Wer würde noch zweifeln? Ein erfrischend nüchterner Wind weht durch das Land



Im Jahr 1999 wurde Berlin nach 54 Jahren wieder zum Regierungssitz Deutschlands. Für die Politik verbanden sich damit Hoffnungen auf außenpolitische Normalität und innenpolitische Integration zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Intellektuellen erhofften sich zudem eine deutsche Metropole von kulturellem Gewicht.

Der Umzug fiel zusammen mit der Hochphase der New Economy: Der DAX erreichte im März 2000 seinen Höchstwert und die Telekom-Aktie machte die frisch gebackenen Volksaktionäre glücklich. Selbst Experten diskutierten ernsthaft über eine neue Wachstumsdynamik, die die bisherigen Grundsätze des Wirtschaftens zu überwinden schien. Zwischen 1997 und 2001 wuchs die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland um 1,7 Millionen. Die Sanierung des Haushalts war eine Frage der Zeit. In Berlin Mitte wurden glitzernde Regierungsbauten fertiggestellt. Die Volksvertreter trugen Tuch und tranken Barolo. Die Zukunft schien freundlich. Wen wundert es, dass das Kanzleramt die Devise von der „ruhigen Hand“ ausgab?

Doch nur wenig später war der Traum vorbei, Euphorie wich Ernüchterung. Innerhalb von drei Jahren fiel der DAX auf das Viertel seines Höchstwerts, das Wachstum stagnierte. Arbeitslosenzahlen und Neuverschuldung erreichten neue, Schwindel erregende Höhen. Plötzlich war die Geburt der Berliner Republik nicht mehr Symbol für eine neue Dynamik. Die glitzernden Regierungsbauten beschämten vielmehr die Verantwortlichen angesichts des schmerzhaften Eingeständnisses, durch Untätigkeit wirtschaftliche Größe verspielt zu haben.

Politische Transformationen haben wirtschaftliche Folgen. Nicht nur, weil Deutschland mit der ehemaligen DDR eine unproduktive Wirtschaft übernehmen musste. Sondern auch, weil in Zeiten politischer Unsicherheit ein Wohlfahrtsstaat dazu neigt, besonders großzügige Geschenke an sein Volk zu bereiten.

Deutschland holt nach, was andere erlebten

Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass Deutschlands europäische Nachbarn die Erfahrung des wirtschaftlichen Niedergangs nicht unbekannt ist. Sie haben sich schon lange an die neuen Bedingungen der europäischen Integration und den Machtverlust des Nationalstaats anpassen müssen. Großbritannien beispielsweise hat den schwierigen wirtschaftlichen und politischen Abstieg als internationale Kolonial- und Führungsmacht bis in die siebziger Jahre kaschiert – und musste sich dann vom Internationalen Währungsfond aushelfen lassen. Erst nach einer tiefen und demütigenden Wirtschaftskrise steuerte die Politik um. Auch in dieser Hinsicht erlebt Deutschland eine nachholende Entwicklung.

Mittlerweile weht in der Berliner Republik ein erfrischend nüchterner Wind. Die außenpolitische Normalität ist erreicht. Der Kanzler hat seine Rolle als Reformer gefunden. Die Probleme sind erkannt, ihre Lösung in vielen Fragen prinzipiell auch. Gewiss, die Reformen sind zäh und werden im politischen Prozess zerrieben. Aber wer würde noch zweifeln, dass sie kommen?

Und die Intellektuellen? Auch ohne eigene Seiten in der Frankfurter Allgemeinen ist Berlin heute die einzige Metropole Deutschlands.

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