Was war Neoliberalismus?

World of Passions: How to Think About Globalization Today lautet der Originaltitel eines großen Essays, in dem der junge amerikanische Autor Jedediah Purdy untersucht, an welchen Defekten das neoliberale Projekt gescheitert ist. Warum führt selbst gut gemeinte Liberalisierung allzu häufig in illiberale und undemokratische Verhältnisse? Purdys Diagnose: Die Bannerträger des Neoliberalismus haben die Bedeutung menschlicher Leidenschaften ignoriert. Die Berliner Republik veröffentlicht JEDEDIAH PURDYS Essay in zwei Folgen

Die Ereignisse der jüngeren Zeit haben es nicht besonders gut gemeint mit der Doktrin, die Ökonomie und Politik während der neunziger Jahre beherrschte. Diese Doktrin, oft als "Neolibera-lismus" oder "Washington-Konsens" bezeichnet, war gekennzeichnet durch den Glauben, dass freie Märkte und internationale Wirtschaftsintegration weltweit Frieden, Wohlstand und Demokratie schaffen würden.

Doch in Ländern wie Indonesien und Argentinien ist die neoliberale Entwicklungspolitik gescheitert, und das Entstehen von neuem Nationalismus und Fundamentalismus, dessen extremste Ausprägung der Terrorismus ist, belegen insgesamt die Mängel des neoliberalen Programms. Das bedeutet eine interessante Konstellation, denn dem Neoliberalismus lag eine dezidiert optimistische und rationalistische Theorie der Moderne zugrunde, für die in Politik und Wirtschaft bislang kein Ersatz gefunden worden ist.1

Unter Ökonomen und Politikern gibt es zwar so etwas wie einen "Neuen Konsens", weniger tendenziös in seinen programmatischen Ratschlägen als der Neoliberalismus, aufgeschlossener für die Bedeutung von Politik und öffentlichen Institutionen. Aber dieser Neue Konsens vermag die Komplexität der Globalisierung nicht zu beschreiben. Einen weitaus produktiveren Begriff von Modernität hat die "Theorie der Leidenschaften" (theory of the passions) begründet, zu der Denker wie Adam Smith, Alexis de Tocqueville und Edmund Burke beigetragen haben. Aus der Sicht dieser Denktradition ist Modernität, zumal in der Phase ihrer Entstehung, ein instabiler Zustand, dem nicht nur das Potential zu freiheitlicher Demokratie, sondern auch zur Gewalt innewohnt. Diese Tradition des Nachdenkens über die Moderne hilft, die scheinbar widersprüchlichen Eigenschaften der Globalisierung zu verstehen - die Entstehung sowohl von potentiell demokratischen Mittelschichten wie von massivem politischem Extremismus -, indem sie beide Aspekte als im Wettstreit liegende Tendenzen der Moderne begreift. Mit Hilfe der Theorie der Leidenschaften lassen sich diese Widersprüche ausleuchten und Handreichungen für die praktische Politik formulieren.

In ihrer reinsten Form bedeuteten Neoliberalismus oder "Washington Consensus" eine Liste von Maßnahmen, die wirtschaftliche Stabilität und Wachstum schaffen sollten. Diese Maßnahmen wurden in den neunziger Jahren standardmäßig zu den Anforderungen erklärt, nach denen sich Entwicklungsländer zu richten hatten, um Kredite und Zuschüsse vom Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Weltbank zu erhalten. Der Politikökonom John Williamson, der den Begriff prägte, zählte zu den Kernelementen des Washington-Konsens: die Aufrechterhaltung von Haushaltsdisziplin (mit der Faustregel, dass Defizite zwei Prozent des Bruttosozialprodukts nicht überschreiten sollten); die Senkung der Spitzensteuersätze bei gleichzeitiger Vermehrung der Zahl der Steuerzahler; die fortschreitende Liberalisierung der Finanzmärkte, bis über die Zinssätze allein der Markt entscheidet; die Handelsliberalisierung durch niedrige Zölle auf Ein- und Ausfuhren; die Abschaffung von Barrieren gegen ausländische Direktinvestitionen; die Privatisierung öffentlicher Unternehmen; der Abbau bürokratischer Regeln für die Wirtschaft; und die Schaffung klarer eigentumsrechtlicher Verhältnisse. Diese Maßregeln wurden weithin popularisiert, am heftigsten vielleicht von dem New York Times-Leitartikler Thomas Friedman, der sie als Bestandteile einer "goldenen Zwangsjacke" beschrieb, als Weg zum Wohlstand, der jedoch nur um den Preis der Aufgabe der freien Wahl eigener nationalökonomischer Politiken zu haben sei. Friedmans Metapher brachte den Zeitgeist auf den Punkt, indem sie die beiden gängigen Überzeugungen über die Verhaltensregeln des Washington-Konsens zusammenfassten. Erstens: Sie funktionieren. Und zweitens: Eine Alternative zu ihnen gibt es nicht.

Der Mechanik des neoliberalen Programms lagen Grundannahmen über das politische und gesellschaftliche Leben zugrunde. Vorrangig war dabei wahrscheinlich die Vorstellung, dass die Politik insgesamt der wirtschaftlichen Logik untergeordnet werden könne, wobei alle irrationalen und glaubensbezogenen Motive durch rationale und universelle Erwägungen ersetzt würden. Für die Theoretiker des Washington-Konsens war die Politik der Feind, weil sie der Ort war, an dem sich so antireformerische Haltungen wie die Angst vor der Veränderung und die Anhänglichkeit an bestehende Verhältnisse Ausdruck verschaffen konnten. Williamson schlug sogar vor, Wirtschaftskrisen mit Absicht herbeizuführen, um die Ketten der Politik zu sprengen: "Sollte es sich tatsächlich als schwierig herausstellen, Beispiele dafür zu finden, dass die umfangreichen politischen Reformen, die für eine offene Markt- und Wettbewerbsgesellschaft nötig sind, zustande kommen, ohne das ihnen eine tiefe Krise vorausgeht, dann wäre darüber nachzudenken, ob solch eine Krise nicht mit Absicht herbeigeführt werden sollte, um den politischen Reformstau aufzulösen." Aus dieser Perspektive ist Politik dann nur noch in dem Maße von Interesse, wie sie der Durchsetzung der ökonomischen Logik im Wege steht.

In den späten neunziger Jahren gewann die neoliberale Theorie an Selbstbewusstsein. Damals verkündeten Kommentatoren wie Friedman, die Herrschaft der Ökonomie über die Politik sei nicht nur wünschenswert, sondern sogar zwangsläufig: "Staaten, die zu weit von den entscheidenden Regeln abweichen, werden erleben, wie ihnen die Investoren davonlaufen, wie die Zinsen steigen und die Aktienkurse fallen ... Wer meint, er könne sich dem Wandel widersetzen, ohne dafür einen hohen Preis zu zahlen, ohne eine hohe Mauer um sich herum zu errichten und ohne schnell zurückzufallen, der lügt sich selbst in die Tasche." Der schiere Druck des Marktes werde die Politiker in die goldene Zwangsjacke stecken - ob mit deren Zustimmung oder ohne.

Warum Staaten mit McDonald′s-Restaurants meistens friedlich sind

Zum anderen argumentierten die Befürworter des Neoliberalismus, dass ihre Maßnahmen befriedend wirken würden. Friedman brachte diese These mit seiner "Goldene-Bögen-Theorie der Konfliktvermeidung" am griffigsten auf den Punkt. Diese "Theorie" gründete auf der Beobachtung, dass (jedenfalls bis zur amerikanischen Intervention im Kosovo 1999) noch niemals zwei Länder gegeneinander Krieg geführt haben, in denen es McDonald′s-Restaurants gibt. Im Grunde existieren zwei Versionen dieses Argumentes, von denen sich eine sogar auf die Gedanken Montesquieus berufen kann. Montesquieu schrieb: "Die natürliche Folge von Handel ist Frieden. Zwei Nationen, die miteinander Handel treiben, geraten in wechselseitige Abhängigkeit; wenn eine ein Interesse am Kaufen hat, hat die andere ein Interesse am Verkaufen. Alle Gemeinschaften gründen sich auf gemeinsame Bedürfnisse." Mit Unterbrechungen hat dieses Argument seit Montesquieu stets Zustimmung gefunden, besonders in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als einige Nationalökonomen befanden, die wirtschaftliche Interdependenz mache Kriege zum Anachronismus. In seinem Artikel zum Thema "Frieden" in der Encyclopeadia Britannica von 1910 schrieb Sir Thomas Barclay: "Der Krieg wird unter den fortschrittlichen Völkern zunehmend als unbeabsichtigte Störung jener Harmonie und Eintracht unter den Menschen empfunden, die die Nationen benötigen, um ihre Wohlfahrt zu fördern."

Die andere Version des Arguments betrifft nicht die Irrationalität des Krieges, sondern die Abneigung gegen den Krieg, nicht die Kalkulation der Interessen, sondern das Spiel der Leidenschaften. Wie Montesquieu schrieb: "Der Kommerz heilt zerstörerische Vorurteile. Es ist eine fast allgemeingültige Regel, dass überall dort Handel getrieben wird, wo friedliche Gebräuche herrschen, und dass überall dort friedliche Gebräuche herrschen, wo Handel getrieben wird." Montesquieu meinte, dass der handelsbedingte Umgang mit anderen Kulturen dem Chauvinismus entgegenwirke und so die Neigung zum Krieg mindere. Spätere Anhänger dieser These haben hinzugefügt, dass der Kommerz den Ehrgeiz der Menschen von der kriegerischen Suche nach Ruhm und Ehre auf die Wirtschaft und das Streben nach Wohlstand umlenke. Das eine habe zum Krieg geführt, das andere fördere den Frieden. Die Menschen wollen einfach lieber bei McDonald′s kaufen oder eine McDonald′s-Filiale betreiben als in den Krieg ziehen - das war die Überzeugung des Neoliberalismus.

Der dritte neoliberale Glaubenssatz lautete, dass wirtschaftliche Liberalisierung und Integration nicht nur den Frieden unter den Völkern fördern würden, sondern auch die Rechtsstaatlichkeit in den einzelnen Staaten selbst. Die größten Verfechter dieser Idee waren Politiker, die eine geeignete Begründung suchten, um den liberalisierten Handel mit undemokratischen Regimen als Mittel zur Förderung demokratischer Werte anpreisen zu können. Gemäß der neoliberalen Doktrin waren dies die beiden Seiten einer Münze. Der Theorie zufolge bringt der Handel eine Mittelschicht hervor, die sich nach dem Muster der europäischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts dem Autoritarismus widersetzen und die Demokratie fordern werde. George W. Bush verkündete, der Handel mit China, werde "einer unternehmerischen Klasse und einer freiheitsliebenden Klasse helfen zu wachsen und sich zu entwickeln". Der Republikanische Repräsentantenhausabgeordnete Tom Delay erklärte, eine chinesische Mittelklasse werde "letztlich die breite Anerkennung demokratischer Werte fordern". In der ersten Phase der neoliberalen Reform also werde die ökonomische Logik die perversen Motive der Politik überwältigen. In der nächsten Phase würden dann wiederum ökonomische Reformen die Politik neu gestalten, ihr den liberalen Stempel bürgerlicher Ordnung, Toleranz und Kompetenz aufdrücken.

Glück und Können statt Herkunft und Überlieferung

Man könnte diese neoliberalen Ansichten unter der Rubrik "Die Harmonie liberaler Zwecke" (the harmony of liberal ends) zusammenfassen. So könnte die Überzeugung bezeichnet werden, dass die Merkmale liberaler Modernität, wie sie sich in den nordatlantischen Gesellschaften entwickelt hat - Marktwirtschaft, Demokratie oder zumindest Rechtsstaatlichkeit, die Lockerung kultureller Traditionen, friedliche Koexistenz untereinander -, sich wechselseitig verstärken. Einer strengen Spielart der neoliberalen Weltsicht zufolge sind marktwirtschaftliche Reformen nicht bloß irgendwelche Instrumente, sondern der erste Tropfen eines alchimistischen Zaubermittels, welches das gesamte soziale Leben in das Gold der liberalen Modernität verwandelt.

Wo der Neoliberalismus auf überwiegend agrarische und familial organisierte Gesellschaften wie China oder Indien angewandt wurde, stellte er in der Tat eine Theorie der Modernisierung dar. In solchen Ländern beförderte er die Bewegung heraus aus traditionalen Lebensmustern mit ihren ererbten Rollen und Verpflichtungen, hinein in mobile Existenzformen, bei denen Glück und Können für das Schicksal des Einzelnen bedeutender sind als die Herkunft, bei denen die individuelle Wahl größeren Einfluss auf Überzeugungen und Identität hat als Überlieferung. Nach neoliberaler Auffassung lässt sich Modernisierung am ehesten mittels des Marktes als Katalysator bewerkstelligen, der wiederum eine selbstläufige Ausbreitung liberaler Werte und Praktiken in Gang setzt.

In den letzten Jahren hat der Neoliberalismus gleich serienweise praktische Niederlagen erlitten. Da sind zum einen die miteinander verbundenen ökonomischen und politischen Krisen in Ländern, die als Erfolgsmodelle neoliberaler Reformen galten. Und da ist zum anderen die neue Ausbreitung von Terrorismus und verschiedenster Ausprägungen nationalistischer und fundamentalistischer Politik, die daran erinnern, dass die liberale Moderne gefährlichere Feinde hat als ein paar übriggebliebene Anhänger der Planwirtschaft. Die dramatischsten Wirtschaftskrisen brachen in den Jahren 1997 und 1998 über Indonesien sowie 2000 und 2001 über Argentinien herein.

Indonesien war mehrere Jahrzehnte lang ein Modell stürmischen Wirtschaftswachstums, obgleich zur Politik des Landes beispielsweise die starke staatliche Förderung der nationalen Exportindustrien gehörte, was nicht gerade dem neoliberalen Ideal entsprach. In den neunziger Jahren jedoch machte sich Indonesien ebenso wie seine ostasiatischen Nachbarländer Thailand, Malaysia und Korea daran, eine der zentralen Forderungen des neoliberalen Programms zu erfüllen: Es liberalisierte seinen Kapitalmarkt. Indem sie den freien Kapitalfluss über ihre Grenzen hinweg zuließen, unterwarfen sich diese Staaten dem vermeintlich primären Mechanismus der Goldenen Zwangsjacke, nämlich den Anforderungen rationaler Investoren, die ihr Geld aus nicht nach Kriterien ökonomischer Effizienz organisierten Ökonomien abziehen. Obgleich den Reformen zunächst der zügige Zustrom von Kapital folgte, führte die Liberalisierung in die Krise: Als die südostasiatischen Währungen 1997 Anzeichen von Schwäche zeigten, gerieten die Investoren in Panik, und das Geld strömte aus Indonesien und seinen Nachbarländern heraus wie abfließendes Hochwasser. Zwischen 1997 und 1998 verdoppelte sich Indonesiens Armutsquote, und das Bruttosozialprodukt des Landes fiel um 13,1 Prozent. Beobachter zogen den Schluss, dass eine durch die Liberalisierung der Kapitalströme ermöglichte und beschleunigte Panik die tiefe Krise verursacht habe.

Niemand trug die Goldene Zwangsjacke so korrekt wie Argentinien

Der IWF brachte sein eigenes Programm noch zusätzlich in Misskredit, indem er eine neoliberale Medizin verschrieb, die die Symptome weiter verschlimmerte. Er ließ 16 Banken in Indonesien (und 58 von 91 in Thailand) schließen, erhöhte überall in der Region die Zinsen und erzwang die strenge Haushaltsdisziplin der Regierungen. Diese Maßnahmen sollten verschwenderische Ausgaben unterbinden und aufs neue ausländische Investitionen ins Land locken, die von den hohen Zinsen profitieren würden. Das erschien sinnvoll aus der Perspektive der neoliberalen Theorie, die irrationale Regierungstätigkeit als Problem und Marktdisziplin als Lösung erachtet - es half aber nicht in diesem Fall, weil die verängstigten Investoren um die wirtschaftlich darniederliegende Region inzwischen einen weiten Bogen machten. Das Ergebnis war ein dramatischer Kapitalmangel in der indonesischen Ökonomie, der auch noch die verbliebene Wirtschaftstätigkeit nahezu zum Stillstand brachte.

Die andere paradigmatische Krise war Argentiniens Zahlungsunfähigkeit am 23. Dezember 2001. Weit mehr noch als die ostasiatischen Staaten war Argentinien während der neunziger Jahre ein mustergültiger Träger der Goldenen Zwangsjacke gewesen. Nach Jahrzehnten des wirtschaftspolitischen Mismanagements, die bis in die Ära des Populisten Juan Peron zurückreichten, hatte sich Argentinien de facto dafür entschieden, die Kontrolle über seine Wirtschaftspolitik aus der Hand zu geben. Finanzminister Juan Cavallo, der Architekt des argentinischen Plans, war eine Art Ulysses, der sich selbst und sein Land fest an den Mast schlug, um den Versuchungen der Politik zu widerstehen. Cavallos wichtigster Schachzug bestand darin, den argentinischen Peso eins zu eins an den amerikanischen Dollar zu binden, was seiner Regierung jede geldpolitische Bewegungsfreiheit nahm. Obendrein verpflichtete sich die argentinische Regierung, die übrigen Empfehlungen des Washington-Konsens in die Tat umzusetzen: Privatisierung, Handelsliberalisierung, Reform von Steuer- und Bankensystem, und das alles mit dem Ziel der Erleichterung von Handel und Investitionen.

Doch der an den Dollar gebundene Peso machte die argentinischen Exporte auf dem Weltmarkt wettbewerbsunfähig. Das wachsende Handelsbilanzdefizit musste mit Hilfe von Krediten ausländischer Investoren geschlossen werden, was die Staatsverschuldung auf $ 155 Millionen zum Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit anwachsen ließ. Im selben Maße, wie der Schuldenstand Argentiniens stieg und die Wirtschaft des Landes aufgrund schwacher Exporte stagnierte, forderten ausländische Gläubiger immer höhere Risikoprämien dafür, dass sie Argentiniens Defizite weiter finanzierten. Die steigenden Zinsen für ausländische Kredite setzten einen tödlichen Kreislauf in Gang, der geradewegs in den Staatsbankrott führte. Am Ende standen öffentliche Unruhen. Entschlossen, die Schulden seines Landes weiter zu bedienen und die Finanzmärkte mit seinem Austeritätsprogramm zu beeindrucken, strich Cavallo die öffentlichen Ausgaben zusammen. Gehälter und Pensionen des öffentlichen Dienstes wurden um bis zu 13 Prozent gekürzt. Angesichts einer Arbeitslosenquote von ohnehin bereits 20 Prozent reagierten die Argentinier auf diese Maßnahmen mitten in der Vorweihnachtszeit mit Aufruhr und Plünderungen, was eine politische Krise auslöste, die innerhalb weniger Wochen mehrere Regierungen nacheinander verschleißen sollte.

Für die praktische Politik sind Laborsituationen von begrenztem Wert

Die beiden Krisen in Indonesien und Argentinien widerlegten nicht die Theorie, dass unter Laborbedingungen neoliberale Maßnahmen am besten geeignet sein könnten, stürmisches Wirtschaftswachstum zu schaffen. Sie belegten nur (und nicht zum ersten Mal in der Geschichte) den begrenzten Wert von Laborsituationen für die Formulierung praktischer Politik. Und indem sie das taten, widerlegten sie gewisse Grundannahmen des neoliberalen Programms. Erstens zeigten sie die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit, Politik einer rein ökonomischen Logik zu unterwerfen. Der argentinische Zusammenbruch markierte das Scheitern eines expliziten und ambitionierten Versuchs, genau dies zu tun. Die indonesische und ostasiatische Investorenpanik wiederum erinnerte daran, dass die Herrschaft ökonomischer Kriterien über die Politik nicht unbedingt wirtschaftliche Effizienz zur Folge hat, sondern in den ökonomischen Ruin führen kann. Darüber hinaus hat die schädliche Wirkung der IWF-Maßnahmen im Gefolge der Krise gezeigt, dass die Anwendung neoklassischer ökonomischer Theorie höchst kontraproduktiv sein kann, wenn dabei nicht die Bedingungen der politischen Ökonomie des betreffenden Landes in Rechnung gestellt werden. Kurzum, die Wirtschaft muss oft hinter der Politik zurückstehen, ökonomische Imperative können genauso ineffizient wirken wie politische, und selbst die direkte Anwendung ökonomischer Theorie gibt keine kontextunabhängige Blaupause für gutes Regieren ab.

Die beiden Krisen stellten aber auch die Behauptung in Frage, dass marktwirtschaftliche Reformen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hervorbringen würden - immerhin ein zentrales Argument der neoliberalen These von der "Harmonie liberaler Zwecke". Weit davon entfernt, liberalen Geist freizusetzen oder Demokratie und Rechtsstaatlichkeit voranzubringen, haben die von den Wirtschaftsreformen ausgelösten Krisen zu Ausbrüchen politischer Leidenschaft geführt, welche die Probleme der betroffenen Länder nur weiter verschärften. In Argentinien beendete die Demokratie die Wirtschaftsreformen; die Forderungen demokratischer Politik und neoliberaler Ökonomie gerieten in direkten Widerspruch. Umgekehrt trieb die wirtschaftliche Krise Indonesien in eine politische Krise, die schließlich den altgedienten Präsidenten Suharto zu Fall brachte und einen umfassenden Demokratisierungsschub auslöste; jedoch lösten die demokratischen Reformen zugleich eine Serie sezessionistischer Bewegungen in Osttimor, Aceh und Irian Jaya aus, die Indonesien destabilisierten und das Misstrauen der Investoren verstärkten. Sie führten auch zu unüberlegten Reformen, welche die Kompetenzen zwischen der Zentralregierung und verschiedenen Regionalregierungen so aufteilten, dass die Koordinierung weiterer ökonomischer Reformen schwierig bis unmöglich wurde. Die wirtschaftliche Destabilisierung schuf in der Tat den Keim der Demokratisierung, aber deren Ergebnis war keineswegs die stabile Mittelschichtgesellschaft, die sich die neoliberalen Optimisten als Folge freier Märkte erhofft hatten. Alles in allem liefen die Wirtschaftsreformen oft genug den politischen Merkmalen der liberalen Moderne insgesamt wie auch der Entwicklung effektiver politischer Institutionen zuwider. Den neoliberalen Anspruch, die Alchimistenformel zur Schaffung liberaler Modernität zu besitzen, ließ das sehr zweifelhaft erscheinen.

Angesichts dieser Erschütterungen des neoliberalen Selbstbewusstseins haben sich liberale Befürworter und Beobachter der Globalisierung auf einen Neuen Konsens geeinigt. Dessen Anhänger zweifeln nicht an der "Harmonie der liberalen Zwecke", doch sie glauben auch nicht an die neoliberale Zauberformel, die Marktreformen als hinreichende Bedingung für die Erlangung liberaler Modernität ansieht. Zwei beispielhafte Vertreter dieser Position sind hoch geachtete Ökonomen: der Nobelpreisträger und frühere Chefökonom der Weltbank Joseph Stiglitz und Jeffrey Sachs, ein amerikanischer Wirtschaftsprofessor und ehemaliger Berater des IWF. Ganz wie im Fall des vorausgegangenen neoliberalen Konsens haben die Medien begonnen, den Neuen Konsens zu popularisieren.Was ist der Neue Konsens? Der entscheidende Unterschied zwischen dem Neoliberalismus und dem Neuen Konsens betrifft die Beziehung zwischen Wirtschaft und Politik. Während der Neoliberalismus versuchte, die Politik zu überwinden, gründet der Neue Konsens auf der Einsicht, dass es vor der Politik kein Entrinnen gibt. Das gilt in einem deskriptiven Sinn: Die Politik prägt selbst nominell apolitische Maßnahmen, und dies zu leugnen führt zu taktisch falschem Vorgehen. Es gilt aber auch in normativer Hinsicht: Der Neue Konsens anerkennt, dass politische Institutionen für die Legitimität wirtschaftlicher Reformen essentiell sind.

Aberglaube oder Naivität?

Die ökonomische Integration des vergangenen Jahrzehnts interpretieren die Denker des Neuen Konsens als einseitige Bevorzugung der Interessen wohlhabender Länder zu Lasten der armen. Stiglitz etwa beschuldigt die amerikanische Regierung des Opportunismus und der Kumpanei, weil sie den IWF benutzt habe, um 1998 die Kandidatur Boris Jelzins für das Amt des russischen Präsidenten zu unterstützen. In der Sache selbst argumentiert Stiglitz, dass der IWF sein Mandat systematisch dazu genutzt hat, Investoren aus den reichen Ländern zu schützen, statt ärmere Länder vor wirtschaftlichen und sozialen Krisen zu bewahren. Eines der wichtigsten Mittel aus dem neoliberalen Werkzeugkasten ist tatsächlich "die Vertretung der Interessen der Finanzmärkte". Andere Kritiker haben auf den unverhältnismäßigen Einfluss der reichen Staaten in der Welthandelsorganisation (WTO) und die Macht der Agrarlobby in diesen Ländern hingewiesen. Vor diesem Hintergrund lassen Handelsabkommen weiterhin Subventionen und Schutzzölle für die Landwirtschaft der wohlhabenden Nationen zu, während sie diesen zugleich neue Märkte öffnen, auf denen sie ihre subventionierten Produkte absetzen. Aus derselben politischen Logik heraus gelten die pharmazeutischen Patentrechte der reichen Länder auch in den ärmeren Regionen der Welt und verhindern hier, dass dringend notwendige Medikamente als erschwingliche Generica angewendet werden können. Kurzum, die Neoliberalen warben für ihr Programm mit dem Argument, es schaffe auf globaler Ebene Marktverhältnisse jenseits der politischen Korruption.

Doch ganz wie zuvor schon in einzelnen Staaten erwies sich das neoliberale Vorhaben auch auf globaler Ebene anfällig für interessengeleitete Verregelung und pure Geldgier. Während die Politik in den reichen Ländern womöglich zu viel Einfluss hat, besitzt sie anderswo zu wenig. In Russland etwa vernachlässigten es die neoliberalen Reformer, politische und soziale Institutionen zu errichten, auf deren Grundlage ein Finanz- und Eigentumssystem überhaupt erst ordnungsgemäß funktionieren könnte. Stattdessen verließen sie sich auf formal zwar existierende, de facto aber ignorierte Gesetze und bloß nominelle Eigentumsrechte. Die Annahme, auf diese Weise könne eine Marktwirtschaft westlichen Charakters entstehen, grenzt an Aberglauben - oder wurzelt in ideologisch verbrämter Naivität.

Aufgezwungene Reformen funktionieren nicht

Anhänger des Neuen Konsens blicken auf die Politik auch nicht bloß als ursächliche Quelle der Legitimität oder Illegitimität von Maßnahmen. Im Zentrum der Kritik, die sowohl Sachs wie Stiglitz gegen den IWF richten, steht das quasi-imperiale Gebaren der Organisation, die nationalstaatlichen Regierungen vorschreibe, welche Politik sie zu betreiben hätten. In den Worten von Joseph Stiglitz: "Allzu oft ähnelt das Auftreten des Fonds gegenüber den Entwicklungsländern dem eines Kolonialherren." In den Augen der Kritiker liegt hierin ein entscheidender Grund dafür, dass die wirtschaftlichen Reformen in den Fällen Argentinien und Indonesien von politischen Krisen überrollt wurden, sowie dafür, dass Reformen in anderen Ländern verbreiteter Korruption zum Opfer fielen: Wenn die Einheimischen Reformmaßnahmen allein als etwas Erlittenes und von außen Aufgezwungenes verstehen und nicht als etwas, das sie aus eigener Initiative unternehmen, bleibt jede Unterstützung bestenfalls oberflächlich. Heftige Ausbrüche von Widerstand sind dann wahrscheinlicher als im Falle von Reformen, die im Land selbst ihren Ursprung haben.

Der erhöhte Status der Demokratie im Denken des Neuen Konsens ist zum Teil eine Folge gesunkenen Vertrauens in formelhafte und universelle Lösungen: Wo es keine einheitliche Formel für erfolgreiche Entwicklung gibt, und wo Politik als notwendige Voraussetzung des Erfolgs gesehen wird, da entsteht ein Freiraum, in dem die Demokratie erhöhte Priorität beanspruchen kann. Tatsächlich begründet Stiglitz seine Zustimmung zur Demokratie zum einen mit der Idee, dass sie notwendig sei, um einen "Gesellschaftsvertrag" zwischen Regierenden und Regierten zu ermöglichen. Zum anderen argumentiert er, dass es sich in ungewisser Lage als nützlich erweisen könne, eine größere Zahl von Menschen an den Beratungen über geeignete Maßnahmen teilhaben zu lassen, weil auf diese Weise neue Informationen und frische Ideen ins Spiel gebracht werden könnten.

Hand in Hand mit der neuen Akzeptanz für demokratische Politik geht für die Denker des Neuen Konsens die Kritik am Neoliberalismus. Es gehe bei ihm nicht um vernünftiges Nachdenken über geeignete Maßnahmen, sondern um Ideologie. Über die Maßnahmen des IWF zur Liberalisierung schreibt Stiglitz: "Wirtschaftswissenschaft wurde zu oft durch Ideologie ersetzt ... sie versprach klare Anweisungen, bot aber nicht immer Handreichungen, die wirklich funktionierten. Sie war eine Ideologie, die mit den Interessen der Finanzwelt im Einklang stand." Die Ursache für das Scheitern des Neoliberalismus sieht Stiglitz vor allem in der Überzeugung, dass die Rezepte der ökonomischen Theorie zwingend zu optimalen Ergebnissen in der Wirklichkeit führen würden. Ganz in diesem Sinne erklärt Sachs: "Wenn die Ökonomie für die Milliarden von Menschen in den Entwicklungsländern einen Nutzen haben soll, dann muss sie mehr wie angewandte ärztliche Heilkunde wirken und weniger wie Theologie daherkommen. Dann würde mit Volkswirtschaften nicht mehr herumgespielt wie mit Gegenständen theoretischer Spekulation, und sie wären auch nicht mehr den Beschwörungsformeln des IWF ausgesetzt." Zwar ist der IWF das wichtigste Ziel dieser Art von Kritik, doch die Wortführer des Neuen Konsens betrachten die Mängel der Organisation vor allem als Folgen des marktliberalen Fundamentalismus, dem sie anhänge. Dieser glaube, die geeigneten praktischen Maßnahmen immer und überall aus den Prinzipien wirtschaftswissenschaftlicher Theorie ableiten zu können.

Der Neue Konsens ist pragmatisch und anti-ideologisch

Das andere Kernelement des Neuen Konsens ist das Bekenntnis zu Institutionen, die geeignet sind, die Ungleichheit zwischen reichen und armen Ländern zu verringern. Die Neukonsensler argumentieren, dass politische Institutionen jene Güter vorhalten müssen, die Märkte aus ihrer eigenen Logik heraus nicht zur Verfügung stellen - entweder weil es sich um öffentliche Güter handelt (wie etwa im Fall des Schutzes der natürlichen Ressourcen), oder weil diejenigen, die diese Güter brauchen, nicht über die notwendige Kaufkraft verfügen, um eine "effektive Nachfrage" herzustellen (wie im Fall von Impfstoffen gegen Malaria und andere Seuchen in den ärmsten Ländern der Welt). Die Neukonsensler haben auch die Forderung nach liberalisierten Einwanderungspolitiken erhoben, damit auf geordnete Weise Kapital in die Hände privater Individuen in den Entwicklungsländern gelangen kann. Eine leitsternhafte Überzeugung des Neuen Konsens lautet, dass Gerechtigkeit nicht im Selbstlauf entsteht, sondern allenfalls als Ergebnis öffentlicher Einflussnahme auf die globale Verteilung von Ressourcen.

Alles in allem ist der Neue Konsens pragmatisch und anti-ideologisch. Er sieht sich der Politik verpflichtet und befürwortet öffentliche Intervention in den Gang der Wirtschaft - als notwendigerweise unzulängliches Mittel in einer Welt, die perfekte Lösungen nicht geben kann. In dieser Hinsicht hat der Neue Konsens tatsächlich aus den Ereignissen gelernt, die den neoliberalen Konsens ins Straucheln gebracht haben: die Verwicklung des Neoliberalismus in Wirtschaftskrisen und den wiederholten Ausbruch öffentlicher Aufruhr angesichts der Ergebnisse neoliberaler Maßnahmen.

Doch allen seinen Vorzügen und richtigen Einsichten zum Trotz - dem Neuen Konsens fehlt etwas. Ihm fehlen die konzeptionellen Ressourcen, ein weiteres Problem des Neoliberalismus angemessen zu begreifen. Dieses Problem liegt in der Ausbreitung chauvinistischer, nationalistischer und antiwestlicher politischer Doktrinen besonders unter den Angehörigen der Mittelschichten in den Entwicklungs- und Schwellenländer. Der Neue Konsens überhöht zwar nicht mehr in simplistischer Weise den Markt, sondern plädiert zurückhaltender für die Einführung von Marktreformen in Kombination mit politischen Reformen - doch auch noch der Neue Konsens teilt die neoliberale Überzeugung von der "Harmonie der liberalen Zwecke". Insofern stellte der Neue Konsens gegenüber dem Neoliberalismus einen Fortschritt dar, gewissermaßen einen besseren Werkzeugkasten zur Bewahrung der Früchte der liberalen Moderne. Doch er bietet keine Antwort auf die Möglichkeit, dass dieselben Prozesse, die diese Früchte hervorbringen, zugleich den Impuls zur Entstehung durch und durch illiberaler Versionen von Modernität produzieren könnten. Wer diese Möglichkeit verstehen will, muss sich der "Theorie der Leidenschaften" zuwenden.

Aus dem Amerikanischen von Tobias Dürr


1 Es ist am besten, diese Großkategorie gleich am Anfang zu erläutern. Unter Moderne und Modernität verstehe ich die sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Verhältnisse, die sich im 18. und 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika herausgebildet haben und seither das vorherrschende Leitbild für Gesellschaften überall auf der Welt geworden sind. Im gesellschaftlichen Leben bedeutet Modernität geografische und soziale Mobilität, den Niedergang traditionaler Hierarchie und den korrespondierenden Zuwachs an individueller Entscheidungsfreiheit. Soziale Modernität kann beispielsweise das Ende arrangierter Ehen zugunsten frei gewählter Partnerschaften bedeuten, die individuelle Berufswahl anstelle der Weiterführung eines ererbten Familienbetriebes oder die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage von Zuneigung anstelle von geografischer Nähe oder ethnischer Verwandtschaft. Die großen Beschreibungen dieser Transformationen sind Alexis de Tocquevilles Analyse der "Gleichheit der Bedingungen" in Die Demokratie in Amerika und Karl Marx′ und Friedrich Engels′ apokalyptische Darstellung der Ausbreitung von Handel und Individualismus im Kommunistischen Manifest.

In der Sphäre der Ökonomie bezieht sich die Kategorie der Modernität auf deren Ausmaß und Komplexität sowie auf die vertraglichen Beziehungen zwischen Einzelnen, die mit dem Aufstieg des Individualismus in den sozialen Beziehungen korrespondieren. Zwei ökonomische Motive - das Wirken großer und anonymer Marktkräfte und der Abschluss individuell ausgehandelter Verträge - verweisen auf konkurrierende strukturelle Aspekte der Moderne: einerseits die größere Individualisierung von Erfahrung und Entscheidungen, andererseits die Entstehung riesiger kollektiver Einheiten, in denen die freie Wahl zunehmend unbedeutend für die Bestimmung der Richtung des Ganzen wird. Vgl. dazu etwa Das Kommunistische Manifest. Die Rolle der individuellen Wahl in der modernen Ökonomie wird begründet von Adam Smith in An Inquiry Into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations.

In der Sphäre der Politik verweist Modernität auf die Betonung gleicher Rechte aller Bürger und auf die Vorstellung, dass politische Entscheidungen das Ergebnis rationaler kollektiver Meinungsbildungsprozesse anstelle tradierter Glaubenssätze oder Leidenschaften sein sollten. Vgl. The Federalist Papers No. 1 (Alexander Hamilton). In gegenläufiger Weise jedoch ist die Moderne zugleich gekennzeichnet durch Massenpolitik, ermöglicht durch nationale und weltweite Kommunikation und unter Umständen gerichtet an ein Publikum von bis zu einer Milliarde von Untertanen oder Bürgern. Wiederum verweist Modernität hier auf den Verfall von Autorität und überkommener Gewissheit - und auf die Unsicherheit darüber, ob sich infolgedessen die freie und vernunftgeleitete Wahl oder riesige anonyme Mächte durchsetzen werden. Das schwierige Zusammenspiel dieser beiden Aspekte der Modernität beschreibt Max Weber in Politik als Beruf.

In der Sphäre der Kultur weist die Moderne ähnliche Strukturen auf wie im ökonomischen und im politischen Leben. Einerseits ist Modernität gekennzeichnet durch die intensive Beschäftigung mit dem Individuum. Beispiele hierfür sind der Aufstieg von literarischen Genres wie dem Roman und der Memoiren, in denen die Meinungen und Emotionen des Einzelnen im Mittelpunkt stehen; klinische Praktiken wie die Psychoanalyse mit ihrem Anspruch, den innersten Kern des Analysierten freizulegen; sowie die Wertschätzung von Einzigartigkeit und Authentizität. Vgl. Charles Taylor, The Culture of Modernity, in: ders.: Sources of the Self: The Making of the Modern Identity (1989). Andererseits wird Modernität in Verbindung gebracht mit der Obsession für neue Formen von kollektiver Identität als Ersatz für verlorene alte Gewissheiten: In dieser Weise ist der Nationalismus mit seiner Eingliederung individueller Identität in den Gesamtkörper der Nation ein exemplarisches Produkt der Moderne. Dasselbe gilt für den Fundamentalismus, der zwar beansprucht, nichts mit der Moderne zu tun zu haben, in Wirklichkeit aber einen reaktiven Kampf um die Rückgewinnung alter Gewissheiten bedeutet, wobei die Quellen der Inspiration hier religiöse Texte bilden und nicht die Kulturgeschichte wie im Fall des Nationalismus. Vgl. Ernest Gellner, The Transition to an Age of Nationalism, in: Nations and Nationalism 39 (1983).

Es ist demzufolge wenig überraschend, dass die Moderne sowohl das Potential zur liberalen Demokra-tie in sich trägt wie zu den gewalttätigsten Formen sozialer und politischer Auflehnung, zu Nationalismus und Fundamentalismus. Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit der so genannten Globalisierungsdebatte als einem Kapitel im Kampf um die Ausrichtung der Moderne und mit der Frage, ob dieses vorläufig letzte Kapitel der Geschichte auf eine freiheitliche oder auf eine illiberale Zukunft hindeutet.

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