wäre Deutschland Spitze im Feld des sozialen Engagements", schreibt Leif. Da kennt er sich wieder nicht so genau aus. Soweit international vergleichbare Zahlen vorliegen, liegt Deutschland mit einer Engagementquote von 34 Prozent nicht an der Spitze, sondern im Mittelfeld. Für die USA etwa werden Quoten von um die 50 Prozent ausgewiesen.
Nach Studien von Anfang der neunziger Jahre ging man zuvor davon aus, dass Deutschland mit einer Engagementquote von 18 Prozent eine "Schlusslichtposition" auf diesem Feld habe. Handlungsbedarf wurde mit der "Krise des Ehrenamts" begründet. Die Ergebnisse des Freiwilligensurveys 1999 wurden vor diesem Hintergrund mit einer gewissen Überraschung aufgenommen, durchaus auch vom Auftraggeber - es waren eben keine "bestellten" Ergebnisse.
Man muss sich erinnern: Freiwilliges Engagement - Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftliches Engagement -, das existierte ja noch nicht wirklich als eigenes Politikfeld. Dieses war und ist ja erst im Entstehen. Meiner Beobachtung nach war es für die Politik eher hilfreich, diesen Prozess nicht unbedingt in einem Bewusstsein von "Schlusslicht" und "Krise" anzugehen. Manchmal helfen eine gewisse Entspanntheit und ein gewisses Selbstbewusstsein, überhaupt ein positives Verhältnis zu einem Thema zu gewinnen.
Seither ist einiges in Bewegung gekommen, im Bereich der Bewusstseinsbildung ebenso wie mit ersten konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen freiwilligen Engagements. Der im Sommer 2002 erwartete Bericht der Enquete-Kommission wird den Prozess weiter voranbringen. Wir als Forscher sind stolz, dass unsere Studie in diesem Prozess einen Beitrag leisten konnte.