Wenn Aufklärung nicht mehr genügt
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist in den reichsten Ländern der ersten Welt jeder Zweite übergewichtig beziehungsweise fettleibig. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hingen Armut und Hunger weltweit eng zusammen. Heute ist es in den reichen Gesellschaften genau umgekehrt: Häufig führen Armut, niedriger Sozialstatus und Bildungsstand zu Überernährung und Fettleibigkeit. Wie Armutsstudien und Lebensstilanalysen belegen, hat sich der Graben zwischen Expertenempfehlungen und dem tatsächlichen Ernährungsverhalten in den vergangenen zwanzig Jahren weiter geöffnet. Dennoch halten Ernährungswissenschaftler und Mediziner an ihren herkömmlichen Aufklärungsbotschaften fest. Doch damit erreichen sie gerade diejenigen nicht, die von Armut betroffen sind und einen niedrigen Sozial- und Bildungsstand haben.
Billige Nahrung ist Tag und Nacht verfügbar
Zu kaum einem Gesundheitsbereich gibt es so viel Lesestoff wie zu körpergerechter Energiezufuhr. Sachbücher über „Gesunde Ernährung“, „Kochen, Essen und Trinken“ bis zu den „Diäten“ halten in Bestsellerlisten Plätze ganz weit oben. Und das Internet mit seinen vielfältigen Informationsquellen, Foren und Blogs belegt nicht zuletzt die Fülle und Komplexität des Zusammenhangs von Nahrung, Ernährung und Gesundheit, lässt aber dennoch verwirrte Konsumenten zurück. Kurzum, auch nach Jahrzehnten ernährungswissenschaftlicher Forschung gelingt die Vermittlung wesentlichen Wissens über gesundheitsförderliche Kost nur bedingt.
Gesundheitspolitisch befinden wir uns weltweit in einer Phase tiefgreifender Umbrüche und Systemreformen, die den Menschen in den Industrieländern mit ihren umfassenden sozialen Sicherungssystemen einiges abverlangen. Dennoch zielen Gesundheitsförderungs- und Präventionsstrategien – falls sie überhaupt Berücksichtigung finden – vornehmlich auf Freiwilligkeit, wenn es darum geht, individuelles Verhalten zu ändern. Von den bekannten ernährungspädagogischen Botschaften nach dem Motto „Du musst dein Leben ändern!“, die historisch betrachtet weder neu noch originell sind, werden Entlastungen für die Kostenexplosion im Gesundheitswesen erwartet. Häufig ohne Erfolg: Am Ende einer Kette gesundheitsschädlicher Lebensstile – Überernährung, Bewegungsarmut, Tabakkonsum – stehen nicht selten chronische Erkrankungen (so genannte non-communicable diseases). Mit den Krankheitsfolgen verdienen einige auf Kosten Vieler sehr viel Geld. Wir erleben also eine klassische gesellschaftliche Konfliktsituation, deren Bezüge und Abhängigkeiten Probleme auf verschiedenen Ebenen zutage fördern.
Kinder lernen verschiedene Ess- und Ernährungsstile in ihrem prägenden sozialen Umfeld kennen. Ausgehend von den Primärerfahrungen in den Familien sind Institutionen der Erziehung und Bildung zentral. In ihnen bauen die Kinder Beziehungen zu einzelnen Personen und Gruppen (Peers) auf, deren Einflüsse ebenfalls bedeutsam sind. Außerhalb dieser sozialen Settings wirken zudem die Strategien und Botschaften der Nahrungsmittelkonzerne, denen die Menschen begegnen. Weil aus dicken Kindern mit hoher Wahrscheinlichkeit dicke Erwachsene werden, stehen wir in reichen Ländern vor Herausforderungen nie geahnten Ausmaßes: „Adipositas beginnend im Kindesalter ist das dringendste Gesundheitsproblem in reichen Ländern“ (WHO).
Das Problem ist eine Umwelt, die Fettleibigkeit fördert: Billige Nahrung ist heute im Prinzip Tag und Nacht verfügbar. Unserem genetischen und physiologische Erbe gemäß ist der menschliche Stoffwechsel aber eher für Zeiten des Hungers ausgelegt als für exzessive Nahrungsangebote. Zugleich kommen psychosoziale Determinanten ins Spiel: Der physiologische Nährstoffbedarf wird von den Gefühlslagen der Essbedürfnisse, -gewohnheiten und -anlässe überlagert. Marketing und Medien deuten Nahrungsmittel, Essanlässe und -situationen zu Lebensstil- und Imagefragen um. Die Lebensmittelkonzerne wiederum setzen auf Gewinnmaximierung und nicht auf gemeinwohlorientierte Verantwortung; umso mehr möglichst billig produzierte Nahrung verkauft (und gegessen) wird, desto besser für die Bilanzen und Renditen. Wer abnehmen will, sucht schnelle Erfolge, ohne Anstrengung und Veränderung von Gewohnheiten („Wunderdiäten“). Titel wie Schlank im Schlaf führen zurzeit die Ratgeber-Bestsellerlisten an. Demgegenüber vermitteln die Begleiter auf dem Weg zur Gewichtsreduktion, dass langsames Abnehmen und Disziplin im Zentrum langfristiger Erfolge stehen. Dies ist wiederum schwer mit den Wünschen vieler Betroffener in Einklang zu bringen.
Wie sich soziale Ungleichheit auswirkt
Sollen in einer fettleibigen Umwelt möglichst viele Menschen schlank, fit und gesund bleiben, müssen wir eine Debatte über die Auswirkungen sozialer Ungleichheit führen. Wenn zentrale Ernährungsbotschaften nicht verstanden oder ignoriert werden, und wenn krankheitsbedingte Folgen schlechter Ernährung nicht mehr therapierbar sind, so führt die Frage nach sozialer Gerechtigkeit zwangsläufig zu jenen Mitgliedern der Gesellschaft, die ihr Handeln nur bedingt selbst bestimmen können: Kinder und Jugendliche sind abhängig von den Entscheidungen der verantwortlichen Erwachsenen und von den existierenden Rahmenbedingungen. Sie vor allem leiden unter den Folgen von Armut und mangelnder Bildung. Verwehren wir ihnen die (Gesundheits)-Bildung, kommt uns das teuer zu stehen.
Das anhaltend mittelmäßige Abschneiden Deutschlands bei den Pisa-Studien von 2000 bis 2010 hat eine umfassende Bildungsdiskussion ausgelöst. Wie erreichen wir Kinder und Jugendliche unterschiedlicher „Aufwachsmilieus“? Eine Antwort auf diese zentrale Frage lautete, Unterrichts- und Betreuungszeiten auf den Nachmittag auszudehnen. Die Zahl der Ganztagsschulen wächst: Von den etwa 30.000 allgemeinbildenden Schulen in Deutschland arbeiten heute rund 10.000 nach unterschiedlichen Ganztagskonzepten – und gehen dabei ebenso kreativ wie variantenreich mit der Verpflegung der Schüler um. Gleichwohl ist in allen Konzepten von den Kulturtechniken (Esskultur) der alltäglichen Lebensführung die Rede.
Bei allem Verständnis für Schulleitungen und Schulträger, die sich mit der Ausgestaltung der Schulverpflegung konzeptionell, finanziell und personell überfordert sehen – das deutsche Bildungswesen vergibt derzeit eine volkswirtschaftlich einmalige Chance. Bei den Bildungsinstitutionen handelt es sich um die vielleicht letzten gesellschaftlichen Bastionen, die frei von wirtschaftlichen Interessen Aufgaben wie Prävention und Gesundheitsförderung durch Ernährungs- und Verbraucherbildung übernehmen können. Nur muss die Bildungspolitik dafür die gesetzlichen, finanziellen, organisatorischen und personellen Rahmenbedingungen festlegen. Kindertagesstätten und Ganztagsschulen, die der Staat in Fragen einer an Gesundheitsförderung orientierten Ernährung unterstützt, werden zu Schutzräumen, in denen Kinder gesund aufwachsen können.
Wissen ist das eine, Handeln etwas anderes
Doch selbst wenn möglichst viele Menschen theoretisch wissen, wie man sich gesund ernährt, existiert eine verhängnisvolle Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln im Alltag. Wie können wir im Hinblick auf das Verhalten und die Lebensverhältnisse der Menschen Anreizsysteme schaffen, die die „gesunde Wahl“ erleichtern?
Erstens müsste lebenslang verantwortliches, gesundheitsförderliches Handeln für den eigenen Körper belohnt werden, beispielsweise mithilfe finanzieller Anreize im Gesundheitswesen auch für Ärzte und Krankenkassen. Für Risikoverhalten könnte es „Risikoklassen“ geben (Tabakkonsum, Body-Mass-Index, Kategorien für körperliche Fitness), denen jeder Bürger zugeordnet wird.
Zweitens: Viele Bundesländer verlangen Hundeführerscheine. Aus „Kinderführerscheinen“ könnte die Verpflichtung erwachsen, Kinder gesund zu ernähren. Eine elterliche Ernährung, die zu Fettleibigkeit führt, sollte als Kindesmisshandlung gelten oder zumindest unter die Kategorie einer Vernachlässigung der Sorgepflicht fallen.
Drittens müssen Elternhäuser und Erziehungsinstitutionen die Rahmenbedingungen für das gesunde Aufwachsen der Kinder garantieren: aufsuchende Betreuung und Beratung sowie verantwortliche, gesundheitspädagogische Gestaltung des alltäglichen Kita- und Schullebens. Dazu gehören auch Standards der Gemeinschaftsverpflegung.
Viertens müssen Politik und Gesellschaft diese Rahmenbedingungen mit Investitionen in Bildung, Beratung und Betreuung fördern. Entscheidend sind Konzepte und Förderprogramme, die zwischen Wirtschafts-, Gesundheits- und Bildungspolitik abgestimmt sind – und die gemeinwohlorientierte Unternehmensinteressen mit einbeziehen. «