Welche Ziele? Welche Mittel?
Anfang März, bei seinem Besuch in Delhi, verblüffte der amerikanische Präsident George W. Bush nicht nur einen Großteil der internationalen Gemeinschaft, sondern auch viele in Washington. Er unterzeichnete ein amerikanisch-indisches Sicherheitsabkommen, das in seiner Tragweite unterschätzt wird. Durch die faktische Annerkennung Indiens als Atommacht im – angesichts des Iran-Streits – denkbar unangebrachtesten Moment hob Bush die Partnerschaft mit der weltgrößten Demokratie auf eine andere Stufe, besonders hinsichtlich des daraus resultierenden Zugangs zu amerikanischer Nukleartechnologie, den Indien nun genießen kann. Trotz erheblicher Bedenken der Opposition verteidigt das Weiße Haus diesen strategischen Zug seither vehement. Laut Richard Boucher, Abteilungsleiter im amerikanischen Außenministerium, wird die Zusammenarbeit mit Indien weit über den militärisch-strategischen Bereich hinausgehen und auch sensible Bereiche der Wirtschaft sowie der kon- ventionellen Verteidigung umfassen. Die Logik dahinter lieferte Boucher gleich mit: Langfristige Überlegungen bedürften manchmal kurz- und mittelfristige Einbußen oder Risiken. Tony Blair und Jacques Chirac haben das Abkommen sodann auch umgehend begrüßt.
Ebenfalls Anfang März verblüffte die SPD-Fraktion im Europaparlament sicherlich nicht die internationale Gemeinschaft, aber vielleicht einige Beobachter der europäischen Innen- und Außenpolitik. Konträr zu Gerhard Schröders Position erklärte sie es zu ihrem Ziel, die EU-Erweiterungspolitik drastisch zu verlangsamen und auf keinen Fall vordergründig unter „geostrategischen Überlegungen“ zu betreiben. Stattdessen solle die Erweiterung hauptsächlich von der „Aufnahmefähigkeit“ der Union abhängig gemacht werden. Die Verhandlungen mit der Türkei und Kroatien müssten „ergebnisoffen“ bleiben. Die europäischen Perspektiven für die restlichen Balkanstaaten seien mit beträchtlichen Hürden zu versehen. Und neue Beitrittsperspektiven, zum Beispiel für die Ukraine oder Moldawien, könnten deshalb in der politisch überschaubaren Zukunft nicht eröffnet werden. Am Erstaunlichsten aber ist, dass nach Meinung der SPD-MdEPs die „Aufnahmefähigkeit“ der EU auch explizit davon abhängt, wie sich Frankreich in seinen jeweiligen Referenden über die Aufnahme weiterer Mitglieder entscheidet. Zurück bleibt das Gefühl, dass die sozialdemokratischen Europaparlamentarier eine eigenständige Europapolitik und -vision aufgegeben haben. Es ist die Kapitulation der Außenpolitik vor vermeintlich innenpolitischen Zwängen.
Auch der Unilateralismus geht vorüber
Amerikanische Geopolitik hier, sozialdemokratischer Rückzug dort. Obwohl nicht direkt vergleichbar, berührt beides im Kern das gleiche Problem: Inwieweit kann und soll perspektivisches Denken und strategisches Handeln die Außenpolitik bestimmen? Dies vor allem vor dem Hintergrund einer Szenerie, in der sich innen- und außenpolitische Aspekte immer stärker verflechten und sich internationale Machtverhältnisse mit hoher Geschwindigkeit verändern.
Dem Ende der Bipolarität durch den Fall des Eisernen Vorhangs folgte eine Phase des amerikanischen Unilateralismus, der jedoch nur von transitorischer Dauer sein wird, wahrscheinlich kürzer, als wir alle erwarten. Der kometenhafte Aufstieg Chinas sowie Indiens und das Aufrüsten oder regionale Erstarken Pakistans, Brasiliens und Irans sind nur der Anfang. Andere Länder werden bald nachziehen und somit den Vorstellungen von Frankreichs Präsident Chirac – und auch Deutschlands? – entsprechen: Auf mittlere Sicht scheint an einer multipolaren Weltordnung kein Weg vorbeizuführen. Welche Konsequenzen wird dies haben? Unter welchen Maximen sollen die außenpolitischen Ziele Deutschlands in dieser unübersichtlichen Welt definiert werden?
Was ist unser „nationales Interesse“?
Die Debatte um den Kongo-Einsatz der Bundeswehr hat diese Unsicherheiten deutlich zum Vorschein gebracht. Gerade einmal 1.500 Soldaten erbaten die sonst so hoch gelobten Vereinten Nationen von der Europäischen Union, 500 davon sollen aus Deutschland kommen. Schnell überwogen kritische Töne. Peter Ramsauer von der CSU bemängelt, es sei unklar, „worin das besondere deutsche Interesse liegen soll“. Bernhard Gertz, Vorsitzender des Bundeswehrverbandes, erkennt „kein Konzept und keine klare politische Zielsetzung“. Die FDP-Politikerin Birgit Homberger spricht von „Pseudoaktivität und letztlich unverantwortlicher Politik“. Und Zeit-Redakteur Robert Leicht beklagt, dass die „Zweck-Mittel-Relation“ nicht gewährleistet ist: „Statt präzise definierter Ziele werden vielmehr äußerst vage umschriebene ‚Interessen‘ in konfuser Bündelung beschworen – ‚strategische, humanitäre, wirtschaftliche‘ zum Beispiel.“ Leichts Fazit: „Wer so viele unbestimmte Interessen hat, hat kein richtiges!“ Lässt man die Kritik am Entscheidungsprozess oder an fehlenden Informationen beiseite, dreht sich die gesamte Diskussion tatsächlich vor allem um eine Frage: Was kann im 21. Jahrhundert eigentlich noch als „nationales Interesse“ propagiert werden?
Der Begriff des „nationalen Interesses“ gilt gemeinhin als Bezugspunkt in der realistischen Denktradition in den internationalen Beziehungen. Laut Politiklexikon umfasst er „die Gesamtheit der Interessen, die ein Nationalstaat in den Internationalen Beziehungen mit Hilfe einer kohärenten Außenpolitik realisieren will“. Dass Deutschlands Interessen mittlerweile in einem europäischen Kontext gesehen werden müssen, relativiert den Begriff mitnichten. Zu beachten ist nur, dass die nationale Optik „nationale Interessen“ eher verletzt, weil „nationale Interessen“ im europäischen Zusammenspiel besser verwirklicht werden können (Ulrich Beck). Der Koordinator für deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, Karsten D. Voigt, hat die vier zentralen Interessen Deutschlands wie folgt beschrieben: Erstens die Integration Europas und damit qua Vertiefung und Erweiterung die Schaffung eines sicherheitspolitisch stabilen Umfeldes. Zweitens die Anpassung der transatlantischen Beziehungen. Drittens die Sicherung des außereuropäischen Umfeldes. Und viertens die Bewältigung globaler Aufgaben wie die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen oder die Bekämpfung von HIV/AIDS. Des Weiteren gelten eine Stärkung der Vereinten Nationen, des Multilateralismus sowie der internationalen Rechtsprechung als gemeinhin anerkannte Primärziele deutscher Außenpolitik.
Verlust der Staatsräson?
Doch 15 Jahre nach der Wiedervereinigung scheint es immer schwieriger zu werden, diese Ziele auch auszuformulieren, weiterzuentwickeln und in Verbindung mit der europäischen Integration adäquat zu verwirklichen. Wenn im ausgehenden 20. Jahrhundert das deutsche Konsensdenken in außenpolitischen Fragen nicht wirklich herausgefordert wurde, so beendete spätestens die rot-grüne Ära diesen Zustand. August Pradetto formuliert es treffend: „Während die einen zum Beispiel bei Schröder eine ‚Relativierung des Integrationswillens‘ bei der Definition deutscher Interessen zu erkennen glaubten, sahen andere das genaue Gegenteil – die Demission des Denkens in nationalstaatlichen und nationalen Machtkategorien, den ‚Verlust der Staatsräson‘ und eine zunehmende Subordination unter suprastaatliche Strukturen. Wieder andere feierten Schröders und Fischers Außenpolitik als ‚Rückkehr auf die Weltbühne‘, während sich andere über ‚die weltpolitischen Ambitionen einer absteigenden Macht‘ lustig machten.“ Handelt es sich hierbei nur um parteipolitische Interpretationen und um eine Auseinandersetzung wissenschaftstheoretischer Sichtweisen („Institutionalisten“ versus „Realisten“)? Oder haben sich im Laufe der vergangenen Jahre doch so etwas wie Interessengegensätze und unterschiedliche Konzeptionen herausgebildet?
Der Kampf der Kulturen findet nicht statt
Fest steht: Die Weltordnung in ihrem Wandel wird den außenpolitischen „Mainstream“ immer öfter mit Problemfällen konfrontieren, die das Zusammenspiel zwischen Werte- und Interessenpolitik erschweren dürften. Freund und Feind sind nicht mehr so leicht zu unterscheiden und von Fukuyamas End of History sind wir meilenweit entfernt. Auch Samuel Huntingtons berühmte These des Clash of Civilizations besitzt trotz ihrer Hochkonjunktur in Zeiten des Karikaturenstreits keine Gültigkeit mehr. Weder lassen sich eindeutig strategische Linien entlang von Religionen und Kulturen ausmachen, noch gibt es historische oder gegenwärtige Belege für eine langanhaltende Konfrontation in diesem Sinne. So wenig wie die islamische Welt eine Einheit bildet, so wenig trifft dies auf die westlich-christliche oder russisch-orthodoxe zu, um nur einige Beispiele zu nennen. Nein, die Weltordnung des 21. Jahrhunderts wird wesentlich unübersichtlicher sein, dynamischer und auch gefährlicher. Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, auch asymmetrischer Konflikt genannt, wird fortdauern und nur durch ein rigoroses, gemeinsames Vorgehen der internationalen Gemeinschaft halbwegs zu kontrollieren sein. Die Weiterverbreitung von atomaren und biochemischen Waffen fällt ebenfalls in diesen Bereich und verlangt ein konzertiertes Handeln jenseits von Prinzipienschwäche und Doppelmoral.
Handfeste Konflikte am Kaspischen Meer
Weitaus weniger beleuchtet werden diejenigen Streitpotenziale, die momentan keinen ernsthaften Anlass zur Sorge zu geben scheinen. An vorderster Stelle steht der Wettlauf um die energietragenden Ressourcen. Sollten sich Chinas und Indiens Öl- und Gasverbrauch auch in den kommenden Jahren exponentiell vergrößern, wird es womöglich zu Engpässen kommen und eventuell auch zu daraus resultierenden handfesten Interessenkonflikten. Am Kaspischen Meer, wo riesige Kapazitäten vermutet werden, kann man dies seit Jahren bestens beobachten. Russland, die Vereinigten Staaten, China und der Iran haben sich bereits in Stellung gebracht, nur die EU reagierte bisher zögerlich.
Des Weiteren prophezeien nicht wenige schon heute, dass die Ressource Wasser in der Zukunft von strategischer Bedeutung sein wird, wobei der Mittlere Osten im Mittelpunkt des Interesses und gleichzeitig auch des Spannungsverhältnisses steht. Neue und zweckgebundene Allianzen zwischen bis dato verfeindeten oder entfremdeten Staaten könnten die Folge sein, lang anhaltende Freundschaften und Bündnisse dagegen der Vergangenheit angehören. Wird Saudi-Arabien dem Westen weiterhin freundlich gesonnen sein? Bleibt Russland ein verlässlicher Partner, falls die wirtschaftliche Balance sich endgültig zugunsten Asiens entwickelt? Der Politologe Frank Umbach und andere sprechen schon von „Europas nächstem Kalten Krieg“ und nehmen Bezug auf Moskaus „neuen Energie-Imperialismus“ und Westeuropas Abhängigkeit von Energieimporten. Die Konsequenz könnten ein „globales Nullsummenspiel um Zugriffsrechte auf Erdöl- und Erdgasfelder und ein ‚Great Game‘ um Pipelines [sein], das keineswegs auf Zentralasien beschränkt ist, sondern – wie der russisch-ukrainische Gasstreit zeigt – auch in Europa stattfindet“.
Kurzum: Das Klima in der Welt scheint eher rauer als harmonischer zu werden. Selbst die vor kurzem aufgelöste UN-Menschenrechtskommission, in der Prinzipien immer häufiger durch Realpolitik überlagert wurden, blieb davon nicht verschont. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen es einer grundlegenden Revision der deutschen Außenpolitik bedarf, sind die alten Interpretationen weltpolitischer Anschauungen ermattet. Mehr noch: Die Bereitschaft, überhaupt in Zusammenhängen und Perspektiven zu denken, ist geschwunden. Wollen wir die Primärziele, die selbstverständlich weiterhin ihre Gültigkeit haben, irgendwie behaupten oder erreichen, müssen wir wieder verstärkt darauf zurückgreifen, Sekundärziele in strategische Konzeptionen einzubinden.
Der Begriff „Strategie“ bezieht sich in diesem Sinne auf die Mittel, die von politischen Entscheidungsträgern gewählt werden, um ihr klar definiertes Ziel zu erreichen. Strategisches Handeln setzt deshalb voraus, dass alle verfügbaren Instrumente, politischen Möglichkeiten und Ressourcen auch tatsächlich verwendet werden. Zu Recht schreibt der Politikwissenschaftler Christian Hacke: „Ziele und Mittel der Politik müssen für sich, aber auch in Relation zueinander deutlich ausformuliert werden. Nur dann wächst das Verständnis der eigenen Bevölkerung für die außenpolitischen Interessen, so dass schließlich eine außenpolitische Kultur in Deutschland entstehen könnte, die den veränderten Interessen entspricht und eine dem angemessene innenpolitische Diskussion mit sich bringt.“
Was muss Deutschland also tun, um den Mulltilateralismus, die Vereinten Nationen, die europäische Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), das geopolitische Gewicht der EU, ihr sicherheitspolitisches Umfeld sowie eine nachhaltige Energiepolitik zu stärken? Gibt es nicht vielleicht doch eine gewisse Korrelation zwischen Zielen und Anliegen wie dem Einsatz der Bundeswehr im Kongo oder der Erweiterung der EU? Im Hinblick auf Auslandseinsätze wäre es sicherlich gut, wenn Politiker wieder zunehmend in politisch-strategischen Kategorien denken würden, wo es darum geht, Soldaten in die Ferne zu schicken.
Kein Konsens mehr, nirgends
In Bezug auf die Erweiterung der EU scheinen die Trennlinien noch viel größer zu sein. Beispielsweise verlangte CSU-Chef Edmund Stoiber kürzlich nach einer Sitzung des Ministerrates in Brüssel von der Europäischen Union, ihre Beschlüsse zu Beitrittswünschen der Länder des westlichen Balkan zu revidieren. Auch die Aufnahme der Türkei in die EU könne „nicht mehr in Frage“ kommen. Dagegen legten der SPD-Verteidigungspolitiker Hans-Peter Bartels und seine Mitautoren in der Berliner Republik (2/2006) überzeugend dar, dass „weder auf den Erweiterungsprozess verzichtet werden kann, noch auf den Fortschritt bei der Integration. Eines geht nicht ohne das andere“. Darüber hinaus sei „eine Union mit über 30 Mitgliedern nicht nur denkbar, sondern auch wünschenswert“. Angesichts ihrer wirtschaftlichen Bedeutung müsse sich die EU ihrer Verantwortung für die globale Sicherheit stellen: „Sie kann und muss ihren Beitrag zum Aufbau einer freieren und sicheren Welt leisten.“
Die kontroverse Diskussion um die Gestalt einer zukünftigen EU ist nur ein Beispiel von vielen. Es geht hier nicht um ein Wetteifern Weberscher Idealtypen – christliche, europäische EU auf der einen; multikulturelle, geostrategische EU auf der anderen Seite – sondern darum, wie Deutschlands und Europas Ziele im 21. Jahrhundert am Besten umgesetzt werden können. Vom außenpolitischen Konsens der neunziger Jahre bleibt dabei nicht mehr viel übrig.
Idealistische Ziele, realistische Mittel
Interessanterweise verlaufen die Gräben aber nur teilweise nach parteipolitischer Färbung. Idealisten und Realisten, Isolationisten und Multilateralisten, Pragmatiker und Ideologen sind überall anzutreffen. Für den Erfolg der Außen- und Sicherheitspolitik entscheidend bleibt letztlich die Kohärenz der jeweiligen Konzeptionen. Oder, wie es jüngst Josef Joffe in der Zeit ausdrückte: „Werte- und Interessenpolitik sind keine unversöhnlichen Feinde. Die richtige Mischung muss bloß so angelegt sein, dass sie die kurzen Zyklen demokratischer Innenpolitik überdauert.“ Die Verschiebung der Machtverhältnisse und das raue Klima einer multipolaren Weltordnung verlangen also nach durchdachten Antworten. In der amerikanischen Nationalen Sicherheits-Strategie (NSS) von 2006 heißt es dazu: „Unsere NSS hat idealistische Ziele, die wir mit realistischen Mitteln verfolgen“. Dieser plakative Satz könnte sicherlich auch in einer deutschen Sicherheitsstrategie stehen. Nun gilt es, diese Ziele und Mittel auch perspektivisch aus deutsch-europäischer Sicht zu formulieren und verfolgen. Vor inter- und intraparteipolitischen Auseinandersetzungen wird die Debatte dabei nicht haltmachen.