Die zwei Wege des Populismus
Donald Trumps Wahlsieg ist ein verheerender Schlag für alle Liberalen und Linken in den Vereinigten Staaten. Die Menschen verharren in einem Zustand anhaltenden Schocks. Radikale Unsicherheit macht sich breit. Überall wird spekuliert, aber letztlich weiß niemand, was sich Trump vornehmen wird und wozu er fähig ist. Von der Redefreiheit über die Freiheit der Religionsausübung bis hin zum Schutz vor Folter stehen die Werte der amerikanischen Verfassung plötzlich infrage. Dasselbe gilt für die Rolle der USA in der Welt.
Große Ungewissheit und Angst herrschen angesichts der Frage, in welche Richtung sich das Land entwickeln wird – nicht allein auf der Ebene von Staat und Politik, sondern auch auf der Ebene der Identität. Dies war ein Jahr des Populismus und Trump siegte, indem er an das Gefühl vieler Amerikaner appellierte, Leid zu tragen und ohne wirtschaftliche Perspektive zu sein, während zugleich die Eliten des Landes die Früchte eines zu ihrem Vorteil gezinkten Systems ernteten. Es war auch ein Jahr, in dem der Populismus rassistisch, nationalistisch, intensiv antiintellektuell und sogar antirational wurde. Trump leugnete grundlegende wissenschaftliche und soziale Tatsachen, vom Klimawandel bis zur Kriminalitätsrate, und es gelang ihm, viele Millionen Wähler für seine alternative Wirklichkeit zu gewinnen. Seine rassistische und islamfeindliche Angstmache hat funktioniert. Was wird aus uns in dieser wütenden Zeit?
Doch auch in Europa erschüttern Aufständische von links und rechts die Macht der etablierten Parteien. Einige wie der französische Front National oder die niederländische Partei für die Freiheit sind gegen Einwanderer und Muslime. Andere wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien ähneln mehr der Sanders-Kampagne in den Vereinigten Staaten. Viele, wenn auch nicht alle, stehen der EU feindselig gegenüber, die seit Jahrzehnten das gemeinsame Projekt der Parteien des linken und rechten Mainstreams ist.
Woher kommt der Aufstand gegen den Mainstream?
Die überraschende Brexit-Entscheidung der Briten im Juni war ein aktueller Beleg für diesen anwachsenden Aufstand gegen den politischen Mainstream. Die Graswurzelrebellion gegen die multikulturellen und europäisch orientierten Londoner Eliten bezog ihren Zuspruch aus der Arbeiterklasse und der ländlichen Basis beider Parteien. In ihrem Gefolge forderten Marine Le Pen und Geert Wilders ähnliche Abstimmungen für Frankreich und die Niederlande.
Zwei neue und sehr unterschiedliche Bücher versuchen, die populistische Welle zu erklären, die über die westliche Hemisphäre schwappt. John B. Judis, langjähriger politischer Journalist und Co-Autor von The Emerging Democatic Majority hat den Band The Populist Explosion geschrieben, der gekonnt die Aufstandsbewegungen beiderseits des Atlantiks aufeinander bezieht. Der Princeton-Politologe Jan-Werner Müller bietet in Was ist Populismus? eine Definition dieser antielitären Revolution, die er zugleich näher beleuchtet.
Judis tritt für eine breite Definition von Populismus ein, die er bei dem Historiker Michael Kazin entlehnt. Für ihn umfasst sie alles von dem amerikanischen Segregationisten George Wallace bis zu den linken Führern von Podemos und Syriza. Der Populismus, schreibt er, kennzeichne „gewöhnliche Menschen als edle Gemeinschaft, die nicht eng durch ihre Klassenzugehörigkeit begrenzt ist; er beschreibt seine elitären Gegner als eigennützig und undemokratisch“; und er arbeite daran, Arbeiter und Mittelschichten gegen die Elite zu mobilisieren. Der linke Populismus tut dies, indem er nach oben gegen die herrschende Klasse austeilt. Der Rechtspopulismus hingegen schlägt oft nach oben und unten zugleich: Er greift die auf der ökonomischen und politischen Leiter oben stehenden Eliten an, wendet sich aber zugleich gegen Entrechtete, ob rassische Minderheiten, Arme oder Einwanderer.
In den Vereinigten Staaten reicht der Linkspopulismus zurück bis zur People’s Party, die Ende des 19. Jahrhunderts die Macht der Demokraten und Republikaner infrage stellte, indem sie Bauern und Arbeiter gegen Eisenbahnkonzerne und Banken aufwiegelte. Diese Tradition, Menschen zu organisieren, um gegen die Zitadellen des organisierten Geldes anzurennen, erlebte 2016 in der Sanders-Kampagne eine große Wiederkehr.
Das Paradigma des Rechtspopulismus andererseits entspricht dem, was einige als Wallaces „Radikalismus der amerikanischen Mitte“ beschrieben haben. Im Jahr 1972 unterstützten die Wallace-Wähler Bundesprogramme zugunsten der Mittelschichten. Sie sahen sich gefangen zwischen „unwürdigen Armen“ und „maßlosen Reichen“. Gleichzeitig war der Gouverneur von Alabama auch der Kandidat der „ewigen Rassentrennung“ und seine Kampagne half, den Weg für die späteren Anstrengungen der Rechten zu ebnen, Programme gegen Armut als Bevorzugung so genannter welfare queens zu diffamieren.
Judis sieht in der Wirtschaftskrise seit 2008 das Ereignis, das die heutige populistische Herausforderung auslöste. Die „Große Rezession“ brachte die Tea-Party-Rechte und die Occupy-Wall-Street-Linke in Gang. Beide Bewegungen traten gegen das an, was sie als Koalition politischer und finanzieller Eliten gegen die normalen Menschen wahrnahmen. Doch Judis’ tiefergehende Diagnose porträtiert den heutigen Populismus als eine wachsende Widerstandsbewegung gegen diejenige marktorientierte Politik, die in Europa und Amerika seit der Ära Reagan/Thatcher vorherrscht: eine Geld- und Handelspolitik, die die traditionelle Industrieproduktion in Niedriglohnländer verlagert; eine wachsende Rolle für die Finanzindustrie; und die Aushöhlung öffentlicher Institutionen, von den Hochschulen bis zur Infrastruktur, die viele Bürger zu dem Schluss veranlasste, die Regierung vertrete nicht mehr ihre Interessen.
Das überwältigende Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein
Wie andere Autoren der politischen Linken fasst Judis diese Phänomene unter dem Begriff „Neoliberalismus“ zusammen. Dieser sei sowohl parteiübergreifend als auch transatlantisch und in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland von den Mitte-links-Parteien ebenso sehr zu verantworten wie von den Parteien der Rechten. Judis glaubt, die neoliberale Politik habe nicht nur einen neuen Stil marktorientierten Regierens eingeführt; sie schuf zugleich neue gesellschaftliche Gruppen, die sich von den Versprechen einer früheren Ära ausgeschlossen fühlten. Nach einer fast 30-jährigen Phase des „Wachstums für alle“ erleben die Mittel- und Arbeiterschichten vor allem in den USA stagnierende oder rückläufige Löhne und machen die Erfahrung von Abwärtsmobilität. So entstand in diesen Gruppen das überwältigende Gefühl, beiseite gedrängt zu werden, welches die Soziologin Arlie Russell Hochschild auf den Begriff der „Fremdheit im eigenen Land“ gebracht hat.
Judis argumentiert, diese Wähler wüssten seit Jahrzehnten, dass ihnen weder die wie ein siamesischer Zwilling mit Goldman Sachs und Silicon Valley verbundene Demokratische Partei noch die von ihrem Handelskammer-Flügel beherrschten -Republikaner viel zu bieten hatten. Aber der relative Wohlstand in Bill Clintons zweiter Amtszeit und die Fixierung der Politik auf Krieg und Sicherheit nach den Nine-Eleven-Angriffen machten es leicht, das anwachsende Gefühl der Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu ignorieren.
Dies alles änderte sich mit der Krise des Jahres 2008 und der darauffolgenden Rezession. Die Tea Party zeigte in den republikanischen Vorwahlen ihre Muskeln, während Occupy Wall Street begann, auf der linken Seite zu agitieren. Für Judis waren Trump und Sanders die offensichtlichen nächsten Etappen; die Anti-Establishment-Revolte bewegte sich von der Peripherie ins Zentrum des amerikanischen Zweiparteiensystems.
Sozialdemokratische Parteien ohne sozialdemokratische Instrumente
Die populistische Explosion bringt Amerika auf die Höhe ähnlicher Entwicklungen in Europa. Judis verbindet Trumps rechten Populismus mit Europas Anti-Migranten-Parteien wie dem Front National, der Schweizer Volkspartei oder der Finnenpartei. Zugleich stellt er Sanders’ „politische Revolution“ auf überzeugende Weise in den Kontext linker Bewegungsparteien wie Syriza oder Podemos.
Judis benennt auch, was Europas linken und rechten Populisten gemeinsam ist, nämlich ihre allgemeine Skepsis gegenüber der EU und der Globalisierung. Indem die Europäische Union einen einheitlichen Markt auf dem gesamten Kontinent schuf, sicherte sie die Freizügigkeit sowohl für Unternehmen als auch für Niedriglohnarbeiter. Zugleich aber wurden damit die „Friedensverträge“ zwischen Gewerkschaften und Industrie untergraben, die ein egalitäreres und sozialdemokratisches Europa ermöglicht hatten.
Gleichzeitig setzte die EU Haushaltsdefiziten enge Grenzen. Diese Grenzen sollten die gemeinsame Währung stabilisieren und der Inflation vorbeugen, hinderten aber die Staaten daran, keynesianische Mechanismen einzusetzen, um wirtschaftliche Abschwünge zu dämpfen. Gerade Griechenland und Spanien wurden auf diese Weise in die Austerität gezwungen. Und vielleicht noch wichtiger für Judis’ Argumentation: Viele sozialdemokratische Parteien in Europa büßten so die politischen Instrumente ein, die sie brauchten, um ihr traditionelles Programm eines breit geteilten Wachstums zu verfolgen.
Im Ergebnis waren es zunehmend nationalistische Parteien, die sich als Verteidiger von Arbeiternehmerinteressen positionieren konnten. Als diese Parteien in den fünfziger und sechziger Jahren erstmals entstanden, rekrutierten sie ihre Anhänger unter Bauern und Ladenbesitzern. Seit den siebziger Jahren sind sie zu Parteien der entkernten Industrieregionen geworden, in denen einst Sozialdemokraten und Kommunisten vorherrschten.
Weil liberale und konservative Eliten Konzepte verfolgen, die wirtschaftliche Unsicherheit verstärken, entsteht bei vielen Mitgliedern der europäischen Arbeiter- und Mittelschichten der berechtigte Eindruck, dass sich führende Politiker nicht besonders um ihre Interessen scheren. Damit stehen Progressive heute vor einer viel komplexeren Aufgabe als früher: Es kommt derzeit nicht nur darauf an, wieder ein egalitäreres Europa zu errichten, sondern es geht auch darum, Bewegungen aufzubauen, um der nationalistischen Versuchung entgegenzuwirken, die populistische Stimmungen in radikalen Trumpismus verwandelt.
Im Unterschied zu Judis’ umfassender Darstellung schlägt Jan-Werner Müller in Was ist Populismus? eine enger geführte Definition vor. Er beschränkt den Begriff auf Bewegungen, die „behaupten, dass sie – und sie allein – das Volk repräsentieren“. -Müllers Populisten bestreiten die Legitimität des Pluralismus, jener schwierigen und mühsamen Pflicht, ein Land mit verschiedenen Menschen zu teilen. Stattdessen verkünden sie, was der türkische Präsident Recep Tayyip Erdog˘ an seinen Kritikern entgegenhielt: „Wir sind das Volk. Wer seid ihr?“ Und sie blasen Sätze heraus wie Donald Trump: „Das einzig Wichtige ist die Vereinigung des Volkes – weil die anderen nichts bedeuten.“
Gemäß Müllers Begriff von Populismus behaupten dessen Befürworter, moralisch gesehen zählten bestimmte Teile der Gesellschaft als das ganze Volk, während alle anderen irrelevant seien. Zu diesem antipluralistischen Populismus gesellt sich leicht der hässliche Impuls, „fremde“ Elemente zu eliminieren oder zu vertreiben, ob mittels Grenzmauern oder Deportation, rassischer Segregation und noch Schlimmerem. Für Müller bedeutet Populismus nicht bloß Demokratie in aufständischer Stimmung (wie Judis argumentieren würde); vielmehr hält er den Populismus für eine „heruntergekommene Form von Demokratie“ – eine Demokratie, die sich selbst verraten hat.
Die selbstgefällige Ungenauigkeit des liberalen Kommentariats
Angesichts so unterschiedlicher Prämissen und Deutungen scheint es, als redeten Judis und Müller aneinander vorbei. Müller räumt ein, dass seine Perspektive auf den Populismus eine sehr europäische ist. Ihm geht es mehr um den Ausgrenzungs-nationalismus, wie er den europäischen Rechten gemein ist, als um den ökonomischen Antielitismus von Gruppen wie der amerikanischen People’s Party. Trotzdem ist Müllers Ansatz auf besondere Weise fruchtbar.
Eine Stärke von Müllers Buch liegt darin, dass er einigen Aufwand betreibt, gängige schlechte Argumente zum Thema Populismus zu widerlegen. Besonders hart geht er mit den beiden Irrwegen ins Gericht, auf denen das liberale Kommentariat an Amerikas Küsten wandelt. Diese sind einerseits die Psychologisierung von Populismus als ein Symptom des Ressentiments oder der „autoritären Persönlichkeit“, und anderererseits die Charakterisierung von Populisten als unverantwortliche Tölpel, die ganz einfach die Grundsätze solider Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht verstünden.
Müller betont, dass diese Stränge der Populismuskritik in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, politische Meinungsunterschiede nicht ernstnehmen zu wollen – worin ja gerade die politische Sünde von Antipluralisten wie Trump besteht. Dessen Kampagne löste bei vielen Beobachtern – in vieler Hinsicht zu Recht – Bestürzung aus. Ein großes Problem dieser Reaktion bestand jedoch in ihrer selbstgefälligen Ungenauigkeit. Da wurde der völlig anders angelegten Kampagne von Bernie Sanders pauschal dieselbe „Unverantwortlichkeit“ und „Wut“ zum Vorwurf gemacht. Oder man warf Trumps (in einem demokratischen Wettbewerb legitime) Positionen zur Handelspolitik in einen Topf mit seiner (vollständig unakzeptablen) Xenophobie. So haben liberale Medien oftmals Karikaturen des linken und des rechten Populismus gezeichnet. Damit aber verfehlen sie nach Müllers Ansicht eben das, was den Populismus eigentlich bedrohlich macht.
Was besonders Trump zu einem gefährlichen Populisten macht, ist nach Müllers Ansicht nicht, dass er Eliten angreift oder mit Ressentiments spielt, sondern etwas Präziseres: Trump vertritt eine ausschließende Fantasie hinsichtlich der Frage, wer „das Volk“ sei. Es ist eine Fantasie, die demokratisch daherkommt („Lasst das Volk regieren!“), in ihrer Logik aber viel näher am Autoritarismus ist. Wenn die Leute immer richtig liegen und Trump ihr Tribun und Sprachrohr ist, warum sollte er dann Widerspruch dulden?
Müller meint, dass die gängige (und etwas tröstliche) liberale Vorstellung, dass Populisten nicht regieren können – weil sie, einmal an der Macht, entweder aus dem Ruder laufen und unglaubwürdig werden oder sich in ganz normale Politiker verwandeln – zu einfach ist. Er verweist auf die nationalistische Partei Fidesz in Ungarn sowie auf Hugo Chávez in Venezuela, um zu zeigen, dass das Problem nicht darin besteht, dass Populisten nicht regieren können. Vielmehr täten sie dies in einer Weise, die wichtige demokratische Institutionen aushöhle. Müller zufolge neigen regierende Populisten dazu, auf Klientelismus zu setzen und öffentliche Mittel denjenigen Gruppen zuzuführen, die sie für das Herz der Nation halten. Sie nutzen die Staatsgewalt, etwa die Mittel der Justiz, um ihre Verbündeten zu unterstützen und die „Feinde des Volkes“ strafrechtlich zu verfolgen.
In dieser Weise trägt Populismus nach dem Muster Trump dazu bei, systematisch genau diejenige Art von Land zu erschaffen, die Trumps Anhänger beschreiben: ein Land, das entlang der Linien von Ideologie und Identität gespalten ist, in dem die Rhetorik der „Einheit“ nur dazu dient, die Kluft zwischen „dem Volk“ und allen anderen zu vertiefen.
Aber eine Frage bleibt offen: Warum rollt diese Welle des Populismus gerade jetzt auf uns zu? Judis bietet eine Erklärung an, die die aktuellen Aufstände auf die jüngste Wirtschaftskrise zurückführt. Zugleich verknüpft er sie mit der wirtschaftlichen Ungleichheit, die in den vergangenen vier Jahrzehnten als Folge neoliberaler Politik entstanden sei. Auch Müller ignoriert ökonomische Faktoren nicht, aber seine Erklärung ist eher kultureller Art: Die Demokratie verspricht Volksherrschaft, aber ihre Institutionen lösen dieses Versprechen nie wirklich ein; immer bleibt eine Lücke zwischen dem Versprechen demokratischer Selbstregierung und dem tatsächlichen Funktionieren der Politik. In diese Lücke stößt der Populismus laut Müller mit dem Versprechen, „das Volk“ ein für allemal an die Macht zu bringen.
Das Paradox der Identitätspolitik
Müller beobachtet noch ein weiteres kulturelles Phänomen, nämlich eine Politik, die auf Gruppenidentität fixiert ist – entweder indem diese gefeiert oder indem sie verdammt wird. „Wenn Identitätspolitik vorherrscht, wird der Populismus gedeihen“, schreibt er. Für Müller ist Populismus die ultimative Identitätspolitik, weil es Populisten ständig um die Frage geht, wer zum Land dazugehört – und wer nicht. Er steht mit dieser Argumentation nicht allein: Die Soziologin Arlie Russell Hochschild weist darauf hin, dass viele ländliche und kleinstädtische Konservative in Amerika die Demokratische Partei als Vertreter einer Art von Identitätspolitik betrachten, die ihnen bestimmte kulturelle Ansichten aufzwingen wolle; hierauf antworten diese Konservativen mit ihrer eigenen Identitätspolitik, indem sie Trump zujubeln, wenn er „echte Amerikaner“ wie sie selbst lobt.
Aber Müllers Kritik an der Identitätspolitik bedarf der Verfeinerung. Bei dem, was wir „Identitätspolitik“ nennen, geht es um grundlegende Formen zivilen Respekts. Was Hochschilds Tea-Party-Anhänger als Zwang wahrnehmen, der ihnen von Liberalen auferlegt werde, ist für andere ein Minimum an Schutz vor Fanatismus: nicht beleidigt zu werden, sich ohne Angst vor Erniedrigung in der Öffentlichkeit zu bewegen, einem Polizisten zu begegnen, ohne um das eigene Leben fürchten zu müssen. Es kann keine gesunde pluralistische Politik geben, wenn große Gruppen von Menschen glauben, dass der Staat oder ihre Mitbürger ihr Leben nicht ernstnehmen.
Darüber hinaus verbinden die erhitzten Kontroversen um Einwanderung und Hautfarbe, die von Kandidaten wie Trump ausgeschlachtet werden, die Fragen der Achtung und Würde unauflösbar mit „materiellen“ Themen wie Bildung, Inhaftierung und Polizeiverhalten. Solange Identität, also die fundamentale Frage, wer man ist, hochgradig bestimmt, wie der Staat einen behandelt, ob man reich oder arm ist, ob man sicher oder prekär lebt – solange wird die Identitätspolitik nicht aussterben. Was daher vielleicht am härtesten kritisiert werden muss, ist nicht Identitätspolitik per se, sondern diejenige Art der Politik, die die symbolische Bekräftigung von Identität zu ihrem Wesenskern macht.
Das ist der Stil von Trumps weißem Nationalismus – das Mobbing und das Fahnenschwenken eines Mannes, der nie irgendein Interesse am Leben arbeitender Menschen gezeigt hat. Genau dies fördert eine Mischung aus Nihilismus und Narzissmus, in der Politik keine wirkliche und konkrete Veränderung schafft und ihren Adressaten stattdessen nur die Spiegelbilder ihrer eigenen Gesichter zeigt.
Diskussionen darüber, wie Populismus zu begreifen ist, sind oft zugleich Kämpfe um etwas anderes. Sie sind Diskussionen darüber, was in der Politik unserer Zeit auf dem Spiel steht, worin die größte Gefahr für unsere Demokratien besteht, wie radikal wir die Gleichheit ausbauen und die demokratische Selbstregierung vertiefen sollten.
Judis begegnet Populisten mit Verständnis, weil auch er meint, dass die politischen Eliten den Wählern etwas Kostbares geraubt haben: die wirtschaftliche Staatsbürgerschaft und die „Wirtschaftsdemokratie“ aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Wie Bernie Sanders, Paul Krugman und andere Sozialdemokraten, erkennt Judis, dass die Nachkriegszeit der Gewerkschaften, der Sozialprogramme und der öffentlichen Institutionen für die arbeitenden Menschen eine Welt schuf, die besser war als jede frühere Epoche der westlichen Geschichte. Diese Welt wurde von der Politik Ronald Reagans und Margret Thatchers sowie der Umwandlung liberaler und sozialdemokratischer Parteien durch Bill Clintons New Democrats und Tony Blairs New Labour beerdigt. Die Sozialdemokraten mögen die Schaffung der EU gefördert haben, aber diese ist in Wirklichkeit keine Stütze eines robusten sozialen und demokratischen Europas.
Welche Art von Offenheit – und für wen?
Die linken Populisten haben gemäß Judis’ Deutung der jüngeren Geschichte ganz Recht mit ihrem Vorhaben, eine neue Version von Sozialdemokratie aufzubauen, die die Begrenztheit früherer sozialdemokratischer Parteien überschreitet. Diese linken Populisten verfechten einen Wohlfahrtsstaat, der frei sein soll von der ethnischen und geschlechtsbezogenen Exklusion, die für die sozialdemokratische Politik des mittleren 20. Jahrhunderts kennzeichnend war. Der rechte Populismus mag fehlgeleitet und widerwärtig sein, doch Judis entdeckt an ihm auch ernstzunehmende Aspekte. Auch dieser Populismus sei eine Reaktion auf den Verrat der Eliten an den Arbeitnehmer- und Mittelschichten, die im 20. Jahrhundert zum ersten Mal in der Geschichte ein paar Jahrzehnte lang tatsächlich „das Volk“ waren. In diesem Verrat sieht Judis die radikalste Gefahr für die moderne Demokratie, und der Leser bleibt mit dem Gefühl zurück, dass die Linke um jeden Preis eine Antwort braucht.
Müller wiederum hat zwar Verständnis für die Klagen über wirtschaftliche Ungleichheit und den Verlust demokratischer Verantwortlichkeit, aber sein Buch untersucht vor allem die Art und Weise, in der die Demokratie aus sich selbst heraus fehlschlagen kann, wenn „Herrschaft des Volkes“ bedeutet, dass nur bestimmte Gruppen als „das Volk“ gelten sollen. Was Müller umtreibt, ist die Sorge vor einer Politik, die Mehrheiten – oder angebliche Mehrheiten – zu einem Vehikel eigennützig-nationaler Mythen macht und Gruppen ausschließt, die nicht zu diesen Mythen passen.
Wie sollen wir uns zu den Versprechen und Gefahren dieses populistischen Augenblicks verhalten? Mainstream-Kommentatoren haben die Gewohnheit entwickelt, die heutige Politik als eine Wahl zwischen Offenheit und Schließung zu beschreiben: auf der einen Seite Freihandel, Einwanderung, Vielfalt und internationale Organisationen wie die EU – auf der anderen Seite Protektionismus, Ablehnung von Migranten und Siege für den Brexit oder Trump.
Demokratische Selbstregierung ohne Grenzen kann es nicht geben
In der Tat: Wenn die Wahl zwischen Offenheit und provinzieller Engstirnigkeit zu treffen ist, dann hat man auf der Seite der Offenheit zu stehen. Aber diese Auswahl zwischen einem elitenzentrierten Liberalismus und einem ethno-nationalistischen Populismus lässt die sozialdemokratische Alternative aus, die Judis den linken Populismus nennt. Eine demokratische und egalitäre Alternative ernstzunehmen erfordert, dass man nicht bloß fragt: „Offenheit – dafür oder dagegen?“ Stattdessen muss die Frage lauten: „Welche Art von Offenheit – und für wen?“
Die bisherigen Versionen von Globalisierung und europäischer Integration, bei denen die Markintegration der demokratischen politischen Kontrolle davonläuft, kommt vor allem zwei Gruppen von Menschen zugute: einerseits den Privilegierten und Mobilen, Fachleuten und Investoren, für die Grenzen vor allem ein lästiges Ärgernis sind; andererseits den sehr Armen und Schwachen, die anderenfalls in hoffnungslosen Umständen festsäßen (ob in der wirtschaftlichen Stagnation eines polnischen Dorfes ohne EU-Fördermittel oder im vom Krieg zerstörten Syrien).
Viel problematischer hat sich die wirtschaftliche Integration für die Menschen dazwischen ausgewirkt, nicht zuletzt für die Angehörigen der traditionellen Arbeiterklasse. Deren wirtschaftliche Existenz ist prekärer geworden, während sich zugleich ihre kulturellen Lebenswelten auflösten. Es sollte daher nicht überraschen, dass eben diese Gruppen angesichts des Schwindens ihrer ökonomischen Möglichkeiten das Angebot nationalistischer Politik aufgreifen, um auf diese Weise ein gewisses Gefühl der Kontrolle wiederherzustellen – zumindest der Kontrolle über ihre eigene Identität.
Wenn diese populistischen Aufstände in Form des Front National mit seiner Fremdenfeindlichkeit oder der Trumpisten mit ihrer Intoleranz daherkommen, dann muss man sich ihnen widersetzen. Das ist politisch und moralisch einfach, vor allem für jene von uns, denen es in der Ära neoliberaler Offenheit gut ergangen ist. Viel schwerer fällt dagegen das Nachdenken darüber, welche Art von politischer Offenheit ein progressiver Gegenentwurf anstreben sollte. Und sogar noch unbequemer ist die Frage, welche Formen wirtschaftlicher Grenzen notwendig sein könnten, um eine egalitärere Gesellschaft unter den Bedingungen einer globalisierten Ökonomie zu schaffen.
Keine Politik kann allein durch Offenheit definiert sein, egal wie attraktiv das klingen mag. Politik braucht Grenzen und Linien, sie braucht auch eine bestimmte Gemeinschaft. Die Gründe dafür sind weder sentimental noch kulturell. Sie haben nichts mit real Americans oder la France profonde zu tun. Sie sind praktische Voraussetzungen für Institutionen demokratischer Selbstregierung, vor allem mit Blick auf die Wirtschaft.
So schwierig und unangenehm diese Tatsache auch sein mag: Heute für sozialdemokratische Politik einzutreten heißt, auch für Grenzen einzutreten, für eine Linie, die abgrenzt, wer drinnen und wer draußen ist, für Grenzen der Mobilität von Arbeit. Jede Wirtschaftspolitik ist wenigstens teilweise immer das Ergebnis eines Friedenspakts zwischen den Klassen und zwischen Kapital und Arbeit, vor allem in Fragen wie Mobilität und Grenzen. Jede egalitäre Volkswirtschaft wird in schweren Stress geraten, wenn Kapital ungebremst aus ihr hinausströmen und Arbeitskräfte ungebremst in sie hineinströmen können.
Es gibt immer noch eine große moralische und politische Differenz zwischen einer ausschließenden und hierarchischen Wirtschaft nach dem Motto „Frankreich den Franzosen“, wie es der Front National fordert, und einer Nationalökonomie, die fair, integrativ, menschlich und frei von ethno-nationalen Kastensystemen funktioniert – aber in wichtigen Dimensionen ebenfalls geschlossen ist.
Natürlich, dies ist ein echtes Dilemma für die politische Linke, das die nationalistische Rechte völlig kalt lassen wird. Diese lebt ja gerade in der Vorstellung, „die eigenen Leute“ mittels sozialer und politischer Ausgrenzung zu beschützen. Wer aber eine demokratische Wirtschaft mit kosmopolitischer moralischer Sorge, individueller Bewegungsfreiheit und einer egalitären Gesellschaftsordnung kombinieren will, der muss sich einer Reihe schwieriger Fragen stellen, auf die keine einfachen Antworten in Sicht sind. Klar ist jedoch, dass die Demokratie innerhalb von Grenzen gefangen bleibt, und dass die Kraft demokratischer Politik, die Ökonomie zu gestalten und zu disziplinieren, immer weiter schwinden wird, wenn nicht einige geografische und wirtschaftliche Grenzlinien gezogen werden.
Ein »New New Deal« für Wirtschaftsdemokratie und Bürgergesellschaft
Wenn linke Populisten eine Alternative zu rechter Ausgrenzung und neoliberaler Offenheit aufbauen wollen, dann müssen sie gleichzeitig die Bedeutung von Grenzen anerkennen und auf die Entwicklung eines Internationalismus hinarbeiten, der politische Verantwortlichkeit irgendwann mit der Globalisierung Schritt halten lässt. Die Linke muss Wege finden, den ausschließenden Interpretationen von Grenzen und nationalen Volksgemeinschaften zu widerstehen; stattdessen muss sie kosmopolitische Bewegungen in Gang bringen, die auf viele nationale Regierungen zugleich Einfluss nehmen. Diese Schneise zwischen nationalistischem Ausschluss und neoliberaler Offenheit zu schlagen, ist so schwierig, dass es die Arbeit vieler Jahre kosten wird.
Die beiden großen Parteien den Vereinigten Staaten und viele Parteien in Westeuropa sind damit beschäftigt, ihre jeweiligen populistischen Aufstände zu verarbeiten. Die Trump-Kampagne hat es verstanden, republikanische Südstaatenwähler und die weiße Landbevölkerung gegen reiche Geschäftsinteressen und Libertäre auszuspielen. Sanders’ Kampagne wiederum öffnete eine Klassenkluft bei den Demokraten, indem sie Arbeiterwähler mit niedrigen Einkommen mobilisierte, die sich zuvor typischerweise nicht hinter „aufständische“ Kandidaten wie Eugene McCarthy oder Howard Dean gestellt haben.
Judis denkt, dass Linkspopulisten wie jene in der Sanders-Bewegung einen historischen Auftrag haben, so ähnlich wie die frühere People’s Party und ihre progressiven Nachfolger: Sie könnten dazu beitragen, den transatlantischen Neoliberalismus durch moderne Formen von Wirtschaftsdemokratie und Bürgergesellschaft zu ersetzen – durch einen „New New Deal“, wie man sagen könnte.
Auch Müller findet, dass die Sanders-Kampagne die gerechtfertigte Antwort auf eine Ökonomie der Ungleichheit und ein geldgetränktes politisches System war. Aber für ihn hat die jetzt dringende Aufgabe weniger mit der Linken und mehr mit der Rechten zu tun. Er glaubt, dass wir Populisten stoppen müssen, weil sie legitime Unzufriedenheit in rassistische und antiliberale Bewegungen umwandeln. Am wichtigsten sei es, meint Müller, das Milieu der Trump-Anhänger zu erreichen, ohne dabei auf Mobbing oder ausgrenzende Themen zu setzen. In Frankreich wurde versucht, einen Cordon Sanitaire um den Front National zu errichten, während zugleich Ex-Präsident Nicolas Sarkozy seine Mitte-rechts-Partei mit Anti-Immigranten-Themen ausstattete. Aus Müllers Perspektive war das völlig verkehrt. Hingegen habe Bernie Sanders, als er gegen die „Milliardärsklasse“ wetterte, ohne dabei auf Xenophobie oder Ethno-Nationalismus zu setzen, alles richtig gemacht.
Bekanntlich gewannen die rechten Populisten die Vorwahlen der Republikanischen Partei, während die linken Populisten die Vorwahlen bei den Demokraten verloren. Infolgedessen büßten die Demokraten bei der Präsidentschaftswahl unter ländlichen Wählern und weißen Amerikanern aus der Arbeiterklasse noch weitaus mehr Stimmen ein als zuvor. Damit sind Amerikas Arme und Arbeiter heute entlang ethnischer Linien gespalten. Weiße Arbeiter und Arme scheinen sich als rechte Nationalisten hinter dem Trumpismus zu gruppieren, schwarze Arbeiter und Latinos finden ihren Platz in einer antirassistischen, aber wirtschaftlich moderaten demokratischen Partei. Damit aber ist keine dieser Gruppen in der Lage, kraftvolle wirtschaftliche Reformen zu erzwingen.
Angesichts dieser düsteren Perspektive bedeutet „Populismus“ auf beiden Seiten des Atlantiks einstweilen viel eher den von Müller beschriebenen zerstörerischen Nationalismus als den von Judis skizzierten hoffnungsvollen Aufstand. Jedenfalls haben wir Amerikaner in diesem Moment der Ungewissheit allen Grund, uns vor der weiteren Entwicklung in unserem Land zu fürchten. Nie war es wichtiger, Machtmissbrauch mit jedem zur Verfügung stehenden friedlichen Mittel zu bekämpfen. Wir müssen politische Alternativen zum Trumpismus aufbauen, solange wir noch können. «
Aus dem Englischen von Tobias Dürr
Dieser Essay basiert in Teilen auf einem Beitrag, den der Autor für die Zeitschrift „The Nation“ verfasst hat. Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.