Was ist, wenn Putin einfach weitermacht?

Noch vor wenigen Monaten wäre als Spinner oder Kalter Krieger abgetan worden, wer vorhergesagt hätte, was Russland inzwischen in der Ukraine angerichtet hat. Putin konnte uns überrumpeln, weil wir sämtliche Warnzeichen ignorierten. Denselben Fehler sollten wir nicht noch einmal machen

Noch ist unklar, ob der Anfang September vereinbarte Waffenstillstand in der Ukraine hält. Russland hat zwar einige Einheiten aus der Ukraine abgezogen, hält aber immer noch genug Soldaten im Osten und direkt jenseits der Grenze bereit, um den Separatisten jederzeit beistehen zu können. Offensichtlich ist Wladimir Putin nicht bereit, eine Normalisierung der Lage zuzulassen. Angesichts der Erfahrungen der vergangenen Monate mit russischen Täuschungsmanövern, unverhohlenen Lügen und einer grimmigen Entschlossenheit Moskaus, weiter Chaos in der Ukraine zu säen, ist jedenfalls jede Skepsis angebracht. Genauso ist es Zeit für eine kritische Selbstbefragung im Westen, wie man die Sache eigentlich so lange hat treiben lassen können.

Putin ist sich sicher, am längeren Hebel zu sitzen

Die anhaltende Aggression Russlands gegen die Ukraine hätte man längst als das bezeichnen müssen, was sie ist: ein Krieg Moskaus gegen das Nachbarland. Unsere Politiker halten es da gerne etwas abstrakter und reden etwa von einer „beispiellosen Verletzung der europäischen Nachkriegsordnung“. Viele Kommentatoren sind der Meinung, wir befänden uns an einem Wendepunkt der europäischen Nachkriegsgeschichte. Dennoch mag sich niemand so recht ausmalen, wo das alles noch hinführen könnte. Und noch viel weniger scheinen unsere Politiker bereit zu sein, ihre Länder auf das vorzubereiten, was an weiterer russischer Eskalation heute noch unvorstellbar erscheint, morgen aber vielleicht schon Realität sein könnte.

Die Historikerin und Kolumnistin Anne Applebaum hat kürzlich in der Washington Post gedanklich durchgespielt, was es bedeuten würde, wenn dieser Moment der europäischen Geschichte dem von 1939 ähneln würde – als Nazideutschland Polen überfiel, nachdem die Passivität der freien Welt gegenüber dem Anschluss Österreichs und der Besetzung des Sudetenlandes Adolf Hitler nur zu weiteren Abenteuern ermuntert hatte. Wenn also Russlands Präsident Wladimir Putin einfach immer weitermachen würde und auch gegen die baltischen Staaten und Polen zu zündeln versuchte, bis er entweder entschiedenen westlichen Widerstand zu spüren bekäme oder die Nato derart als Papiertiger entlarvt hätte, dass das Bündnis zerfällt.

Das mag uns heute noch wie eine aus Hysterie geborene Horrorvision vorkommen. Wer jedoch vor zehn Monaten behauptet hätte, Russland würde versuchen, sich die Krim und Teile der Ostukraine einzuverleiben, der wäre als Spinner oder als ewiger Kalter Krieger abgetan worden. Diese „Spinnereien“ sind nun Wirklichkeit geworden – was uns zwingen müsste, weit unfreundlichere Szenarien in Erwägung zu ziehen als die, in denen das wohltemperierte Mitteleuropa der vergangenen 25 Jahre zu denken pflegte.

Sicher, es gibt einige gute Gründe, die gegen ein Remake von 1939 unter anderen Vorzeichen sprechen. So ist Russland militärisch heute im Verhältnis schwächer, als es Nazideutschland war, und die liberalen Demokratien, in EU und Nato vereint, stehen heute sehr viel kompakter zusammen als damals. Aber absolut sicher können wir uns dessen eben nicht sein.

Schließlich verfügt Russland über die ultimative Waffe, die Atombombe, deren Schreckenspotenzial seine konventionelle Schwäche ausgleicht. Zusätzlich wiegt Putin mit seiner politischen Entschlossenheit auf, was Russland an Militär- und Wirtschaftskraft nicht zu bieten hat. Er agiert in der Annahme, es mit einem konfliktscheuen Westen zu tun zu haben, der lieber zurückweicht, als die Dinge auf die Spitze zu treiben. Das ermöglichte Putin bislang, selbst immer weiter zu eskalieren, ohne ernsthafte Folgen erwarten zu müssen.

Als Autokrat muss Putin auch weniger Rücksicht auf seine Bevölkerung nehmen, die er mithilfe seiner Propaganda-Apparate in patriotischen Furor versetzt hat. Offenbar ist eine Mehrheit der russischen Bevölkerung derzeit bereit, wirtschaftliche Einschnitte in Kauf zu nehmen für Putins Vision geopolitischer Ausdehnung und einer teilweisen Wiedererrichtung des russischen Imperiums des 19. und 20. Jahrhunderts. Das gibt ihm mehr Bewegungsspielraum als den demokratischen Politikern im Westen, deren Gesellschaften unter der anhaltenden Wirtschaftskrise leiden.

Wir halten es aus unserer Logik heraus immer noch für unwahrscheinlich, dass Putin einfach weitermacht, egal wie sehr die Kosten seines anhaltenden Krieges gegen die Ukraine schmerzen mögen und wie hoch die Risiken möglicher zukünftiger Aggressionen gegen östliche Nato-Partner wären. Aber wenn wir etwas gelernt haben sollten in den vergangenen Monaten, dann dies: Unsere Logik ist nicht notwendigerweise auch diejenige Putins. Wir sollten auf noch Schlimmeres vorbereitet sein. Denn wer nicht vorbereitet ist, wird von den Ereignissen überrumpelt, wenn sie denn doch eintreten.

Den roten Faden wollte kaum jemand erkennen

Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass zukünftige Historiker sich damit beschäftigen werden müssen, wie Teile Europas erneut in Unfreiheit fallen konnten. Und sie werden viele Fragen haben an unsere gegenwärtigen europäischen Eliten:

–    Warum nur hat die EU inmitten einer ihrer schlimmsten außenpolitischen Krisen den diplomatischen Chefposten mit einer unerfahrenen Politikerin besetzt, die dazu noch in Sachen russischer Aggression als windelweich bekannt war?

–    Warum war die Nato nicht bereit, zur Abschreckung Russlands substanzielle Truppenkontingente fest in die östlichen Frontstaaten zu verlegen (wie im Kalten Krieg in die Bundesrepublik), damit Putin gar nicht erst auf den Gedanken kommt, auch dort zu zündeln?

–    Warum ist der Westen dem Aggressor nicht entschiedener und rascher mit wirksamen Sanktionen in den Arm gefallen, um Putins Position früher zu schwächen und der russischen Bevölkerung die Lust auf Abenteuer zu nehmen?

–    Warum hat man dem heruntergewirtschafteten ukrainischen Militär nicht schneller und wirksamer mit Waffen und Militärberatern geholfen, damit es den russischen Invasoren mehr Widerstand entgegensetzen und die Kosten für Russland in die Höhe treiben konnte?

–    Warum hat Europa nicht schon Jahre vorher erkannt, dass es seine gefährliche Abhängigkeit von russischen Energielieferungen reduzieren muss?

–    Warum hat man es den Russen so leicht gemacht, im Westen Propagandanetzwerke aufzubauen und das öffentliche Leben europäischer Staaten zu infiltrieren?

–    Warum haben die Europäer in derselben Zeit ihre Militärausgaben drastisch heruntergefahren, in der Moskau ein ambitioniertes und teures Modernisierungsprogramm für das eigene Militär gestartet hat?

Für jede dieser Fragen gibt es Erklärungen, die mit Kleinmut zu tun haben, mit europäischer Innenpolitik, mit der Wirtschaftskrise und vielem mehr. Zusammengenommen zeugen sie jedoch von einer gefährlichen Naivität Europas und der Unfähigkeit, in geopolitischen und harten Machtkategorien zu denken.

Wir haben in Sachen Russland in den vergangenen Jahren auch ein gefährliches Herdendenken in Politik, Think-Tank-Landschaft und Publizistik erlebt. Es herrschte eine zirkuläre, sich immer wieder selbst bestätigende Erzählung, wonach Russland einfach nur mehr Zeit brauche, um vollwertiges Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft zu werden – ein Narrativ, das alle Indizien für eine strategisch ausgerichtete antiwest­liche Politik Russlands ignorierte und die vielen Hinweise dafür als bloße Einzelfälle abtat.

Kaum jemand wollte den roten Faden erkennen, der von Putins wütender antiwestlicher Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 zum Georgienkrieg von 2008 bis zur Unterdrückung der russischen Protestbewegung nach 2011 und zu Russlands skrupelloser Unterstützung von Syriens Diktator Baschar al-Assad führte, mit der Moskau wieder Fuß zu fassen versuchte im Nahen Osten und damit in die Fußstapfen der Sowjet­union trat.

Sind unsere Eliten ausreichend vorbereitet?

Wo waren die Russlandexperten, die öffentlich davor gewarnt hätten, dass Moskau seit Jahren ein neues, kohärentes antiwestliches Weltbild propagierte und die eigene Bevölkerung damit ideologisch auf den kommenden Konflikt vorbereitete?

Wozu bezahlen wir unsere Geheimdienste, wenn diese offenbar keinen blassen Schimmer davon hatten, dass Putin fertige Pläne zur Invasion der Krim in den Schubladen aufbewahrte und schon vor Jahren begonnen hat, in der Ukraine Separatistengruppen zu gründen und zu finanzieren, die als Bodentruppen für die russische Camouflage-Invasion dienen konnten? Oder hatten wir all diese Informationen, aber niemanden, der sich einen Reim darauf machen konnte?

Stattdessen hat Europa das geglaubt, was es glauben wollte. Weil es bequem war. Und weil es den eigenen Wertmaßstäben entsprach. Leider waren das nicht dieselben, mit denen Putin Politik macht.

Deshalb ist das, was wir in den vergangenen Monaten in der Ukraine erlebt haben, vielleicht nur ein Vorspiel zu einem größeren Konflikt. Und dann stellt sich eine Frage dringender als alle anderen: Sind unsere europäischen Eliten ausreichend vorbereitet, um ein erneutes Rendezvous des Kontinents mit der Geschichte zu bestehen?

Eine frühere Version dieses Textes erschien am 5. September 2014 in der Tageszeitung „Die Welt“.

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