Welt voller Warnzeichen
Der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer und seine Mitstreiter haben Verdienstvolles geleistet. Seit 2002 sind sie im Rahmen ihrer Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ Jahr für Jahr den Einstellungen der Menschen im Land auf den Grund gegangen. Jährlich erschien ein neuer Band mit aktuellen empirischen Ergebnissen sowie ergänzenden Analysen, Essays und Reportagen. Als zentrale Kategorie diente die „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Heitmeyer und seine Leute wollten ermitteln, wie sehr in den Köpfen und Herzen der Deutschen der Drang zur Abwertung von Andersartigen ausgeprägt ist und wie sich das Ausmaß der Menschenfeindlichkeit im Zeitverlauf verändert. Dass sie dabei furchtlos in Abgründe blickten und ihre unbequemen Erkenntnisse immer wieder unerschrocken an die Öffentlichkeit trugen, hat die Selbsterkenntnis unserer Gesellschaft vermehrt.
Jetzt ist der zehnte und abschließende Band erschienen, und die Mitarbeiter des Vorhabens können auch quantitativ auf Beachtliches zurückblicken: 23.000 Menschen haben sie befragt, 150 Aufsätze geschrieben, 400 Vorträge gehalten. Zu Recht verweist Heitmeyer darauf, dass die entscheidenden Begriffe der Langzeitstudie – und damit auch ihre normativen Anliegen – in den Diskursen der vergangenen Jahre durchaus ihren Platz gefunden haben.
Das gilt nicht unbedingt für den auch nach zehn Jahren noch sperrigen Terminus von der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (der auch in der von den Autoren bevorzugten Variante „GMF“ nicht wirklich volkstümlicher wird). Aber es gilt für Heitmeyers Kategorie der „sozialen Desintegration“. Und es gilt allemal für das lobenswerte Grundanliegen des Projektes, nimmermüde darauf zu insistieren, „dass die Gleichwertigkeit aller Menschen und die Sicherung ihrer physischen und psychischen Unversehrtheit zu den zentralen Werten einer modernen und humanen Gesellschaft gehören“, ja dass sich die Humanität einer Gesellschaft gerade daran bemisst, in welchem Maße in ihr das Prinzip der Gleichwertigkeit gelebt wird. Daraus ergibt sich umgekehrt, dass es grundschlecht ist, wenn sich Gruppen gegenseitig abwerten, ausgrenzen und verachten, wenn die einen ihr kollektives Selbstwertgefühl daraus zu beziehen trachten, dass sie andere geringschätzen und diskriminieren.
Armselig, widerwärtig und roh
Nein, eine Gesellschaft, durch die der fiese Geist der Feindseligkeit wabert, ist keine gute und lebenswerte. Wo man Ausländer, Asylbewerber, Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Muslime, Juden, Schwule und Lesben, Sinti und Roma, Behinderte oder welche Gruppen auch immer verächtlich macht, da legt sich ein übles Miasma über das Land. Und wo man den Wert eines Menschen zuallererst anhand seines ökonomischen Nutzens bemisst, da verdirbt über kurz oder lang das gesamte Gemeinwesen, da wird das Leben aller armselig, widerwärtig und roh. Deshalb schreibt Heitmeyer: „Eine auf längere Sicht zerstörerische Entwicklung sowohl für Individuen als auch für eine liberale und humane Gesellschaft ist dann gegeben, wenn sich menschenfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen zeigen oder gar ausweiten.“ Welcher anständige und aufgeklärte Bürger würde widersprechen? Andererseits: Wie viele Bürger stellen sich schon ständig die Frage, was langfristig und subkutan schief läuft im Land? Eben deshalb war es hilfreich, dass Heitmeyer ein volles Jahrzehnt lang verlässlich zur Stelle war, um vor Tendenzen der Desintegration, der Entsolidarisierung, der Menschenfeindlichkeit, der Anomie, der „rohen Bürgerlichkeit“ oder der Demokratieentleerung zu warnen.
Nicht allen hat das gefallen. Einige empfanden Heitmeyers alljährliches Mahnen als etwas fade Endlosschleife oder sogar nervige Nestbeschmutzung. In der Politik, berichtet er, sei die Bereitschaft, ihm zuzuhören, sehr asymmetrisch verteilt gewesen: „Unter der rot-grünen Regierung war dies durchaus der Fall, in dieser Phase stießen unsere Befunde auf eine gewisse Resonanz. Das derzeit regierende CDU-FDP-Milieu zeigt, keine große Überraschung, keinerlei Interesse.“
Besonders verblüffend ist das in der Tat nicht. Oder vielleicht doch? Immerhin zählt zum Erbe der CDU auch die katholische Soziallehre. Und die nun auf Grund laufende FDP hätte sich, als sie noch manövrierfähig war, jederzeit auf sozialliberale Ideenvorräte besinnen können, wie sie reichhaltig vor allem im Werk von Ralf Dahrendorf zu finden sind. In seinem gedankenreichen Kapitel „Das Soziale und der Zeitgeist“ erinnert der Journalist Gunter Hofmann daran, dass Dahrendorf bereits 1997 prognostizierte, die Aufgabe, kapitalistische Ökonomie, soziale Integration und Demokratie miteinander in Einklang zu halten, werde sich im Zeitalter der Globalisierung als „Quadratur des Kreises“ erweisen.
„Na klar gibt es Klassenkampf!“
So ist es gekommen. Dass sie schlicht nicht auf der Höhe dieser Herausforderung sind (zu denen zweifellos ökologische Nachhaltigkeit hinzuzufügen ist), muss man den gegenwärtig Regierenden tatsächlich zum Vorwurf machen. Aber so ist das. Jede Zeit hat ihren dominanten Zeitgeist, der das Denken und Handeln der Mehrheit vorformatiert. Und das Signum der vergangenen Jahrzehnte war nun einmal ein in sämtliche Lebenssphären eindringender Ökonomismus. Unbestreitbar haben wir weltweit auch eine Art Klassenkampf von oben erlebt. („Na klar gibt es Klassenkampf“, sagt der Multimilliardär Warren Buffett. „Aber es ist meine Klasse, die reiche Klasse, die ihn führt. Und wir gewinnen.“) Das hat die Ungleichheit vergrößert und die Polarisierung zwischen Armen und Reichen vorangetrieben. Um die Versöhnung von kapitalistischer Ökonomie, sozialer Integration, Demokratie und ökologischer Nachhaltigkeit ist es überhaupt nicht gut bestellt.
Dass sich das ändern muss, begreifen immer mehr Menschen. Die weltweite Occupy-Bewegung ist dafür ein Indiz. Nicht weniger, dass selbst die CDU inzwischen für Finanztransaktionssteuer und Mindestlöhne eintritt. Ebenso, dass einflussreiche konservative Publizisten inzwischen die Frage stellen: „Hat die Linke nicht am Ende recht?“ Und wenn mittlerweile die FDP demoskopisch kaum noch messbar ist, dann hat auch das etwas zu bedeuten. Dies alles deutet nämlich darauf hin, dass gerade ein besserer Zeitgeist heraufzieht – oder doch jedenfalls heraufziehen könnte, wenn alle, die vom dysfunktionalen Ökonomismus die Nase voll haben, darauf hinarbeiten. Dafür aber bedarf es einer ermutigenden Sprache, die Wege neuen Fortschritts unter den veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts beschreibt. Und einer zupackenden Haltung: Wer die Dinge anders haben will, der muss versuchen, auch andere Menschen für die Möglichkeit von Veränderung zu begeistern.
Genau hier hört Heitmeyer auf, hilfreich zu sein. Weltweite Proteste? „Das sind Ausnahmen.“ Zunehmende Kritik am Finanzkapitalismus? „So schnell lässt sich das Ruder nicht herumreißen … Ich vermute eher, dass Apathie und Orientierungslosigkeit zunehmen.“ Fortschritt? „Die zunehmende soziale Spaltung zersetzt das Miteinander, die Gesellschaft ist vergiftet.“ Zukunft? Perspektiven? Ideen? „Insgesamt fehlt jede Vision, wie es weitergehen soll.“ Keine Hoffnung, nirgends. Ebenso gut hätte Martin Luther King seufzen können: „I have a nightmare“, Anlass genug hätte er gehabt. Er rief aber: „I have a dream“. Und das machte seine Wirkung aus.
Heitmeyer würde nun gewiss erwidern, dass er sich nicht als Anführer einer sozialen Bewegung sieht: „Wir arbeiten mit wissenschaftlichen Mitteln gegen Schönfärberei und Gleichgültigkeit“, sagt er. Das ist in Ordnung, Aufklärung ist immer gut. Nur könnte es sein, dass unbefriedigende Zustände und eine bestimmte Art, verdrossen über diese Zustände zu sprechen und zu schreiben, irgendwann beginnen, sich gegenseitig zu verstärken. Ganz einfach deshalb, weil die stete Beschwörung ubiquitärer Missstände mutlos macht und lähmt.
Gerade wer findet, dass die Zustände, die Heitmeyer beschreibt, nicht das letzte Wort der Geschichte sein dürfen, sollte nicht allzu viel Heitmeyer lesen. Heitmeyer ist ein Pessimist, doch „Pessimismus bringt nur den leeren Trost, recht zu haben“ (David Landes). Das Tor zu positivem Wandel stößt er nicht auf. Wer ernsthaft will, dass sich die deutschen (und sonstigen) Zustände zum Menschenfreundlicheren verändern, der sollte die Nase eher in andere Bücher stecken.
Wer immer nur warnt, verbessert wenig
Da gibt es zum Beispiel das zu Recht viel diskutierte Buch The Spirit Level: Why Equality is Better for Everyone von Richard Wilkinson und Kate Pickett. Die zentrale und überaus ermutigende Botschaft des Buches lautet: Egalitärere Gesellschaften sind nicht bloß fairer, sondern funktionieren auch in praktischer Hinsicht schlicht und einfach besser als hierarchische: „Für moderne Gesellschaften kommt es immer mehr darauf an, kreativ, anpassungsfähig, erfinderisch, gut informiert und flexibel zu sein“, schreiben Wilkinson und Pickett. „Das sind nicht die Eigenschaften von Gesellschaften, in der die Reichen das Sagen haben und die Menschen an ihren Statusunsicherheiten irre werden, sondern es sind die Kennzeichen von Gesellschaften, in denen Menschen auf Augenhöhe zusammenarbeiten und einander als Gleiche respektieren.“
Voilà, da hätten wir also eine positive Vision, nämlich die einer besseren, weil egalitäreren Gesellschaft, weniger zerfressen durch Status und Hierarchie. Und was wird daraus bei Heitmeyer? Wilkinson und Pickett hätten, schreibt er, „herausgefunden, dass eine Gesellschaft sich im Zuge zunehmender Ungleichheit immer mehr zersetzt. Damit korrelieren soziale Probleme und auch Gewalt. Ein deutliches Warnzeichen.“
Nach dieser Lesart bestätigen Wilkinson und Pickett bloß, was Heitmeyer immer schon gewusst und geschrieben hat. Das tun die beiden Briten aber gerade nicht ! Sie machen keineswegs bloß immer neue „Warnzeichen“ dafür aus, dass die Zustände immer schlimmer, desintegrierter, autoritärer und visionsloser werden. Sondern sie setzen begründete Hoffnungszeichen, zeigen Perspektiven auf, kartieren Wege vorwärts und vermitteln Zuversicht in die Verbesserbarkeit der Lage. Ja, es ist beklagenswert, dass das vergangene Jahrzehnt von „Entsicherung und Richtungslosigkeit im Sinne einer fehlenden sozialen Vision“ gekennzeichnet war. Aber nein, der Weg in ein lebbares 21. Jahrhundert kann ganz sicher nicht in der rückwärtsgewandten Utopie einer „Rückkehr zum stabileren Status quo ante“ bestehen, die Heitmeyer als einziges Mittel gegen die Misere einfällt.
Heute ist offensichtlich: Der historische Zyklus des reinen Ökonomismus mit allen seinen – gerade von Heitmeyer scharf herausgearbeiteten – negativen Konsequenzen für die Lebenswelt geht zu Ende. Was folgt, ist offen. Das heißt aber, dass Progressive und Linksliberale nicht mehr in der Haltung des Warnens und Mahnens verharren dürfen. Auf sie kommt es nun an. Ab sofort müssen sie sich daran messen lassen (und selbst daran messen), ob sie aus der veränderten Konstellation etwas Neues und Besseres zu machen wissen. Bücher wie etwa Robert Misiks Anleitung zur Weltverbesserung, Christian Rickens‘ Links! Comeback eines Lebensgefühls oder auch Matt Ridleys Wenn Ideen Sex haben: Wie Fortschritt entsteht und Wohlstand vermehrt wird weisen die Richtung. Nicht weil ihre Autoren in allem richtig liegen. Sondern weil sie für eine Haltung der aktiven Verbesserung der Missstände plädieren, die Wilhelm Heitmeyer – völlig zu Recht – seit einem Jahrzehnt beklagt. Es ist gut, dass es die „Deutschen Zustände“ gegeben hat; aber es ist nicht wirklich schlimm, dass dieses Projekt nun an sein Ende gelangt.
Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände: Folge 10, Berlin: Suhrkamp 2012, 336 Seiten, 15,50 Euro