Wenn nicht in Deutschland, dann anderswo
Als der Kanzler noch Kandidat war, hat die SPD viel versprochen. Deutschland solle zurück an die Spitze des technologischen Fortschritts geführt werden, hieß es. Eine breit angelegte Innovationspolitik müsse forciert werden. Es gelte, an die Stärken des Standorts Deutschlands anzuknüpfen und seine Schwächen zu beseitigen. Qualifizierung, Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft sollten verbunden werden, zugleich sei die Veränderungsbereitschaft der Menschen zu stärken. Doch der Umbau des deutschen Innovationssystems ist eine Herkulesaufgabe - in einer Wahlperiode nicht zu schaffen. Mancher hatte das schon vor 1998 geahnt. Wo aber steht der Innovationsstandort Deutschland heute? Was bleibt zu tun?
Die deutsche Wirtschaft hat ihre traditionellen Stärken. Sie liegen in der Automobilproduktion, im Maschinenbau, in der Elektro- und der Nachrichtentechnik, in der chemischen Industrie, der Feinmechanik und der Optik. Das sind Branchen, in denen nicht Spitzentechnik, sondern "höherwertige Technik" die Produkt- und Verfahrensinnovation dominiert. Hier bleibt Deutschland Ex-portweltmeister, hier überflügelt die Deutschland AG Japan und die USA mühelos. Wie die aktuelle Konjunkturdelle erneut zeigt, sind diese Branchen aber auch sehr abhängig von der Wechselkursrelation des Euro und der Auslandskonjunktur.
In der Spitzentechnik ist die deutsche Export-wirtschaft dagegen deutlich schwächer auf der Brust. Zwar kann die Bundesrepublik in Europa noch die Position des Technologieführers auch in der Spitzentechnik behaupten; im globalen Maßstab hat sie auf diesem Feld aber gegenüber den USA und Japan das Nachsehen. Das deutsche Innovationssystem tut sich schwer, eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung neuer Marktfelder einzunehmen, die auf ganz neuen Technologien basieren. Bei den Produkten mit extrem hohen Forschungsleistungen, etwa beim Raumfahrzeugbau, bei der Telekommunikation und der elektronischen Datenverarbeitung, konzentrieren Japan und Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten deutlich höhere Anteile ihrer Aufwendungen für Forschung und Entwicklung (F&E). Hier liegen die strukturellen Schwächen des deutschen Innovationssystems im Vergleich zur Weltmarktkonkurrenz.
Nun ist die höherwertige Technik im Vergleich zur Spitzentechnik nicht "primitiver" oder "älter". Es ist auch keineswegs so, dass die Branchen der Spitzentechnik generell rentabler oder gesamtwirtschaftlich relevanter wären. Der Unterschied der beiden Bereiche liegt zunächst nur darin, dass die höherwertige Technik im Vergleich zur Spitzentechnik durch einen etwas geringeren F&E-Anteil an der Wertschöpfung charakterisiert ist. Der Rückstand in der Spitzentechnik ist dennoch risikoreich, denn die deutsche höherwertige Technik ist auf die immer schnellere Fusion mit der Spitzentechnik angewiesen. So genügt es nicht, herausragende Autos zu bauen, wenn es nicht zugleich gelingt, diese höherwertige Technik mit der Spitzentechnik der GPS-Navigation zu verbinden. Es gilt also, die Fähigkeit zu verteidigen, weltweites Knowhow in der Spitzentechnik durch eine breite und hochwertige Wissensbasis in die Innovationsaktivität anderer Sektoren zu integrieren.
Die deutschen F&E-Bemühungen sind zu einseitig auf die Industrieproduktion ausgerichtet. Deutschland hat im internationalen Vergleich mit Japan und den USA einen Rückstand bei den innovativen und wissensintensiven Dienstleistungen. Technische Innovationen sind jedoch im wachsenden Dienstleistungssektor inzwischen von vergleichbarer Bedeutung wie in der Industrie. Früher war Dienstleistung nur lohnintensiv - seit einigen Jahren steigt ihr Technologiegehalt rasant. Diese Schwäche des deutschen Innovationssystems ist vor allem deshalb ein Problem, weil in Zukunft immer mehr neue cluster zwischen innovativen Industriebetrieben und Dienstleistern entstehen werden - wenn nicht in Deutschland, dann anderswo. Die industrielle Basis wird um so schneller wachsen, je besser sie an vorgelagerte, begleitende und nachgelagerte techniknahe Dienstleistungen angebunden ist.
Unsere Stärken sind unsere Schwächen
Deutschlands Schwäche bei den radikalen Innovationen und zugleich seine Stärke bei der kleinschrittigen Produkt- und Verfahrensinnovation haben ihre Ursachen in den Eigenarten des Innovationssystems: Für das institutionelle Gefüge Deutschlands sind langfristige, konsensorientierte Beziehungen typisch. Dies gilt sowohl für das Verhältnis der Firmen untereinander wie auch zwischen Firmen und ihren Kapitaleignern oder zwischen Unternehmen und ihren Belegschaften. Die konsensorientierten zwischenbetrieblichen Beziehungen erleichtern etwa Übereinkünfte zu technischen Standards. Sie behindern aber die schnelle Aufgabe von Standards im marktorientierten Innovationswettbewerb. Die korporatistische Beziehung der Sozialpartner ermöglicht koordinierte Flächentarifverträge und stabile Betriebsvereinbarungen, welche die materielle Basis des deutschen Facharbeiterwesens sichern. So werden feste Arbeitsbeziehungen gefördert, die den Betrieben genau jenes Know-how sichern, das für kleinschrittige, inkrementelle Produkt- und Verfahrensinnovation benötigt wird. Gleichzeitig aber fällt so die unternehmerische Option weitgehend aus, angestammte Märkte und Produktionen - einschließlich der zugehörigen Belegschaften - aufzugeben, um kurzfristig neue Märkte zu erschließen.
Trotz NEMAX 50 und dergleichen ist das deutsche System der Unternehmensfinanzierung noch immer durch das langfristige Engagement der Investmentbanken und der großen Aktionäre geprägt. Es dominiert die Absicherung von Krediten durch große Betriebsvermögen. Auch das erschwert den Marktzutritt für junge Unternehmen und den Übergang etablierter Firmen auf neue Märkte. Die Investitionen in Menschen im Rahmen der betrieblichen Ausbildung orientieren sich streng an Branchen und Berufsbildern. Das bringt große Spezialisierungsvorteile, behindert aber die Mobilität und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt.
Anders gesagt: Die Standortvorteile für die kleinschrittige Innovation sind zugleich die Standortnachteile für die radikalen Innovation. Das Projekt "Innovatives Deutschland" ist also kein widerspruchsfreier, geradliniger Prozess. Es geht, nüchtern gesehen, um die Lösung von Zielkonflikten. Und es kommt darauf an, die Stärken und Schwächen des nationalen Arrangements von staatlicher Bürokratie, sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft zu erkennen. Die Stärken müssen bewahrt und das Arrangement des Innovationssystems zugleich behutsam auf eine Vermeidung seiner Schwächen neu ausgerichtet werden.
Wir erfinden wenig. Und reden viel darüber
Der europäischen Forschungs- und Technologielandschaft mangelt es an Effizienz. Die Europäer erfinden wenig, aber schreiben viel darüber: Pro Millionen ECU öffentlicher F&E-Ausgaben werden in Japan nur drei wissenschaftliche Veröffentlichungen gezählt - in der EU fünf. Auf das gleiche Fördervolumen entfallen aber in der EU nur 0,35 Patente - in Japan fast doppelt so viele. Gemessen am viel geringeren fiskalischen Aufwand, den Japan treibt, werden im Land der Dichter und Denker auch zu wenig Innovationen generiert. Deutschland hat zwar eine leistungsfähige Infrastruktur bei der Grundlagenforschung wie bei der angewandten Forschung, für welche Bund und Länder erhebliche Mittel aufwenden. Dieser enorme Input setzt sich aber nicht hinreichend in ökonomischen Erfolg um. Es gilt daher, die Effizienz von Förder- und Anreizsystemen zu erhöhen.
Dabei scheint die mangelnde Anwendungsorientierung der deutschen Forschungslandschaft zunächst ein Problem des sozialen Selbstverständnisses der Akteure zu sein: Weder die angewandte Forschung der Universitäten noch die außeruniversitären F&E-Einrichtungen richten sich genügend auf die Märkte aus. Allen Einrichtungen des Wissenstransfers zum Trotz ist die Kommunikation zwischen staatlichen Forschungsinstituten und der Wirtschaft immer noch unterentwickelt. Die Bedingungen für die effektive Nutzung des wissenschaftlichen und technologischen Wissens müssen deshalb weiter verbessert werden, die unternehmerische Initiative der Forscher bedarf der Förderung.
Die Forschungspolitik sollte sich deshalb aus der Umklammerung machtvoller Institutionen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) lösen. Dort werden gegenüber Industrie und Staat wissenschaftliche Eigeninteressen formuliert, die sich nicht zwangsläufig mit den gesamtstaatlichen Anliegen decken. Das berechtigte Prinzip der Selbststeuerung der Wissenschaft sollte um einen institutionalisierten Prozess der Zielvereinbarung aller technologiepolitischen Akteure ergänzt werden - um ein "Bündnis für Innovation" sozusagen. Wenn es stimmt, dass die Biotechnologie sowohl vom regulativen Rahmen des Staates wie von den Absatzerwartungen der Wirtschaft und den Erkenntnisfortschritten der Wissenschaft abhängt, dann liegt nichts näher als die Schaffung wechselseitiger Planungssicherheit. Die Zukunft gehört dem Techno-Korporatismus und dem industrial targeting.
Das bestehende Instrumentarium der Technologieförderung ist zu komplex und zu verwoben. Die kommunale Wirtschaftsförderung sowie die Forschungs- und technologiepolitischen Zuständigkeiten des Bundes, der Länder und der EU sorgen im Verein mit unklaren Ressortabgrenzungen zwischen Wirtschafts- und Forschungsbürokratie für Wirrnis. Die vergangene Dekade hat eine Inflation von Förderprogrammen mit teilweise minimalen Förderbeträgen hervorgebracht, deren Vielfalt mittelständische Unternehmen und Forschungseinrichtungen nicht ansatzweise überschauen können.
Was nützen marktunfähige Neuerungen?
Die deutschen Mischfinanzierungssysteme generieren - gerade angesichts der Krise der öffentlicher Haushalte - häufig genug nicht Innovation, sondern wechselseitige Blockade. So ist nicht einzusehen, dass eine Forschungslandschaft nur deshalb nicht in den Genuss von Bundes- oder EU-Mitteln kommt, weil aus dem notleidenden Etat ihrer Region die Mittel für die Co-Finanzierung nicht aufgebracht werden können. Die For-schungsfinanzierung muss dringend entflochten werden. Eine am Grundsatz der Subsidiarität ausgerichtete Entflechtung sollte der internationalen Ebene das Feld der Grundlagenforschung zuweisen und die übrigen Kompetenzzuweisungen mit wachsender Marktnähe zur lokalen Ebene hin abstufen.
Nachhaltige Innovationspolitik setzt an der gesamten Wertschöpfungskette an, angefangen von der Erfindung bis hin zur Nutzung von Produkten oder Dienstleistungen. Was nützt die schönste technische Neuerung, wenn sie nicht marktfähig gemacht wird? Technische Innovation bedeutet noch nicht Marktdiffusion, und Marktdiffusion ist noch keine Nutzerdiffusion. Nicht nur die Forschung, sondern auch die Nachfrage nach neuen Lösungen muss unterstützt werden - nicht im Sinne künstlicher, weil subventionierter Märkte, sondern im Sinne einer befristeten Förderung, um die Stückkosten von sinnvollen Pionierprodukten zu senken, vor allem in der Umwelt- und Energietechnik.
Das große Versprechen bleibt aktuell
Gerade nach dem meltdown der New Economy bedarf es einer neuen Aufbruchstimmung. Es geht um ein Klima in Gesellschaft und Unternehmen, in dem sich neue Innovationskulturen etablieren können. Innovation hängt schließlich vor allem von der Bereitschaft und der Motivation der Beschäftigten und ihres gesellschaftlichen Umfelds ab, sich auf Neues einzulassen. Der Staat muss das Verhältnis von Flexibilität und Sicherheit definieren. Einerseits lassen sich die Potentiale der neuen Technologien nur in zeitgemäßen Formen der Ausbildung, der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit nutzen. Andererseits muss Stabilität auch bei flexiblen Erwerbsverläufen, flexiblen Arbeitszeiten und lebenslangem Lernen gewahrt bleiben.
In der Technologiepolitik sind weiterhin dicke Bretter zu bohren. Das große Versprechen, Wissenschaft, Wirtschaft und gesellschaftliche Akzeptanz neu zu ordnen, bleibt aktuell. Auch im Wahljahr.