Wer seinen Lebensunterhalt selbst erarbeitet, lebt zufriedener
Die Arbeitsversicherung ist die einzige ernsthafte Alternative zum aktuellen Hype um das bedingungslose Grundeinkommen. In ihrem Entwurf für das Weißbuch Arbeiten 4.0 hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles diese Idee, die schon 2007 im Hamburger Grundsatzprogramm der SPD angelegt war, wieder aufgegriffen. Lange nur am Rande diskutiert, scheint der Begriff nun auch die Medien zu erobern. Es kursieren allerdings verschiedene Vorstellungen.
Arbeit ist Ausdruck der Würde des Menschen
Wir brauchen eine Arbeitsversicherung, weil im Zeitalter der Dienstleistungsökonomie, der digitalen Technologie und der sozialen Inklusion zunehmend Erwerbsrisiken im Lebensverlauf auftreten, die durch die traditionelle Arbeitslosenversicherung nicht (oder nur schlecht) abgesichert sind. In der Dienstleistungsökonomie sind Mensch-zu-Mensch-Beziehungen wichtiger als bei industrieller Massenfertigung, wo sie eher stören. Die digitale Technologie macht es möglich, von jedem Ort der Welt aus zu arbeiten. Und soziale Inklusion erfordert ein individuelles Recht auf gleiche Teilnahmechancen am Arbeitsmarkt, unabhängig von Geschlecht, Behinderung oder ethnischer Zugehörigkeit.
Mit dem Begriff Arbeitsversicherung ist eine klare Werteentscheidung verbunden, die die radikalen Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht teilen: Jeder gesunde erwachsene Mensch muss sich seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit selbst verdienen können. Pathetisch formuliert: „Arbeit ist heilig und Ausdruck der Würde des Menschen“ (Papst Franziskus). Empirische Studien über Lebenszufriedenheit und ethisch fundierte Studien der Gerechtigkeit bestätigen, dass sich die meisten Menschen diese Autonomie auch wünschen. Das oberste Ziel einer Arbeitsversicherung ist es daher, die Fähigkeit zu erhalten und zu stärken, sich eigenständig einen befriedigenden Lebensunterhalt erarbeiten zu können. Da aber Lebenschancen durch Geburt und Zufälligkeiten der (Arbeits-)Märkte sehr ungleich verteilt sind, muss eine Arbeitsversicherung individuell in unterschiedlichem Maße wirken. Ein bedingungsloses Grundeinkommen rührt an diesem Grundtatbestand nicht und führt daher – wie generös auch immer ausgestattet – zu einer Zweiteilung der Gesellschaft: Wer im Wandel der Zeit nicht mitkommt, soll mit einer bedingungslosen Existenzsicherung gleichsam entsorgt und ruhiggestellt werden. Dagegen gewährleistet die Arbeitsversicherung sowohl eine aktive Teilhabe als auch ein bedingtes Grundeinkommen, wenn die individuelle Erwerbsautonomie bedroht oder eingeschränkt ist.
Arbeitslosigkeit ist noch immer ein zentrales Erwerbsrisiko. Das Kurzarbeitergeld – ein schon lange bekanntes Paradigma der Arbeitsversicherung – ermöglicht allerdings die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses ohne die psychisch stark belastende Arbeitslosigkeit. Das Einkommensrisiko bei Kurzarbeit ist versichert, und der Staat übernimmt im Krisenfall weitere Ausfallbürgschaften. Darum muss die Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit ein zentrales Standbein der sozialen Sicherung bleiben. Sie sollte eher besser gepflegt als weiter eingeschränkt werden. Das Arbeitslosengeld ist nicht nur eine passive Leistung; es hat auch investive Funktionen. Studien belegen, dass die Arbeitssuche bei einem angemessenen Arbeitslosengeld zu produktiveren und nachhaltigeren Arbeitsplätzen führt als ohne einen solchen Rückhalt. Bei hoher Arbeitslosigkeit kann zeitweise sogar die Verlängerung des Arbeitslosengelds sinnvoll sein. Selbst die Vereinigten Staaten haben unter Präsident Barack Obama dafür gesorgt, dass Arbeitslose diese Leistung in Krisenregionen bis zu 90 Wochen beziehen konnten. Wir brauchen eine atmende Arbeitslosenversicherung, die antizyklisch agieren kann.
Fünf Übergangsrisiken im Leben jedes Menschen
Im Verlauf des Lebens eines jeden Menschen gibt es jedoch mindestens fünf weitere Erwerbsrisiken, die sich nicht mit einer Erhöhung oder Verlängerung des Arbeitslosengelds lösen lassen. Ich nenne sie Übergangsrisiken:
Erstens: der Übergang von der Schule in den Beruf. Dieser ist heute hochriskant, weil die Passung von individuellen Arbeitswünschen und marktbedingter Arbeitsnachfrage aus verschiedenen Gründen immer schwieriger wird. Internationale Studien über Jugendarbeitslosigkeit zeigen eindrücklich: Die beste Lösung sind duale Bildungswege, also die Kombination von Lernen, Arbeiten und Verdienen. Daneben gibt es Alternativlösungen wie beispielsweise massive Lohnkostensubventionen. Diese sind besser als die Zahlung von Arbeitslosengeld, da es für Jugendliche wichtig ist, ihre autonome Erwerbsfähigkeit zu erproben und zu entwickeln.
Zweitens: der Übergang von Erwerbs- in Familienarbeit. Die Erziehung von Kindern und zunehmend auch die Pflege von Eltern schränkt häufig die volle Erwerbsfähigkeit ein. Lösungswege für dieses Erwerbsrisiko sind – neben Kindergärten oder Pflegeheimen – das Elterngeld oder etwa die geplante Familienarbeitszeit. Sie gewährleisten ein bedingtes Grundeinkommen bei reduzierter Erwerbsarbeitszeit.
Die atypischen Arbeitsverhältnisse nehmen zu
Drittens: die zunehmende Zahl von Übergängen in so genannte atypische Arbeitsverhältnisse wie Befristung, Selbständigkeit, Teilzeitarbeit und – neuerdings – über digitale Plattformen vermittelte Auftragsarbeiten. Damit sind Erwerbsrisiken wie ein stark volatiles Einkommen, Niedriglöhne und geringe soziale Absicherung im Alter verbunden. Diese Risiken sind von der traditionellen Arbeitslosenversicherung nicht oder nur schlecht abgesichert. Die meisten Lösungen sind noch unbefriedigend. Ein gutes Beispiel ist jedoch die Kapitalisierung von Arbeitslosengeldansprüchen für Existenzgründungen. Obwohl es erfolgreich ist, wird dieses Instrument zunehmend restriktiv gehandhabt. Auch die Verlängerung der so genannten Anwartschaft von zwei auf drei Jahre ist für befristet Beschäftigte wie Schauspieler hilfreich, um die notwendigen zwölf Monate sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in einem längeren Zeitraum zusammenzubringen. Ein weiteres zentrales Instrument, um diese Risiken zu mildern, ist der gesetzliche Mindestlohn. Entgegen aller Unkenrufe hat er der Beschäftigungsdynamik nicht geschadet, eher im Gegenteil. Nun sollte er konsolidiert werden, vor allem muss besser überwacht werden, dass er auch eingehalten wird. Künftig sollte er in Richtung eines Lebenslohns weiterentwickelt werden. Darüber hinaus könnte das im Weißbuch Arbeiten 4.0 vorgesehene Persönliche Erwerbstätigenkonto diese Risiken verringern und die Autonomie der individuellen Lebensführung stärken. Dabei erhalten alle zu Erwerbsbeginn ein Startguthaben, finanziert aus Steuern oder einer Sozialdividende. Auf diesem Konto können zudem Zeitguthaben gespart werden, die auch beim Wechsel eines Arbeitsverhältnisses nicht verfallen.
Viertens: die Übergänge von einer Berufstätigkeit zu einer anderen. Mangelnde oder veraltete Qualifikationen sind ein zunehmendes Erwerbsrisiko. Der Plan der SPD, das Arbeitslosengeld unter der Bedingung einer Qualifikation (Arbeitslosengeld Q+) zu verlängern, ist ein Lösungsansatz, reicht aber bei Weitem nicht aus. Vor allem erfüllt er nicht die Anforderung, das Arbeitslosenrisiko durch vorbeugende Weiterbildung zu mindern oder dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Eine Lösung bestünde darin, die präventive Komponente der Weiterbildung zu stärken. Ein Recht auf Weiterbildung und Weiterbildungsberatung wäre hierbei ein erster Schritt; die Klärung der Verantwortlichkeit der zweite. Beim Auffrischen von Kenntnissen und Fähigkeiten (Erhaltungsqualifizierung) läge die Hauptverantwortung aufseiten der Unternehmen. Bei Entwicklungs- und Aufstiegsqualifizierung würde die Arbeitsversicherung einen Teil der Kosten übernehmen. Dabei wäre ein solidarischer Risikoausgleich zugunsten von gering Qualifizierten erforderlich, etwa zur Erlangung beruflicher Abschlüsse oder erforderlicher Umschulungen. Aber auch individuelle Eigenanteile wären vorzusehen, besonders bei Maßnahmen, die nicht primär dem Erhalt und Ausbau der Beschäftigungsfähigkeit dienen. Diese individuellen Anteile könnten über das Persönliche Erwerbstätigenkonto erbracht werden. Damit wären in Weiterentwicklung der Logik der Arbeitslosenversicherung nun auch der Qualifikationsverlust präventiv und damit die „Arbeit“ versichert. Das Persönliche Erwerbstätigenkonto wäre ein – die Arbeitslosenversicherung ergänzendes – sozialinvestives Modul einer Arbeits- und Sozialpolitik, die Individuen nicht gängelt, sondern zur Eigenständigkeit befähigt.
Über Beschäftigungsbrücken in die Rente
Fünftens: die Übergänge in die Rente. Die aus verschiedenen Gründen notwendige oder gar gewünschte Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist eine weitere Quelle neuer Erwerbsrisiken. Die traditionelle Brücke einer Verlängerung des Arbeitslosengelds zur Frührente ist weder finanzierbar noch erwünscht; erforderlich sind Beschäftigungsbrücken, beispielsweise über flexible Arbeitszeiten, Lohnkostenzuschüsse oder öffentliche (geförderte) Beschäftigung.
Für die Absicherung der Übergangsrisiken sind also komplexere Lösungen erforderlich als bloß Arbeitslosengeld zu zahlen. Solche Risiken sind noch weniger als Arbeitslosigkeit versicherungstechnisch kalkulierbar, nicht zuletzt deswegen, weil sie zum Teil „selbstgemacht“ sind. Von Fall zu Fall müssen daher unterschiedliche Modelle sozialer Risikoteilung entwickelt und politisch ausgehandelt werden. In der Regel ist eine bessere Verzahnung der Förderung von Arbeit oder Bildung und Lohnersatzleistung die geeignete Antwort.
Der Einwurf, dass dann nicht von Arbeitsversicherung die Rede sein kann, liegt nahe. Dennoch gibt es gute Gründe, an diesem Begriff festzuhalten. Erstens geht es nicht um eine einheitliche Versicherung, sondern darum, die bisherige Arbeitslosenversicherung zu einem am Lebensverlauf orientierten System der Arbeitsversicherung zu verstärken, in dem mehrere Elemente zusammenspielen. Während die bestehenden beiden Säulen (SGB II und SGB III) überarbeitet werden müssen, sind – wie oben gezeigt – Elemente einer erweiterten Arbeitslosenversicherung schon deutlich erkennbar: neben dem klassischen Kurzarbeitsgeld betrifft dies etwa das 2007 eingeführte Elterngeld oder den seit 2015 geltenden gesetzlichen Mindestlohn; andere sind in der Diskussion, wie Ziehungsrechte aus einem Weiterbildungsbudget oder aus einem Persönlichen Erwerbstätigenkonto. Zweitens ermutigt eine solidarisch gewährleistete Einkommenssicherheit dazu, Übergangsrisiken – die ja immer auch Gewinnchancen darstellen – anzunehmen, zum Beispiel eine Familie zu gründen oder eine Umschulung oder Existenzgründung zu wagen; davon profitiert die ganze Gesellschaft. Drittens wird für eine faire Risikoteilung immer auch der Staat als Vertreter der ganzen Gemeinschaft eine erhebliche Rolle spielen müssen, einschließlich in seiner Rolle als guter Arbeitgeber.
Eine sozialethisch klar fundierte Strategie
Notwendige Arbeiten im Gemeinwesen gibt es in Hülle und Fülle: Dienste für benachteiligte Jugendliche, für unterstützungsbedürftige Ältere, für kulturelle und sportliche Einrichtungen, für die Integration von Flüchtlingen und Migranten, und so weiter. Es geht nicht nur um Arbeiten 4.0 und um den digitalen Hype darum herum. Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt hängt davon ab, dass diese vielen „kleinen“, aber humanen Dienstleistungen tagtäglich erbracht werden. Sollte die digitale Revolution tatsächlich weniger Arbeit bedeuten, könnten – wenn wir es wollten – die Produktivitätsgewinne egalitär in weitere Arbeitszeitverkürzung umverteilt werden, um den Spielraum für selbstbestimmte Tätigkeiten zu erweitern.
Gewiss: Die Arbeitsversicherung hat gegenüber dem bedingungslosen Grundeinkommen nicht den Charme, mit einem Schlag den gordischen Knoten der Sozialversicherung im digitalen Zeitalter zu durchschlagen. Das bedingungslose Grundeinkommen als Antwort auf den Strukturwandel ist aber weder sozialethisch fundiert noch (in seinen anspruchsvollen Varianten) finanzierbar. Dagegen wird die Arbeitsversicherung Arbeit bereiten und immer ein zähes Ringen um politische Kompromisse bedeuten. Dafür ist sie aber eine sozialethisch klar fundierte Strategie, um dem digitalen und sozialen Strukturwandel mit einer solidarischen Risikoteilung zu begegnen, die gleichzeitig individuelle Freiheitsspielräume im Lebensverlauf eröffnet. Eine Arbeitsversicherung in Kombination mit einem Persönlichen Erwerbstätigenkonto wäre so auch eine Brücke zu Ulrich Becks Vision einer „pluralen Tätigkeitsgesellschaft“.