Weit mehr als Symbolpolitik

In historischer Perspektive zeigt sich, dass die Höhe des Spitzensteuersatzes und die Ungleichheitsentwicklung direkt zusammenhängen. Deshalb ist es gut, dass SPD und Grüne früher gemachte Fehler nun korrigieren wollen

In Deutschland scheint sich der Wind gedreht zu haben: In den vergangenen zwanzig Jahren sprachen die vier führenden Parteien in Bezug auf die direkten Steuern stets nur von Senkungen. Nun kündigen SPD und Grüne an, im Fall der Regierungsübernahme den Spitzensteuersatz und weitere Steuern zu erhöhen. Ob die Wähler dieses Vorhaben goutieren, dürfte für den Wahlausgang bedeutend sein – und damit auch für die künftige Ausrichtung dieses wichtigen Politikfeldes.

In diesem Text soll es deshalb um die historischen Veränderungen und Kontinuitäten in der deutschen Steuerpolitik gehen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem wohlhabendsten Teil der Gesellschaft. Denn Reichtum war in Deutschland statistisch lange Zeit schwer fassbar. Mittlerweile wurden jedoch anhand der Auswertung von Steuerdaten erhebliche Fortschritte erzielt.

Alan B. Atkinson und Thomas Piketty haben Steuerdaten der führenden Industrienationen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts analysiert. Sie fanden heraus, dass das reichste Prozent der Bevölkerung in den Industrieländern seinen Anteil an den Gesamteinkommen bis zum Ersten Weltkrieg auf sagenhafte 18 bis 20 Prozent steigern konnte. In Deutschland fiel dieser Anteil nach dem Ersten Weltkrieg wieder auf etwa 13 Prozent zurück, während er in vielen anderen Nationen zunächst nur leicht sank. Erst die Weltwirtschaftskrise und vor allem der Zweite Weltkrieg ließen den Wert auch dort auf unter 13 Prozent sinken. Bis Mitte der achtziger Jahre blieb er dann im Durchschnitt der industrialisierten Länder vergleichsweise konstant. Aber seitdem begann der Wert in einigen Ländern wieder anzusteigen.

Alles nur Symbolpolitik? Mitnichten!

Eine Analyse der Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg bringt überraschende Entwicklungen zutage: Im Jahr 1949 lag der Anteil des reichsten Prozents an den Gesamteinkommen in beiden Ländern bei etwa 12 Prozent. Dieser Anteil stieg in der Bundesrepublik bis Mitte der sechziger Jahre auf etwa 15 Prozent an, während er in den Vereinigten Staaten unter die 10-Prozent-Marke sank. Erst Mitte der achtziger Jahre drehte sich das Bild. Seither liegt der Anteil in den Vereinigten Staaten höher. So lag er 1995 in den USA bei 14 und in Deutschland bei 9 Prozent.

Welche Gründe gibt es dafür? Sofort fällt die Rolle des Spitzensteuersatzes ins Auge – obwohl natürlich auch weitere Faktoren wie die Entwicklung der Markteinkommen und die Höhe von Besitz- und Vermögenssteuern wichtig sind. Der Spitzensteuersatz lag in den Vereinigten Staaten bis Mitte der sechziger Jahre bei über 90 Prozent und bis zum Regierungsantritt von Ronald Reagan immer noch bei 70 Prozent. Erst Reagan setzte ihn binnen kurzer Zeit auf 28 Prozent herab. Hingegen senkte die deutsche Bundesregierung den während der Besatzungszeit auf 95 Prozent festgelegten Spitzensteuersatz bis Mitte der fünfziger Jahre auf nur 53 Prozent ab. Bis zur Jahrtausendwende lag er in Deutschland konstant zwischen 50 und 60 Prozent. Die enge Korrelation von Spitzensteuersatz und verfügbaren Einkommensanteilen der Wohlhabendsten zeigt, dass die Debatte um Spitzensteuersätze keineswegs nur Symbolpolitik ist, wie mitunter behauptet wird. Vielmehr hat er beträchtliche reale Auswirkungen auf gesellschaftliche Verteilungsfragen. Auch wenn der effektive Steuersatz durch Abzugsmöglichkeiten häufig deutlich unter dem nominellen Steuersatz liegt.

Die Spitzensteuer senken? Kohl blieb skeptisch

Neuere Studien für die Bundesrepublik belegen dies nachdrücklich. Während viele Beobachter den Antritt der Regierung Helmut Kohl 1982 als neoliberale Wende bezeichnen, zeigt eine Analyse der schwarz-gelben Steuerpolitik, dass davon nur eingeschränkt die Rede sein kann. Gerade im Vergleich mit den Steuerreformen in den Vereinigten Staaten unter Ronald Reagan und in Großbritannien unter Margaret Thatcher zeigt sich, dass die damalige Bundesregierung eher in den Traditionslinien der behutsamen Reformen blieb, die schon in der Regierungszeit von Helmut Schmidt eingesetzt hatten. In der ersten Amtsperiode verhinderte besonders der christdemokratische Arbeitnehmerflügel um Norbert Blüm und Heiner Geißler jede Debatte um eine Senkung des Spitzensteuersatzes. Nach der erfolgreichen Wiederwahl forderten CSU und FDP mit Vehemenz eine solche Absenkung, was die Gruppe um Blüm und Geißler in der CDU aber nach wie vor ablehnte. Erst eine Rücktrittsdrohung Helmut Kohls führte zur Einigung auf eine Absenkung von 55 auf 52 Prozent. Doch nicht nur Blüm und Geißler lehnten die auch aus dem Unternehmerflügel der CDU immer wieder erhobene Forderung ab, der Steuerpolitik von Reagan und Thatcher zu folgen. Auch Kohl selbst blieb skeptisch. Als ein Vertreter des Unternehmerflügels während einer Fraktionssitzung wieder einmal an Großbritannien angelehnte Steuerreformen forderte, platzte Kohl buchstäblich der Kragen. Nach einer langen Ausführung über die Unterschiede zwischen den beiden Staaten und Deutschlands wirtschaftlichen Vorteilen betonte er: „Ich bin kein Anhänger der Marktwirtschaft, sondern der sozialen Marktwirtschaft! Ich glaube nicht an jenes Stück Vorstellung vom Liberalismus, dass der Reichtum einer ganzen Gruppe automatisch übergreift und immer weiter übergreift, und dadurch die Schwachen hochzieht.“

Die hohen Kosten der Einheit sorgten dafür, dass an Steuersenkungen zu Beginn der neunziger Jahre nicht mehr zu denken war. Zwar wurde die Einheit vor allem durch die Erhöhung der Sozialbeiträge finanziert, doch zumindest der Solidarbeitrag war progressiv und beteiligte die Wohlhabenden stärker. Erst gegen Ende der Neunziger versuchte die Koalition aus CDU/CSU und FDP, massive Steuersenkungen durchzusetzen, doch sie scheiterte damit am Veto des von SPD und Grünen dominierten Bundesrates.

Bereits im Wahlkampf 1998 legten sich auch SPD und Grüne darauf fest, die Steuern massiv zu senken. Die SPD versprach die Absenkung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent, die Grünen forderten gar 45 Prozent. Nach der erfolgreichen Wahl gelang es den Grünen in den Koalitionsverhandlungen, sich bei diesem Thema gegen die SPD durchzusetzen. Da die Koalition bis zur Einbringung des Gesetzes die Mehrheit im Bundesrat verloren hatte, verweigerte dieser die Zustimmung und rief den Vermittlungsausschuss an. Die FDP, die in Rheinland-Pfalz mit der SPD eine Regierungskoalition bildete, koppelte ihre Zustimmung im Bundesrat an die weitere Reduzierung des Spitzensteuersatzes und war damit erfolgreich. Das dann im Juli 2000 beschlossene Steuersenkungsgesetz führte schließlich zu einem schrittweise abgesenkten Spitzensteuersatz in Höhe von 42 Prozent im Jahr 2005. Es war die größte Senkung des Spitzensteuersatzes in Deutschland seit fünfzig Jahren. Die Opposition hatte im Steuersenkungswettlauf im Bundestag noch mehr gefordert: Die CDU sprach von einem Satz unter 40 Prozent, die FDP gar von 35 Prozent.

Den amerikanischen Weg sollten wir nicht gehen

Die Auswirkungen des Gesetzes aus dem Jahr 2000 lassen sich an den Steuerstatistiken deutlich ablesen. Während die Verteilung des Realeinkommens auf die verschiedenen Einkommensschichten in den achtziger und neunziger Jahren relativ konstant blieb, stieg die Ungleichheit in Deutschland in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts deutlich an. Besonders die superreichen Bundesbürger profitierten erheblich. Die ökonomische Elite – also die reichsten 0,001 Prozent der Bundesbürger, etwa 300 Haushalte – verdoppelte ihren Anteil am verfügbaren Einkommen von 2001 bis 2005. Die Superreichen (0,0001 Prozent der Bundesbürger) verdreifachten ihren Anteil. Für das reichste Prozent blieb der Anstieg von 9 auf 10 Prozent Anteil an den Gesamteinkommen jedoch moderat.

Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten ist dies ein geringer Anstieg. Dort hat sich die Einkommensschere nach den Steuersenkungen unter Bill Clinton und George W. Bush und aufgrund der stark ansteigenden Gehälter von Managern noch sehr viel deutlicher geöffnet. Die vielfach diskutierten schädlichen Folgen wachsender Ungleichheit sprechen dagegen, dem Weg der Vereinigten Staaten weiter zu folgen. Deshalb ist es zu begrüßen, dass SPD und Grüne inzwischen implizit eingestehen, mit der Senkung des Spitzensteuersatzes einen Fehler begangen zu haben, den sie nun mit dessen moderater Erhöhung korrigieren wollen.

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