Welche Koalition soll es denn sein?

Die Unübersichtlichkeit der Parteienlandschaft hat 2016 nochmals beträchtlich zugenommen. Die Wähler tun sich schwer damit, das komplexe Feld der Möglichkeiten zu überblicken. Das stellt auch die Parteien vor neue strategische Herausforderungen

Das Wahljahr 2016 hat in der Parteienlandschaft zu neuer Unübersichtlichkeit geführt. Ausgelöst durch die Flüchtlingskrise konnte die AfD einen immensen Zulauf an Wählerinnen und Wählern verzeichnen. Ihr Einzug in die Landesparlamente hat die jeweiligen Parteiensysteme kräftig durcheinander gewirbelt. In Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Berlin mussten in der Folge Dreierbündnisse geschlossen werden. Selbst die Koalition aus CDU, SPD und Grünen in Sachsen-Anhalt erreichte nur eine knappe Mehrheit. Und in Baden-Württemberg hätte sogar eine „Große Koalition“ aus Union und SPD keine Mehrheit gefunden.

Das Wahljahr 2017 steht deshalb unter gänzlich neuen Vorzeichen: Bei der Bundestagswahl im September ist mit einem Sechs-Parteien-Parlament zu rechnen, da der Wiedereinzug der FDP und der Neueinzug der AfD wahrscheinlich sind. Das macht klassische Zweierbündnisse zur Mehrheitsbildung, wie sie über Dekaden hinweg üblich waren, schwierig bis unmöglich – und hat Konsequenzen für die Parteien, aber auch die Wähler. Diese möchten natürlich gerne wissen, von wem sie nach einer Wahl regiert werden. Aber heute können sie nicht mehr einschätzen, wie die Folgen ihrer Stimmabgabe aussehen werden. Welche Koalitionen hätten überhaupt eine Mehrheit? Und welche werden sich tatsächlich bilden?

Damit stellt sich für uns die Frage, welche Rolle Koalitionspräferenzen und Koalitionserwartungen bei der Wahlentscheidung spielen. Schauen wir noch einmal zurück: Bei den fünf Landtagswahlen 2016 nahmen Koalitionsfragen einen ganz unterschiedlichen Stellenwert ein. Um konkurrierende Bündnisse ging es nur in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Im Südwesten stand der beliebte Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor der Frage, ob es weiter für Grün-Rot reichen werde oder ob die Grünen gemeinsam mit der Union politisches Neuland betreten müssten. Auch eine Koalition aus CDU, SPD und FDP wurde diskutiert. Die Schwäche der SPD führte letztlich zur ersten grün-schwarzen Koalition der Republik. In Rheinland-Pfalz war zu Beginn des Wahlkampfes nicht klar, ob Malu Dreyer sich als Ministerpräsidentin würde behaupten können. Es ging also nicht nur um den Erhalt von Rot-Grün, auch die Option eines Machtwechsels stand im Raum. Am Ende kam es zu einer „Ampelkoalition“. In Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin ging es eher darum, mit wem die amtierenden Ministerpräsidenten weiterregieren würden, ob also eventuell ein Partnertausch nötig sein werde.

Elmar Wiesendahl hat jüngst (in Heft 5/2016 der Berliner Republik) die These aufgestellt, dass taktisches Wählen auf dem Vormarsch sei. Die Stimmabgabe in Zeiten der neuen Unübersichtlichkeit gleiche einem Lotteriespiel: Weil für den Wähler vor der Wahl nicht auszumachen sei, welche Koalition hinterher zustande kommen könnte, entscheide er sich zunehmend taktisch. Mit taktischem Wählen mag man eine bestimmte Wunschkoalition unterstützen oder eine unerwünschte Koalition verhindern wollen. Aber kann man das in diesen Zeiten wirklich? Haben Wähler überhaupt so klare Vorstellungen von Koalitionen und ihren „Bildungswahrscheinlichkeiten“?

Umfragen ergeben ein diffuses Bild

Die Bewertung von Koalitionen wird von der Forschungsgruppe Wahlen über zwei unterschiedliche Fragen erhoben: Es gibt einerseits die „offene“ Frage nach der Wunschkoalition der Befragten und andererseits die Bewertung vorgegebener Koalitionsmodelle. Dabei fördern die unterschiedlichen Frageformate bemerkenswert unterschiedliche Ergebnisse zutage.

In vier der fünf Länder gab mindestens ein Viertel der Befragten spontan an, keine Wunschkoalition zu haben oder nennen zu können, in Sachsen-Anhalt waren es sogar 36 Prozent (siehe Tabelle). Auch darüber hinaus spiegeln die spontanen Antworten auf eine Wunschkoalition kurz vor den fünf Landtagswahlen eher ein diffuses Bild wider. Offenkundig fällt es den Wählern nicht leicht, sich in der neuen Unübersichtlichkeit zu orientieren.


Gewünschte Koalitionsmodelle in den Bundesländern (ohne Vorgabe)







gewünschte Koalitionen

Baden-Württemberg

Rheinland-Pfalz

Sachsen-Anhalt

Mecklenburg-Vorpommern

Berlin

SPD-CDU

7

25

27

31

18

SPD-Linke

 –

1

2

9

6

SPD-Grüne

28

21

3

7

14

Rot-Rot-Grün

1

2

6

6

16

CDU-FDP

6

11

4

1

4

CDU-Grüne

20

4

2

2

3

CDU-AfD

2

3

5

4

2

Andere

10

9

15

14

12

weiß nicht/
habe keine

26

24

36

26

25

Quelle: FGW, Politbarometer extra in den Ländern vor der Wahlen 2016


Anders sieht es aus, wenn konkrete Koalitionsmodelle als gut oder schlecht bewertet werden sollen. Hier treten mehrheitlich Muster zutage, die bei den spontanen Nennungen eher untergangen sind. Beispielsweise nannten in Baden-Württemberg bei spontaner Nennung lediglich 28 Prozent der Befragten Grün-Rot und weitere 20 Prozent Grün-Schwarz als Wunsch-koalition. Konkret nach diesen Optionen gefragt, finden beide Modelle mit 48 und 43 Prozent deutlich mehr Zuspruch. Auch in Berlin wurde Rot-Rot-Grün als einzige Koalition von 44 Prozent der Befragten mehrheitlich positiv bewertet; spontan genannt wurde sie jedoch nur von 16 Prozent.

Nun ist Wunschdenken weit verbreitet, auch in der Politik. Aber Koalitionen brauchen mehr als Wünsche, sie brauchen Mehrheiten – womit wir zum zweiten Problem kommen: Reicht es für eine Koalition? Vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin glaubten lediglich 34 Prozent der Befragten, dass ihre Wunschkoalition nach der Wahl auch regieren werde. 41 Prozent glaubten das nicht, und ein Viertel hatte gar keine präferierte Parteienkombination.

Welche Koalitionslosung sollen Parteien ausgeben?

Klar wird: Die neue Koalitionslandschaft ist für viele Menschen äußerst schwierig – und damit auch für die Strategen der Parteien: Was sollen sie vor einer Wahl als Koalitionslosung ausgeben? Gerade die spontanen Antworten fallen eher diffus aus – aber immerhin wird erkennbar, dass die Anhänger einer Partei diese weiter an der Macht sehen möchten. Es kommt offenkundig darauf an, diesen Punkt in der Kommunikation deutlich zu machen.

Was lässt sich für die Bundestagswahl erwarten? Im kumulierten Politbarometer der Jahre 2015 und 2016 gaben 30 beziehungsweise 25 Prozent der Befragten spontan an, keine Wunschkoalition zu haben. Im Jahr 2015 nannten weitere 30 Prozent spontan die Große Koalition als präferiertes Regierungsmodell nach der nächsten Bundestagswahl. 2016 waren es jedoch nur noch 23 Prozent, die sich die amtierende Koalition für eine -weitere Legislaturperiode wünschen. 15 (2015) und 12 Prozent (2016) der Befragten nannten spontan eine rot-grüne Wunsch-koalition, alle weiteren Parteienkombinationen kamen in beiden Jahren auf weniger als 10 Prozent der Nennungen (2016: Union-FDP 7, Union-Grüne 9, SPD-Linkspartei-Grüne 5). Regierungsmodelle wie eine Ampel- oder eine Jamaika-Koalition werden selten spontan genannt. Es ist also auch auf Bundesebene schwierig, mit dem Wahlvolk über Koalitionen zu sprechen.

Abschließend bleibt die Frage, in welchem Ausmaß es 2016 zu strategischem Wählen gekommen ist, etwa in Form von Leihstimmen. Leihstimmen können als Stimmen definiert werden, die man strategisch motiviert einer anderen Partei gibt, als derjenigen, die man eigentlich am meisten mag. Messen lassen sich Leihstimmen gemäß dieser Definition anhand der Kreuzung der Wahlabsichtsfrage mit der Frage, welche Partei einem am meisten gefällt. Sind die beiden Angaben nicht identisch, liegt eine „Leihstimme“ vor.

Sinnvoll über Koalitionen reden? Sehr schwierig!

Am auffälligsten vertreten waren Leihstimmen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Beim ehemaligen Drei-Parteien-Parlament in Rheinland-Pfalz (SPD, CDU, Grüne) gab es Leihstimmen zugunsten der kleinen Parteien, um diesen über die Fünf-Prozent-Hürde zu helfen. Besonders die FDP erhielt dieses Mal Unterstützung von Unionswählern. So gaben ein Drittel der Befragten mit FDP-Wahlabsicht an, eigentlich sei die CDU ihre präferierte Partei.

Auch bei der Linkspartei und den Grünen waren solche Muster erkennbar. So gaben jeweils 27 Prozent der Befragten mit Wahlabsicht zugunsten der Linkspartei oder der Grünen an, eigentlich die SPD zu favorisieren. Allerdings fand auch Bewegung in die andere Richtung statt: Ein Drittel der Befragten, die angaben, 2011 die Grünen gewählt zu haben, entschieden sich diesmal kurz vor der Wahl für die SPD, um wenigstens die beliebte Ministerpräsidentin Malu Dreyer im Amt zu halten. Dies hätte die Grünen am Ende fast den Einzug ins Parlament gekostet. All das zeigt, wie komplex koalitionsorientiertes Wählen ist.

Übrigens konnte auch die AfD von knapp einem Drittel fremder Parteianhänger profitieren. So gaben 18 Prozent der Befragten mit AfD-Wahlabsicht an, eigentlich die CDU zu bevorzugen und weitere 12 Prozent die SPD. Allerdings dürften das weniger Leih- als vielmehr Proteststimmen gewesen sein.

In Baden-Württemberg bekam neben der FDP vor allem die SPD die meisten Leihstimmen, und zwar 38 Prozent von Befragten, denen eigentlich die Grünen besser gefielen. Diese Leihstimmen können als Verhinderungsversuch einer grün-schwarzen Koalition interpretiert werden. In Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin bekamen jeweils eine strauchelnde FDP und die Grünen Fremdunterstützung, um sie über die Fünf-Prozent-Hürde zu hieven.

Bei Bundestagswahlen spielten Leihstimmer ebenfalls bereits eine Rolle, etwa in den Jahren 2005 und 2009 als CDU-Befürworter zugunsten der FDP abstimmten, um damit Schwarz-Gelb zu unterstützen und eine Große Koalition zu verhindern. 2013 war dieses Phänomen etwas weniger ausgeprägt, da die Bundeskanzlerin damals das Credo ausgab, dass jeder für sich kämpfe. Bei der Bundestagswahl 2017 kann man jedoch davon ausgehen, dass sowohl die FDP als auch die AfD von enttäuschten Unionsanhängern Unterstützung bekommen werden. Im kumulierten gesamtdeutschen Politbarometer gibt es dafür Anzeichen. So gaben im Jahr 2016 ein Viertel der Befragten mit AfD-Wahlabsicht und 28 Prozent mit FDP-Wahlabsicht an, eigentlich gefielen ihnen CDU oder CSU am besten. Die Union muss daher damit rechnen, dass sie einige Wähler verlieren und es voraussichtlich sechs Parteien im neuen Bundestag geben wird.

Die neue und neueste Unübersichtlichkeit wirkt sich auf vielen Ebenen aus: auf die Wähler, die Parteien, aber vor allem auf die Koalitionsbildung. Dabei sind Koalitionen ein integraler Bestandteil unserer parlamentarischen Demokratie – und trotzdem scheint man im Wahlkampf kaum mehr sinnvoll über sie sprechen zu können. Gerade aus diesem Blickwinkel darf man auf das Wahljahr 2017 gespannt sein.

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