Welche soziale Gerechtigkeit?
Die Erneuerung der sozialen Demokratie und die Revitalisierung der europäischen Wohlfahrtsstaaten für das 21. Jahrhundert sind enorm schwierige Aufgaben. Um diese Ziele zu erreichen, müssen Sozialdemokraten die Werte der Gerechtigkeit und der Gleichheit neu interpretieren. Zugleich müssen sie neue politische Instrumente schaffen. Denn die traditionellen Ziele und Mittel sind nicht mehr angemessen.
Europäische Sozialdemokraten sollten eine Strategie der egalitären Modernisierung verfolgen. Dies bedeutet im Kern eine doppelte konzeptionelle Verschiebung. Zunächst müssen die Ideale der an Gleichheit ausgerichteten Sozialdemokratie neu interpretiert werden. Sodann ist eine Begründung für einen europäischen „Sozialstaat der Möglichkeiten“ zu formulieren. Das europäische Sozialmodell sollte nicht mehr ausschließlich darauf ausgerichtet sein, Armut und Ungleichheit zu bekämpfen oder Menschen gegen vorhersehbare Risiken abzusichern. Dies sind die Ziele des traditionellen Sozialstaates. Stattdessen muss es zukünftig darum gehen, neue Möglichkeiten zu schaffen. Es kommt darauf an, dass alle Menschen die Chance erhalten, ihre Potenziale voll zu entwickeln. Der früher auch im Deutschen anstelle des Begriffs „Sozialstaat“ übliche Begriff „Wohlfahrtsstaat“ enthielt noch diesen Sinngehalt von „Wohlergehen“ und „Wohlstand“. Der in diesem Sinn aktive Wohlfahrtsstaat muss ein Trampolin sein, der Erfolg ermöglicht, kein Sicherheitsnetz, das Menschen für den Rest ihres Lebens vor dem Scheitern schützt. Sein Ziel ist es, individuelle Freiheit für alle zu gewährleisten. Genau das ist die historische Mission der europäischen Sozialdemokratie seit Mitte des 19. Jahrhunderts.
Die Erneuerung muss in einer Zeit bewältigt werden, in der sich in den kapitalistischen Staaten die neue Orthodoxie ausgebreitet hat, der Wohlfahrtsstaat stecke in der Krise. Seit den frühen neunziger Jahren haben führende Mitgliedsstaaten der EU begonnen, ihre Sozialsysteme neu auszurichten. Manche reformistischen Schritte sind gemacht, noch mehr bleibt zu tun. Alle Wohlfahrtsstaaten müssen mit den neuen Ungleichheiten eines Zeitalters der Individualisierung, der Globalisierung und des beschleunigten demografischen Wandels fertig werden. Bestehen bleibt der gesellschaftliche Konsens, dass Bürger nötigenfalls vor den Unbilden des Marktgeschehens geschützt werden müssen. Doch wenn die europäischen Wohlfahrtsstaaten wirklich revitalisiert werden sollen, ist eine Fundamentalrevision der traditionellen sozialdemokratischen Grundsätze nötig. Wo sich Gesellschaften wandeln, müssen ihre Grundlagen überprüft werden. Die linke Mitte in Europa muss eine neue Welle der programmatischen Erneuerung in Gang setzen.
Der Wohlfahrtsstaat verkörpert die Ideale der Solidarität und der Gerechtigkeit, doch im Laufe der Zeit ist die genaue Bedeutung dieser Werte verloren gegangen. Im Westeuropa des 20. Jahrhunderts hielten Sozialsysteme die vom Markt geschaffenen Ungleichheiten in Grenzen und schützten zugleich die Schwachen vor dem Druck des industriellen Kapitalismus. Gleichwohl ging es dem Wohlfahrtsstaat mehr um Sicherheit als um soziale Gerechtigkeit.
Die Geschichte des Wohlfahrtsstaates hilft, die Wurzeln der gegenwärtigen Krise zu erkennen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts führte von Interessengruppen ausgeübter Druck zu einer Explosion der Ansprüche gegenüber dem Sozialsystem. Allzu leicht vergessen wird, dass Sozialisten den Wohlfahrtsstaat nicht als Mittel zur Verringerung von Ungleichheit betrachteten, sondern als Instrument, um „die Solidarität der Arbeiter durch ihren Schutz vor der Peitsche des Marktes zu ermöglichen“ (Daniel Wincott). Die noch Schwächeren mit ihren Bedürfnissen wurden dabei zunehmend an den Rand gedrängt.
Zugleich geriet in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch die normative Philosophie der sozialen Gerechtigkeit, die den Wohlfahrtsstaat begründet, unter Dauerbeschuss. Der Neoliberalismus erschuf eine intellektuell ernstzunehmende Rhetorik gegen den sozialdemokratischen Staat. Davon hat sich dieser in Großbritannien und der angelsächsischen Welt kaum erholt. Auf dem europäischen Kontinent hingegen war der Einfluss des Neoliberalismus geringer. Es lohnt sich, über das Wesen der neoliberalen Kritik an der Sozialdemokratie und deren Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit und größerer wirtschaftlicher Gleichheit nachzudenken. Genau diese Kritik hat die Verwirrung von Zielen und Mitteln ausgelöst, die heute zu besichtigen ist.
Was war der Neoliberalismus? „Eine mächtige Rhetorik der Reaktion“, schreibt der Philosoph Raymond Plant. Erst „vor dem Hintergrund einer ziemlich matten moralischen Begründung der sozialen Demokratie“ habe die neoliberale Kritik „moralische Kraft und politischen Scharfsinn entwickelt“. Die neoliberale Position – am schärfsten herausgearbeitet bei Friedrich von Hayek – besteht darin, soziale Gerechtigkeit als moralische und politische Illusion zu beschreiben. Die Rechte schloss daraus, der Sozialstaat solle kein Mittel zur Verwirklichung größerer Gleichheit sein, sondern nur ein Sicherheitsnetz für jene, die sich nicht selbst zu helfen wüssten. Dies war nicht nur eine Folge tatsächlicher Schwächen des Sozialstaats, sondern auch eine Konsequenz seiner wackeligen moralischen und philosophischen Rechtfertigung.
Soziale Demokratie als moralisches Projekt
Intellektuell behäbige Sozialdemokraten haben die Dauerhaftigkeit des kollektivistischen Nachkriegsstaates unterstellt. Liberale Theoretiker der europäischen Industriegesellschaft wiederum tendierten oft dazu, den Wohlfahrtsstaat als ein Phänomen zu betrachten, das die stabile liberale Ordnung des Kapitalismus im späten 20. Jahrhundert stütze. Er wurde als die Vervollständigung der jahrhundertealten Bewegung hin zu voller und gleicher Bürgerschaft betrachtet. Nach dieser Lesart löste der Wohlfahrtsstaat den Klassenkampf, wie Marx ihn verstanden hatte, zugleich ab und auf.
Es ist jedoch zutreffender, dass Wohlfahrtsstaaten den Klassenkampf nicht beenden, sondern fortwährend in diesen verwickelt sind. Der Wohlfahrtsstaat ist, so gesehen, eine fragile Institution, hochgradig anfällig für ideologische Verschiebungen und Veränderungen des innerstaatlichen Machtgleichgewichts. Er erwies sich als zunehmend labil, als in den achtziger und frühen neunziger Jahren die Debatte mit den Neoliberalen verloren ging. Wenn also ein reformierter Wohlfahrtsstaat neue Ungleichheiten bekämpfen soll, muss daher zunächst die soziale Demokratie als moralisches und politisches Projekt wieder instand gesetzt werden.
Soziale Gerechtigkeit neu zu verstehen erfordert eine Gegenkritik an der neoliberalen Position. Von Hayek hatte beispielsweise Unrecht, als er behauptete, die Kategorie der sozialen Gerechtigkeit sei von geringer Bedeutung, da die Ergebnisse des Marktes unbeabsichtigt seien und deshalb auch nicht ungerecht genannt werden könnten. Vielmehr entsteht soziale Ungerechtigkeit unabhängig davon, ob das zu ihr führende Handeln vorhergesehen oder beabsichtigt war.
Nicht überzeugend ist auch die Behauptung, dass Freiheit die Hintanstellung sozialer Gerechtigkeit erfordere. Für die politische Rechte geht es um die Freiheit von Menschen, ein Leben entsprechend den eigenen Ziele und Interessen zu führen. Aber wenn Freiheit nur die Freiheit von Zwang und Behinderung ist, in welchem positiven Sinn ist sie dann wertvoll für uns? Es ist offensichtlich, dass Freiheit und „Fähigkeit“ miteinander verbunden sind. Exakt die Fähigkeit, zu tun und zu sein, macht Freiheit erst wertvoll.
Im Kontext dieser neoliberalen Kritik müssen Sozialdemokraten ihre Werthaltungen und ihre egalitäre Philosophie auf neue Weise interpretieren. Ein Regierungsprojekt ist nicht lebensfähig oder nachhaltig, wenn Umverteilung und Sozialstaat allein aus pragmatischen Gründen aufrechterhalten werden. Eine explizite ideenpolitische Begründung ist nötig, damit die hier befürwortete doppelte konzeptionelle Verschiebung gelingen kann.
Es gibt einen Unterschied zwischen moralischen und mechanischen Reformern in der Politik. Die Sozialdemokratie hat für bloß mechanische Reformen seit 1945 einen hohen Preis entrichtet. Wo man versucht, eine politische Strategie zu verfolgen, die nicht eng an die Werte der Bevölkerung anknüpft, wird diese Strategie schnell zusammenbrechen, sobald sie von einem schlüssigeren und selbstbewusst vertretenen Glaubenssystem herausgefordert wird. Den Wohlfahrtsstaat zu revitalisieren erfordert eine als moralische und nicht bloß mechanische Strategie begriffene Erneuerung.
Aber die philosophische Begründung muss besser herausgearbeitet werden. Notwendig ist es, politische Argumente explizit so zu formulieren, dass sie zum gesellschaftlich geteilten Verständnis von Fairness und gerechtem Verdienst passen. Wir sollten uns in Acht nehmen vor allgemeinen Ideen, die bei näherer Betrachtung ohne präzisen Inhalt sind. Hochgradig grundsätzliche Begriffe von Gerechtigkeit und Gleichheit sind weniger nützlich geworden, seit die empirischen Analysen von Armut und sozialer Exklusion seit den neunziger Jahren präziser geworden sind.
Wie also sollten Gerechtigkeit und Gleichheit neu interpretiert werden? Traditionell haben die europäischen Sozialstaaten egalitär verstandene soziale Gerechtigkeit darin gesehen, die gleiche Verteilung von Gütern und Dienstleistungen zu verlangen – ganz egal, ob sich damit für die betroffenen Menschen effektive Ergebnisse erzielen ließen. Dies aber reicht schlicht und einfach nicht aus, und es demonstriert das ungenügende sozialdemokratische Verständnis für Konzepte der Gerechtigkeit. Bemühungen, wirtschaftliche Ergebnisse einander anzugleichen, stärken nicht unbedingt auch die Lebenschancen der Menschen, denn die Bedürfnisse der Individuen sind höchst unterschiedlich.
Wie der Entwicklungsökonom Amartya Sen betont, sind Menschen mit gleichen finanziellen Ressourcen dennoch ungleich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten. Ein Konzept des Wohlfahrtsstaates als Wächter der Gleichheit verdeckt die Notwendigkeit, die verschiedenen Fähigkeiten von Individuen zu berücksichtigen. Der britische Soziologe R.H. Tawney brachte dies bereits in den dreißiger Jahren auf den Punkt: „Gleiche Fürsorge bedeutet nicht identische Fürsorge. Sie wird nicht erreicht, indem unterschiedliche Bedürfnisse über einen Kamm geschert werden, sondern indem gleiche Mühe darauf verwandt wird, diese jeweils in angemessener Weise zu befriedigen ... Je mehr sich eine Gesellschaft bemüht, allen ihren Mitgliedern gleiche Beachtung zu widmen, desto differenzierter wird ... die Berücksichtigung der je besonderen Bedürfnisse von Gruppen und Individuen ausfallen.“
Uniformität schafft Gleichheit nur dem Namen nach
Die Voraussetzung für eine erneuerte Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit ist die Anerkennung unterschiedlicher Bedürfnisse. Uniformität schafft Gleichheit bestenfalls dem Namen nach. Das Individuum und nicht der Staat ist die beste Vertretungsinstanz eigener Interessen. Politik muss die Autonomie und Selbstachtung der Menschen stärken, ihre Integration in die Gesellschaft fördern und die Fähigkeit stärken, mit sich wandelnden wirtschaftlichen Bedingungen zurechtzukommen. Der Wohlfahrtsstaat bedarf passgenauer, individuell zugeschnittener Maßnahmen, die präzise und effizient denjenigen helfen, die Hilfe am dringendsten brauchen. Aktive Wohlfahrt muss den einheitlichen und interventionistischen Staat der Nachkriegszeit ersetzen.
Diese auf Amartya Sen und den amerikanischen Philosophen John Rawls zurückgehende Konzeption hat mehrere Vorteile. Sie betrachtet den einzelnen Menschen als Ausgangspunkt und berücksichtigt damit die Individualisierung von Werten und Lebensstilen in den postindustriellen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. Rawls meinte, dass seine egalitären Prinzipien eher durch eine Form von „Eigentümerdemokratie“ oder „Liberalsozialismus“ zu verwirklichen seien als durch einen kapitalistischen Wohlfahrtsstaat. Nachträgliche Umverteilung der Einkommen lässt große Ungleichheiten des Eigentums und des Humanvermögens unberührt und perpetuiert auf diese Weise die wirtschaftliche Ungleichheit, wie auch der Ökonom James Meade bestätigt.
Rawls’ und Sens Vorstellungen von Gerechtigkeit betonen die Freiheit des Einzelnen, den Schutz der Menschen vor autoritären oder paternalistischen Eingriffen durch Staat und Gesellschaft. Zugleich erfordert Rawls’ in seiner Theorie der Gerechtigkeit entwickeltes „zweites Prinzip“ beträchtliche Umverteilung, indem es gleiche und faire Lebenschancen für die am wenigsten Privilegierten verlangt. Wie also sollte soziale Gerechtigkeit definiert werden? Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hat eine Rangliste der Prioritäten sozialer Gerechtigkeit in der postindustriellen Gesellschaft aufgestellt. Sie umfasst – in dieser Reihenfolge:
- den Kampf gegen die Armut – nicht nur wegen ökonomischer Ungleichheit selbst, sondern weil Armut (und besonders dauerhafte Armut) die Fähigkeit von Menschen zu Autonomie und Selbstachtung einschränkt;
- die Schaffung höchstmöglicher Standards in Bildung und Ausbildung, verbunden mit gleichen und fairen Zugangsmöglichkeiten für alle;
- die Gewährung von Beschäftigung für alle, die arbeiten wollen und arbeiten können;
- einen Wohlfahrtsstaat, der Schutz bietet und Würde sichert;
- die Begrenzung der Ungleichheit von Einkommen und Besitz, wenn und sofern sie die Verwirklichung der ersten vier Ziele behindert oder den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet.
Warum der Kampf gegen Kinderarmut entscheidend ist
Diese Formel liefert eine gute ideenpolitische Grundlage für die hier entwickelte egalitäre Modernisierungsstrategie. Sie stellt die Wirklichkeit einer hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaft ebenso in Rechnung wie wirtschaftliche Notwendigkeiten. Sie macht auch klar, weshalb der Kampf gegen Kinderarmut absolut entscheidend ist.
Natürlich gibt es innerhalb der Linken noch immer mit Leidenschaft geführte philosophische Auseinandersetzungen über das Wesen der Gleichheit. Die traditionelle Lesart der Chancengleichheit (als Gegenstück zur Ergebnisgleichheit) steht, wie sowohl Rawls als auch der britische Theoretiker und Politiker C.A.R. Crosland meinten, gedanklich auf schwachen Füßen. Chancenbasierte Gleichheitspolitik achtet zu wenig auf ungleiche Startvoraussetzungen wie den familiären Hintergrund oder die genetische Veranlagung. Individuelle Einkommensunterschiede haben ihre Ursachen zu großen Teilen in Umständen, auf welche die Menschen keinen Einfluss haben; folglich sind solche Unterschiede kaum je gerecht. Klar ist, dass Chancen und Ergebnisse untrennbar miteinander verbunden sind.
Perverserweise haben manche kontinentalen Staaten Sozialleistungen beibehalten, die eine tückische Vorstellung von negativer Freiheit befördern. Das ist die vermeintliche Freiheit, zu möglichst günstigen Einkommensbedingungen außerhalb des Erwerbslebens zu verharren. Dies jedoch untergräbt aktive Teilhabe – die Voraussetzung für Würde und Lebenszufriedenheit. Und es verhindert die tatsächliche Freiheit des eigenen Handelns und Entscheidens. Die sozialen Grundlagen des Selbstrespekts, wie es Rawls nennt, müssen gleich verteilt sein.
Diese Neuinterpretation führt zu einem auf Freiheit fokussierten Ideal sozialer Gerechtigkeit: Es geht um die Förderung und die Pflege individueller Fähigkeiten, zugleich um die Neutralisierung der Nachteile, die sich aus der Geburt in benachteiligte Verhältnisse hinein ergeben. Es geht weniger darum, wo sich ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Einkommensskala befindet, mehr hingegen um die individuelle Weiterentwicklung und die Vermeidung von Armut. Niemand sollte gezwungen sein, sein Leben in der Sackgasse kumulativer Benachteiligung, prekärer und unsicherer Arbeit verbringen zu müssen. Erforderlich ist eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit, die darauf abzielt, das Individuum über den gesamten Lebenszyklus zu unterstützen und zugleich besondere Bedingungscluster der Benachteiligung zu beseitigen.
Wenn egalitäre Prinzipien radikal revidiert werden, wird der Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts effektiver helfen, die soziale Vererbung von Unterprivilegiertheit zu bekämpfen und zugleich Chancen und Gerechtigkeit für alle zu schaffen. Die eigentliche Frage ist heute nicht, ob wir in Zukunft einen Wohlfahrtsstaat haben werden, sondern welche Art von Wohlfahrtsstaat dies sein wird. Zu ihrer Beantwortung braucht die revisionistische Sozialdemokratie eine rigorose Wahrnehmung des sozialen und wirtschaftlichen Wandels. Folgende Trends sind von enormer Bedeutung:
Die erste Gruppe von Trends betrifft den demografischen Wandel. Die Bevölkerungen der westlichen Industriegesellschaften werden immer älter. Das Verhältnis von erwerbsaktiven zu nicht erwerbsaktiven Erwachsenen wird in vielen EU-Mitgliedsstaaten ungünstiger. In den meisten Ländern Europas existiert heute umfangreicher Schutz gegen die Risiken des Alters, hingegen gibt es zu wenig Schutz vor den neuen sozialen Risiken in früheren Lebensphasen, etwa irreguläre Beschäftigung, familiäres Scheitern, Depression oder fehlende Qualifikation. Es gibt überwältigende Gründe, den Sozialvertrag zwischen den Generationen neu zu schreiben. Ganz besonders hängt die Zukunftsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates im 21. Jahrhundert davon ab, ob es gelingt, gleichzeitig die Erwerbsbeteiligung von Frauen und deren verwirklichte Kinderwünsche zu steigern. Diese Trends spiegeln die wachsende gegenseitige Isolation von Arbeitswelt, Sozialstaat und Familie wider. Hierdurch sind in vielen EU-Ländern die Geburtenraten gefallen, während zugleich die Kinderarmut wuchs.
Die demografischen Ursachen steigender Ungleichheit
Die gesamte Einkommensverteilung eines Landes wird stark dadurch beeinflusst, wie viele Mitglieder der Haushalte wirtschaftlich aktiv oder inaktiv sind. Eine aktuelle Studie zur Einkommensverteilung in Finnland hat ergeben, dass die Zusammensetzung des Haushalts (also: ein Verdiener oder zwei, Anzahl der Abhängigen) für die Höhe des verfügbaren Einkommens wichtiger ist als die Schichtzugehörigkeit. Von der Schichtzugehörigkeit hingen die Unterschiede im individuellen Einkommen nach Steuern und Transfers nur zu 15 Prozent ab, während die Zusammensetzung des Haushalts 25 Prozent ausmachte. Gleichfalls belegen empirische Untersuchungen in Großbritannien, dass der Anstieg der Ungleichheit zwischen 1979 und 2004 in beträchtlichem Umfang auf demografische Faktoren zurückzuführen ist: auf Veränderungen der Haushaltszusammensetzung, Fertilitätsmuster und das Altern der Bevölkerung. Andere Untersuchungen belegen, dass hohe Geburtenraten und hohe weibliche Erwerbsbeteiligung sehr wohl zusammengehen können, wo eine integrierte Sozialpolitik betrieben wird. Zwischen der Höhe der Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Kindern und Frauen ohne Kinder besteht in den nordischen Staaten kein Unterschied, sie liegt in beiden Fällen über 75 Prozent.
Der Anstieg der Kinderarmut mit ihren vielen langfristigen Folgen ist ein weiterer schädlicher Trend. Die früheste Lebensphase ist für die Entwicklung des individuellen Humanvermögens von entscheidender Bedeutung. Es gibt einen wachsenden Berg von Belegen für die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen für die spätere Leistungsfähigkeit – von der Ernährung über die elterliche Pflege und Erziehung bis hin zur kognitiven Entwicklung in Kindergarten und Schule. In Ländern wie Deutschland, Spanien, Italien und den Niederlanden übersteigt die Rate der Kinderarmut mittlerweile die Rate der Altersarmut.
Bedeutsam ist zweitens der Einfluss der Globalisierung auf den Nationalstaat. Die Erosion wirtschaftlicher Souveränität hat traditionelle Formen von Nachfragemanagement obsolet gemacht und die Wirkung antizyklischer Maßnahmen geschwächt. Die schwindende Leistungskraft der kontinentalen Volkswirtschaften und ihr Scheitern im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit haben diese Schwächen seit dem Beginn der neunziger Jahre zusätzlich hervorgehoben.
Höhere Wachstums- und Beschäftigungsraten in der europäischen Wirtschaft erfordern mehr als nur bescheidene Korrekturen am Wachstums- und Stabilitätspakt. Fundamentale Reformen der regulativen Strukturen und Institutionen sind gefragt, ganz besonders auf den Arbeitsmärkten. Die Grundannahmen des Nachkriegssozialstaates erscheinen zunehmend fragwürdig. Versuche, sozialdemokratische Politik in einzelnen Nationalstaaten zu betreiben, haben sich als wirkungslos erwiesen. Zugleich aber sind interne soziodemografische Faktoren weit wichtigere Gründe für den Umbau von Wohlfahrtsarrangements als die der Globalisierung zugeschriebene ökonomische Macht.
Eine dritte Gruppe von Variabeln betrifft die Nachfrage nach Arbeit. Die Barriere zum Einstieg in die Wissensökonomie liegt heute höher als zuvor. Das erforderliche Maß kognitiver Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen ist seit den siebziger Jahren gestiegen. Die neue Wirtschaft hebt das Niveau der Fertigkeiten und Kompetenzen, die Menschen benötigen, um sichere und gut bezahlte Beschäftigung zu finden. Für die schlechter Qualifizierten wird es immer schwieriger, dauerhafte Arbeitsplätze zu erlangen, wie sie in der industriellen Wirtschaft der Nachkriegsjahrzehnte die Regel waren. Zugleich wächst das Risiko, im Zustand dauerhafter Armut zu verharren.
Die Einkommensschere öffnet sich überall
Bis in die frühen neunziger Jahre hinein galt es als ausgemacht, dass steigende Einkommensungleichheit allein Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Neuseeland und Australien betreffe. Dies schien im Einklang zu stehen mit den institutionellen Eigenschaften, die diese Volkswirtschaften von denen des europäischen Kontinents unterscheiden. Das deregulierte angelsächsische Modell ermöglicht die Preisbildung der Löhne am Markt. Dies schafft Arbeitsplätze, nicht aber Gerechtigkeit. In der übrigen EU verhinderten höhere Sozialleistungen und schärfere Arbeitsmarktregeln steigende Ungleichheit.
Neueste Daten deuten jedoch darauf hin, dass die angelsächsischen Länder überhaupt keine Ausnahmen sind. Die neue Ungleichheit ist ein struktureller Bestandteil fast aller fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften. Die meisten von ihnen erlebten eine lange Periode der Einkommensangleichung zwischen 1945 und 1973 aufgrund verbesserter Bezahlung einfacher Arbeit sowie umverteilender Sozialpolitik. Die Forschung zeigt jedoch, dass die meisten Länder seit den frühen neunziger Jahren einen deutlichen Anstieg der Ungleichheit verzeichnen. Die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen hat sich geöffnet.
Diese Trends sind in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Dänemark und Norwegen am dramatischsten. In Frankreich etwa hat sich das Verhältnis, zwischen den Einkommen am oberen und am unteren Ende der Skala seit 1991 von 1:8 zu 1:16 verändert. Großbritannien hingegen weist – abweichend von der verbreiteten Annahme, dass die Einkommensunterschiede hier besonders groß seien – durchschnittliche Werte auf; diese liegen niedriger als in Frankreich. Einkommensunterschiede sind exponentiell gestiegen, weil niedrigere Einkommen am unteren Ende der Skala zusammenwirken mit der Schwächung verschiedener Schutzmechanismen wie Mindesteinkommen, gewerkschaftlicher Organisationsgrad oder Flächentarif. Dies schafft enorme soziale Dualismen: Heute sprechen selbst die Franzosen von der societé de deux vitesses und die Deutschen von der Zweidrittelgesellschaft.
Schließlich gibt es viertens die Europäisierung. Hier geht es um die umkämpfte politische Sphäre, in der sich Regierungen um stärkere wirtschaftliche, soziale und institutionelle Koordination bemühen könnten. Die Entwicklung der EU bleibt jedoch dominiert von Argumenten negativer Integration, also dem neoliberalen Glauben an einen größeren Binnenmarkt oder Freihandel, während die positive Integration in Form der Stärkung der sozialen Dimension Europas weniger Gewicht besitz. Die Debatten hierüber dürften noch lange andauern.
Wie effektiv haben die europäischen Wohlfahrtsstaaten auf die neuen Herausforderungen reagiert? Der soziökonomische Umbruch und die Transformationen der Wirtschaft eröffnen ein Szenario größeren Wohlergehens, besserer Lebenschancen und neuer Freiheiten in Europa. Aber zugleich tauchen neue soziale Risiken auf: die Unvereinbarkeit von Arbeit und Familie; fehlender Zugang zu Bildung; die Überflüssigkeit traditioneller Fertigkeiten; und das Risiko des Ausschlusses aus den Zusammenhängen der Gesellschaft insgesamt.
Den üblichen Reflex in den traditionelleren Wohlfahrtsstaaten beschreibt Maurizio Ferrara so: „Rückgriff auf kompensatorische Maßnahmen, die darauf abzielen, den Schaden für die betroffenen Menschen oder Gruppen zu verringern, nachdem dieser bereits eingetreten ist.“ Erst wenn ein unerwünschtes Ergebnis vorliegt, wird das soziale Sicherheitsnetz aktiviert. Zu den Maßnahmen dabei gehören Transferzahlungen, Umschulungen, Lohnsubventionen für benachteiligte Arbeitnehmer sowie Instrumente zur Bekämpfung von Exklusion. Solche Maßnahmen federn die Folgen von Armut und Arbeitslosigkeit jedoch bestenfalls ab, statt die Risiken von vornherein zu antizipieren, die Menschen in solche Lagen bringen.
Lebenschancen statt bloßer Kompensation im Schadensfall
Notwendig sind daher proaktive, präventive und vorsorgende Strategien, die sich auf die schwächsten Gruppen konzentrieren, etwa auf Frauen, junge Familien und Kinder. Solche Systeme müssen aus der Sackgasse der „fürsorglichen Nachsorge“ herausführen. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat sollte sich darauf konzentrieren, Lebenschancen zu schaffen, statt Kompensation anzubieten, nachdem das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Das erfordert die Verschiebung der Aufmerksamkeit von alten zu neuen sozialen Risiken sowie die gerechtere Verteilung von sozialen Schutzvorkehrungen, als sie die europäischen Sozialstaaten bislang zugelassen haben. Der neue Wohlfahrtsstaat muss die Anforderungen der Effizienz und der wirtschaftlichen Modernisierung in Einklang bringen mit den Erfordernissen der Verteilungsgerechtigkeit und der Chancengleichheit für alle.
Wie gut sind unter diesem Gesichtspunkt die europäischen Wohlfahrtsstaaten? Wolfgang Merkel hat das Niveau der sozialen Gerechtigkeit für eine Anzahl von OECD-Staaten anhand von fünf besonders wichtigen Indikatoren untersucht: Armut, Bildung, Beschäftigung, Sozialstaat und Einkommensverteilung. Es überrascht nicht, dass die vier skandinavischen Wohlfahrtsstaaten mit Blick auf die soziale Gerechtigkeit am besten abschneiden. Die kontinentaleuropäischen Staaten liegen in der Mitte. Deutschland beispielsweise schneidet hinsichtlich der – für die individuellen Lebenschancen entscheidenden – sozialen Investitionen schlecht ab. Dies schadet zugleich der Gleichheit unter den Generationen und Deutschlands langfristigen wirtschaftlichen Aussichten. Ebenfalls beeinträchtigt die Struktur des deutschen Sozialstaats massiv Fortschritte auf dem Gebiet der Geschlechtergerechtigkeit. Was Wolfgang Merkel die konservative Orientierung des bismarckschen Sozialversicherungsstaates nennt, dient nicht dazu, Gerechtigkeit zu ermöglichen und Chancen der Aufwärtsmobilität zu eröffnen, besonders nicht für Frauen, Junge und Arbeitslose.
Oft übersehen wird das britische „anglo-soziale“ Modell, das jedoch bemerkenswerte Stärken besitzt. Seit Labour 1997 die Regierung übernahm sind verschiedene Maßnahmen am Arbeitsmarkt eingeführt worden, die die britische Erwerbsquote auf 78 Prozent gesteigert haben – gegenüber durchschnittlich 70,3 Prozent in der EU. Mehr als zwei Millionen Menschen zusätzlich haben Arbeit gefunden, die Arbeitslosigkeit liegt so niedrig wie nie zuvor in den vergangenen drei Jahrzehnten. Die Instrumente zur Steigerung der Beschäftigung umfassen konditionierte Sozialleistungen, zusätzliche Kinderbetreuungsplätze und Maßnahmen für mehr Flexibilität und Teilzeitarbeit, was die weibliche Erwerbsbeteiligung deutlich gesteigert hat.
Auch im Kampf gegen die Armut im Allgemeinen hat Großbritannien deutliche Fortschritte gemacht. Die Zahl der Menschen, denen die Mittel fehlen, ihre Wohnungen zu heizen, hat sich halbiert. Die Säuglingssterblichkeit liegt niedriger denn je. In wichtigen Punkten hat sich Großbritannien vom amerikanischen Modell gelöst. Der britische Wohlfahrtsstaat kombiniert wirtschaftliche Dynamik und hohe Erwerbsbeteiligung mit steuerfinanzierten öffentlichen Dienstleistungen und aktiver Sozialpolitik. Der Welfare-to-work-Ansatz der Labour-Regierung beispielsweise ist eher von Skandinavien als von den Vereinigten Staaten beeinflusst. Durch kompetente Wirtschaftspolitik wird so das Fundament für eine deutlich gerechtere Gesellschaft gelegt.
Neue Parallelwelten am oberen Ende der Gesellschaft
Einige bedeutende Probleme bleiben jedoch bestehen. Der Sockel wirtschaftlicher Inaktivität in Großbritannien ist noch immer hoch. Über sieben Millionen Menschen partizipieren nicht am Arbeitsmarkt. 1997 gab es in jedem fünften Haushalt (20,1 Prozent) keine erwerbstätige Person; bis 2003 fiel diese Rate nur geringfügig auf 17 Prozent. Auch Kinderarmut bleibt ein tief sitzendes Problem der britischen Gesellschaft. Sehr viele trotz Erwerbsarbeit Arme (working poor) sind auf negative Steuern (tax credits) angewiesen, um Einkommen zu erzielen, von denen sie leben können. In gewisser Hinsicht hat Großbritannien seit 1997 Gleichheit und Gerechtigkeit hintangestellt, um Wachstum zu erzielen. Auch sozialräumlich betrachtet ist die Lücke zwischen den ärmsten Vierteln und den übrigen Gebieten gewachsen.
Zugleich entstehen bedeutsame neue Parallelwelten am oberen Ende der Gesellschaft, Teile der Mittelschichten schließen sich von den öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystemen aus. Beispielsweise besuchen mehr als eine halbe Million Kinder private und unabhängige Schulen außerhalb des staatlichen Systems; mehr als ein Fünftel der Schüler in London besucht Privatschulen. Auf den Zusammenhalt der Gesellschaft wirkt sich dies schädlich aus. Der Philosoph Michael Sandel schreibt: „Die neue Ungleichheit hindert nicht nur die Armen daran, an den Früchten des Konsums teilzuhaben und ihre Ziele selbst zu wählen; sie bringt Reiche und Arme auch dazu, zunehmend separat voneinander zu leben. Dies alles zerstört die Idee der Bürgerschaft.“
Die Herausforderungen für die kontinentalen Wohlfahrtsstaaten sind ganz anders gelagert. Ihre Schwierigkeiten liegen nicht so sehr in verbreiteter Armut und fehlenden Fertigkeiten, sondern in der chronischen Unfähigkeit, steigende Erwerbstätigkeit zustande zu bringen. Die wesentliche politische Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit hat bis jetzt darin bestanden, Menschen zum Ausstieg aus der Erwerbsbevölkerung zu bewegen, was jedoch zu einem noch ungünstigeren Verhältnis von Arbeitenden zu nicht Arbeitenden führt.
Zum einen leiden die kontinentalen Sozialstaaten an Finanzierungsformen, die unmöglich aufrechtzuerhalten sein werden, weil sie die Staatshaushalte überfordern und zu höherer Arbeitslosigkeit führen. Zum anderen bestehen in diesen Ländern scheinbar unlösbare Insider-Outsider-Trennlinien. Maurizio Ferrera zufolge sind diese Systeme „in hohem Maße charakterisiert durch das Syndrom der Segmentierung ihrer Arbeitsmärkte ... es gibt übermäßige Versicherungsvorteile für Erwerbstätige auf ‚garantierten‘ Arbeitsplätzen, die geradezu Eigentümer ihrer Jobs sind; andererseits fehlt es an angemessenem Schutz für jene, die in den schwächeren und randständigeren Sektoren beschäftigt sind.“
Hohe Anteile unbefristeter Erwerbstätigkeit behindern zugleich die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Das Haupthindernis für mehr Jobs im privaten Sektor liegt im bestehenden hohen Gehaltsniveau. Zugleich fehlt es dem öffentlichen Sektor an Mitteln, neue Beschäftigung zu schaffen, weil der Staat außerordentlich große wirtschaftlich inaktive Bevölkerungsgruppen finanzieren muss. Nach Gøsta Esping-Andersens Einschätzung „kommen die kontinentalen westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten in Konflikt mit den Erfordernissen der entstehenden postindustriellen Ökonomie“.
Anders steht das sozialdemokratische Modell der skandinavischen Staaten da. Diesen Ländern scheint die schwierige Kombination von sozialer Gleichheit und ökonomischer Effizienz gelungen zu sein. Es handelt sich um kleine, offene Volkswirtschaften, die in hohem Maße von wettbewerbsfähigen Exporten abhängen. Besonders Schweden wird immer wieder als paradigmatisches Beispiel einer zeitgemäßen sozialen Demokratie genannt. Hier sorgt der hohe Anteil von Doppelverdienerhaushalten für geringe Kinderarmut. Ebenfalls erfolgreich sind die skandinavischen Methoden der Aktivierung auf dem Arbeitsmarkt. Die nordischen Staaten haben ihre Sozialsysteme durch fein abgestimmte Anreize verbessert. Sie haben Teilzeitarbeit und Produktmärkte liberalisiert. Und sie haben ihre Investitionen in zukünftiges Wachstum beträchtlich ausgeweitet: Hinsichtlich ihrer Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, für Bildung sowie für Innovation auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologien haben die Skandinavier ihre größeren europäischen Nachbarn klar überholt.
Wenn es der Sozialdemokratie gelingen soll, intellektuell und politisch in Europa wieder Fuß zu fassen, dann müssen sowohl ihre fundamentalen Grundsätze als auch die politischen Instrumente, mit denen sie ihre Ziele verfolgt, gründlich überprüft werden. Dabei muss der moderne Wohlfahrtsstaat so eingerichtet sein, dass er sozialen Schutz in einer Welt des Wandels und der Unsicherheit bieten kann. Dazu gehört mehr als nur die Schaffung zusätzlicher Einrichtungen für lebenslanges Lernen. Flexibilität am Arbeitsmarkt und ein stärker pro-aktiv ausgerichtetes Bildungssystem schaffen allein noch keinen angemessenen Schutz in der weltweit im Wettbewerb stehenden Wirtschaft. In vielen Ländern und Sektoren entstehen neue und sichere Jobs nicht schnell genug, um diejenigen aufzunehmen, die in Landwirtschaft, Industrie oder Handwerk ihre Arbeit verlieren. Zudem erfordern moderne Arbeitsplätze typischerweise moderne Qualifikationen, die viele Beschäftigte in traditionellen Berufen nicht besitzen.
Nicht weniger Wohlfahrtsstaat, sondern mehr – aber deutlich anders
Zwar ist das langfristige Ziel einer wissensintensiven Wirtschaft in hohem Maße erstrebenswert; schließlich würden so viele der Konflikte und Probleme gelöst, die dem Wohlfahrtsstaat seit den siebziger Jahren zu schaffen machen. Aber dieses Endziel zu erreichen ist schwierig. Nur eine Minderheit der Bevölkerung ist damit beschäftigt, international gehandelte Güter und Dienstleistungen zu schaffen. Zugleich erfordert internationale Wettbewerbsfähigkeit steigende Produktivität – zur Herstellung eines bestimmten Gutes sind immer weniger Arbeitskräfte nötig. Mit anderen Worten: Strategien zugunsten höherer Qualifikation schaffen nicht unbedingt mehr Arbeitsplätze.
Heute braucht die EU nicht weniger Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern mehr – freilich eine andere als zuvor. Zugleich jedoch schafft die Formulierung einer neuen Sozialpolitik sehr handfeste Spannungen. Möglicherweise reicht das Wirtschaftswachstum in Europa nicht aus, um einen aktiven Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Eine Aktivierungspolitik, die oft jenen gelten muss, die am schwierigsten zu erreichen sind, ist notwendigerweise teuer. Hinzu kommt: Die gesellschaftliche Koalition, die einen universellen Wohlfahrtsstaat unterstützt, ist brüchig. Bestimmte politische Instrumente sind heute weniger brauchbar als in den sechziger und siebziger Jahren. Daraus folgt nicht, dass traditionelle sozialdemokratische Werte über Bord geworfen werden müssen, wohl aber, dass sie neu zu interpretieren sind. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat ist das Ideal der Linken – unberührbar darf er jedoch nicht sein. Überwunden werden müssen die psychologischen Barrieren gegen den Revisionismus.
Die Geschwindigkeit des Wandels in Europa bedeutet auch, dass sich die Aufmerksamkeit innerhalb der nächsten 15 Jahre völlig neuen Problemen zuwenden wird, die Sozialdemokraten heute noch kaum wahrnehmen. Die soziale Immobilität von Menschen in gering bezahlten und niedrig qualifizierten Dienstleistungsjobs wird sich verstärken. In der EU steigt der Anteil der Haushalte ganz ohne erwerbstätige Mitglieder. Gleichzeitig wird der Zusammenhang zwischen schlechter Gesundheit und sozialer Exklusion immer deutlicher erkennbar. Auch die multiplen Nachteile, die Mitglieder ethnischer Minoritäten in Europa erleiden, geraten klarer in den Fokus; hier sind Kontroversen über Fragen der Kultur und Familienstruktur unausweichlich.
Stillstand bedeutet sicheres Scheitern
Die Probleme, vor denen die Politik steht, befinden sich in schnellem Umbruch; das Gesamtbild ist heute komplexer, als es noch vor einem Jahrzehnt wahrgenommen wurde. Es umfasst zunehmend Fragen des individuellen Verhaltens und der Kultur ebenso wie wirtschaftliche Gesichtspunkte. Als Folge der notwendigen Neuinterpretation von Gerechtigkeit und Gleichheit muss der europäische Wohlfahrtsstaat neue Ziele anpeilen. Genau darum geht es bei der doppelten konzeptionellen Verschiebung, die dieser Aufsatz beschrieben hat.
Die europäischen Sozialdemokraten des späten 19. Jahrhunderts waren ebenso mutig wie radikal darin, im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung die traditionellen Werte der Gemeinschaft und Gerechtigkeit, der Solidarität und Sicherheit neu zu definieren. Ihre Bereitschaft, kühn und innovativ zu sein, hat den europäischen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts ermöglicht. Die Aufgabe für das 21. Jahrhunderts besteht darin, genauso ambitioniert auf die doppelte Herausforderung von Globalisierung und postindustrieller Wirtschaft zu reagieren. Dazu bedarf es eines neuen Revisionismus – einer an Werten und Lebenschancen orientierten erneuerten Konzeption von Sozialdemokratie und Wohlfahrtsstaat.
Für Optimismus bleibt genug Grund. Politische Reformen, ethische Visionen, ökonomische Ideen und Sozialpolitik müssen – Kern jedes Revisionismus – sorgfältig neu miteinander verwoben werden, wenn soziale Demokratie und Wohlfahrtsstaat erneuert werden sollen. Aber wie Donald Sassoon zu Recht festgestellt hat: „Voranzuschreiten verschafft keine Erfolgsgarantie. Aber stillzustehen bedeutet sicheres Scheitern.“
Aus dem Englischen von Tobias Dürr