Wenn der Rotor zu oft stillsteht
DESERTEC heißt der Ansatz, der auf Studien des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR) aufbaut. Die Forscher des DLR beschäftigen sich seit Jahren mit der Frage, wie die nahezu unendliche Ressource Sonnenenergie auch dort zur Wirkung gebracht werden kann, wo die meisten Landstriche – zumindest im Norden Europas – nicht gerade von der Sonne verwöhnt werden. Sie haben die nordafrikanische Wüste vermessen und kommen zu dem Ergebnis, dass dort mit so genannten Parabolrinnenkollektoren auf einer Fläche von, sagen wir, Österreich der gesamte weltweite Strombedarf zu decken wäre. Solche solarthermischen Kraftwerke sind keine halbreife Zukunftstechnologie, sondern seit über zwanzig Jahren in vielen sonnenreichen Weltgegenden von Kalifornien bis Spanien im Einsatz. Ihr Vorteil gegenüber der Photovoltaik, also der direkten Umwandlung von Licht in Elektrizität: Die Kollektoren können rund um die Uhr Strom produzieren, weil die gespeicherte Sonnenwärme auch nachts noch Turbinen antreibt.
Doppelter Wirkungsgrad in der Wüse
In der nordafrikanischen Wüste erreichen sie den doppelten Wirkungsgrad von europäischen Solarfarmen – aber der Strom wird Tausende von Kilometern entfernt benötigt. Herkömmliche Drehstromnetze, wie sie auch bei Fernleitungen im europäischen Netzverbund üblich sind, können diese Distanzen nicht überwinden. Bei den benötigten Leitungslängen und vor allem bei Verwendung von Seekabeln kommt nur die Hochspannungs-Gleichstromübertragung (HGÜ) in Frage, die heute schon bei weit entfernt liegenden Wasserkraftwerken wie am brasilianischen Itaipu oder am Kongo, aber auch zur Stromversorgung von Bohrinseln eingesetzt wird.
Umrichterstationen für die HGÜ sind zwar viel teurer als für Drehstromübertragung, aber ab Leitungslängen von 500 Kilometern aufwärts überwiegen die Vorteile. Die Gleichstromleitungen haben die dreifache Übertragungskapazität, viel geringere Leitungsverluste, müssen nicht synchronisiert werden und haben nebenbei auch noch ein schlankeres Profil als die Dreiphasen-Drehstromleitungen – selbst als Freileitung würden sie die Landschaft weniger verschandeln als das derzeitige Übertragungsnetz.
Aber es ist nicht nur der zukünftige Strom aus der Wüste, der die europäischen Netzbetreiber überfordert. Selbst die heimische Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien verursacht ihnen unendliche Mühen, weil die über viele Jahrzehnte gewachsene Struktur der Netze für die Einspeisung von Strom aus einer Vielzahl kleiner Wind- oder Solarfarmen nicht ausgelegt ist. Fachleute wie Gregor Czisch von der Universität Kassel wissen, dass der Netzausbau die alles entscheidende Voraussetzung ist, um die Abhängigkeit von Kernkraft und Kohle beim Grundlaststrom zu verringern. In einer Stellungnahme zum Grünbuch „Energie 2020“ der schleswig-holsteinischen Landesregierung, die das Kieler Wirtschaftsministerium bei Czisch anforderte, bekräftigt der Forscher die Notwendigkeit eines europäischen „Supernetzes“ mit einer Übertragungskapazität von zehn Gigawatt, um großräumigen Ausgleich und Backup-Kooperation im europäischen Stromverbund zu schaffen, ohne den es einen großzügigen Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien nicht geben kann: „Wird eine großräumige Stromversorgung aber rechtzeitig etabliert, kann auf den Neubau fossil gefeuerter Kraftwerke weitgehend verzichtet werden, und gleichzeitig lassen sich sehr viel ehrgeizigere Ziele mit viel größeren Anteilen erneuerbarer Energie verfolgen.“
Wenn die Rotoren bei gutem Wind ruhen
Die Zeit drängt. Wenn die von der Bundesregierung bis 2020 angestrebten 30 Prozent Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien tatsächlich eingespeist werden sollen, muss in die Netzinfrastruktur gewaltig investiert werden. Der aktuelle Zustand gibt jedenfalls Anlass zu größter Skepsis, denn die Praxis der Netzbetreiber besteht derzeit eher darin, Windstrom vorsätzlich abzuwürgen. „Einspeisungsmanagement“ heißt das Verfahren, mit dem immer dann, wenn das Stromangebot zu groß ist – also bei gutem Wind – die Kraftwerke der Windmüller von den Stromkonzernen gedrosselt werden, um Überlastungen der Netze zu vermeiden. An der schleswig-holsteinischen Westküste kann man bei steifer Brise beobachten, dass die Rotorblätter der Windkraftanlagen aus dem Wind gedreht sind, oft bis zum völligen Stillstand. Wie die massive Zunahme von Stromlieferungen aus den geplanten Offshore-Windparks auf hoher See verkraftet werden soll, fragen sich nicht nur die Netzbetreiber. Die Landesregierung schätzt, dass die schleswig-holsteinischen Kohlendioxid-Emissionen bis 2020 sogar noch um bis zu sechs Millionen Tonnen steigen werden, weil eine bedarfsgerechte Stromversorgung in der derzeitigen Netzinfrastruktur nur mit weiteren Kohlekraftwerken erreicht werden kann.
Natürlich ist allen Beteiligten klar, dass dies eine Perversion der politisch gewollten und im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) vorgeschriebenen bedingungslosen Abnahmegarantie von Strom aus Wind und anderen regenerativen Quellen darstellt. Das realistischere Szenario enthält eine im Frühjahr 2008 an der Universität Flensburg entstandene Diplomarbeit von Frauke Wiese, die am Beispiel des Einspeisepunkts Brunsbüttel vorrechnet, dass der Windstrom aus der Nordsee für eine deutlich niedrigere Auslastung der dort geplanten Kohlekraftwerke sorgen wird, als die Investoren der vier 800-Megawatt-Blöcke bislang annehmen. Obwohl ihre Berechnungen schon von einem Netzausbau auf 7.000 Megawatt ausgehen, der erst noch stattzufinden hätte, sei „aus wirtschaftlicher Sicht davon abzuraten“, hier weitere Kohlekraftwerkskapazität im geplanten Umfang zu errichten.
„Der zu erwartende und aus Klimaschutzgründen unumgängliche Ausbau der Offshore-Windenergie wird in Brunsbüttel und ganz Deutschland die Stromversorgungsstruktur noch innerhalb der technischen Betriebsdauer heute geplanter Kohlekraftwerke verändern“, sagt die Flensburger Expertin. Die als Grundlast konzipierten Kohlekraftwerke taugen nicht zur „Verstetigung der Windenergie“, und auch in Frauke Wieses Forderungskatalog taucht der überregionale Netzverbund auf, der schon im Ansatz auf ein Zusammenspiel mit regenerativen Energiequellen abgestimmt ist.
Das europäische Supernetz muss also schleunigst herbei, wenn die Klimaschutzziele termingerecht erreicht werden sollen. Selbst wortreiche Verfechter autarker Energieerzeugung wie Hermann Scheer, die mit einigem Recht in jedem Verbraucher auch einen potenziellen Mikroproduzenten sehen, sind mittlerweile eingeschwenkt. Denn ein modernes Lastmanagement mit kleinteiliger Produktion und massenhafter Zulieferung – warum nicht aus der Sahara? – ist nur dann zukunftssicher, wenn die Grenzkupplungen des europäischen Netzverbunds viel großzügiger ausgelegt werden, als sie derzeit sind.
Das Preisschild, das an dem ambitionierten Wüstenprojekt klebt, macht der EU-Kommission jedenfalls keine allzu großen Sorgen: Die Gesamtinvestitionen liegen nach Schätzung des Joint Research Centres der Kommission unter 400 Milliarden Euro – gestreckt bis zum Jahr 2050, im Schnitt also nicht einmal zehn Milliarden pro Jahr. Zehn Prozent davon müssten in Seekabel und andere Gleichstromnetzelemente investiert werden, der Rest könnte in der Sahara neben glitzernden Parabolspiegelfeldern auch noch blühende Landschaften schaffen: Die Meerwasserentsalzung, die das DLR im DESERTEC-Konzept quasi als Abfallprodukt der Stromerzeugung vorsieht, behebt en passant auch noch das Problem der Trinkwasserversorgung Afrikas.