Wie die Revolution der Arbeit uns verändert
Da sich die Informationstechnik trotz aller Erfolge noch immer in ihren Anfängen befindet, stehen wir erst am Beginn folgenreicher Veränderungen, die umfassender sein werden als der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Peter F. Drucker beschrieb schon 1959 in seinem Buch Landmarks of Tomorrow die aufkommende Informationstechnik als Wegbereiter in eine von „Wissensarbeitern“ dominierte „Nächste Gesellschaft“. Leider wurden die scharfsichtigen Analysen dieses Management-Pioniers erst mit Jahrzehnten Verspätung begriffen. Nach dem Platzen der ersten Internet-Blasen zu Beginn dieses Jahrhunderts glaubten viele Zeitgenossen, dass es sich bei der „New Economy“ um ein temporäres Phänomen handele, welches auf junge Technologiebranchen wie die Informationstechnik- und Medienindustrie beschränkt sei. Solche Irrtümer waren zu allen Zeiten Begleiterscheinungen fundamentalen Wandels.
In seiner ursprünglichen Bedeutung signalisierte der Begriff „Neue Ökonomie“, dass es dabei nicht um eine neue Branche, sondern um einen grundlegenden Umbruch in den Produktionsstrukturen geht, der letztlich alle Bereiche der Wirtschaft erfasst. Insofern ist auch die oftmals beobachtbare Gegenüberstellung von „old economy“ und „new economy“ nur Ausdruck von Unverständnis, denn die Informatisierung verändert Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt – so wie es auch alle bisherigen Informations- und Kommunikationsmedien taten. Beispielsweise würde heute niemand mehr behaupten, dass die wesentliche Wirkung des Buchdrucks das Aufkommen der Druckbranche gewesen sei. Das wiederkehrende Problem ist allerdings, dass man die Wirkungen neuer Medien erst in größerem zeitlichen Abstand erkennen und beurteilen kann.
Ein Blick zurück kann helfen, die gegenwärtigen Veränderungen der Ökonomie einzuordnen: Die wirtschaftliche Entwicklung begann mit der Agrarwirtschaft, in der mit den Produktionsfaktoren Land und Arbeit Nahrung über den eigenen Bedarf hinaus produziert wurde und somit die materiellen Voraussetzungen für die Entstehung des Handwerks und einfacher Manufakturen entstanden. In der Agrargesellschaft war insbesondere Boden ein knapper Faktor. Als es dann vor zweihundert Jahren gelang, mit der Dampfmaschine Bodenschätze in mechanische Energie zu verwandeln und so die Muskelkraft zu ersetzen, nahm die Energieintensität von Produktionsprozessen und Produkten immens zu. Die Entwicklung immer komplexerer Produktionssysteme war lediglich durch das verfügbare Kapital begrenzt, das in der Industrieära zum neuen knappen Faktor wurde und den Boden in seiner zentralen Bedeutung ablöste. Daraufhin verlagerte sich in der aufkommenden Industriegesellschaft wirtschaftlicher Reichtum von den Großgrundbesitzern zu den „Schlotbaronen“, der Kapitalismus löste den Feudalismus ab.
Seit Beginn der Informatisierung vor etwa fünfzig Jahren wandeln sich die relativen Knappheiten erneut. Dank der neuen technischen Möglichkeiten ist Information zu einem rasch und reichlich verfügbaren Wirtschaftsfaktor geworden. Infolgedessen nimmt die Informationsintensität von Prozessen und Produkten drastisch zu. Heute enthalten selbst viele technische Alltagsgegenstände mehr Informationen als so manche Bibliothek.
Wo Informationen reichlich vorhanden sind, wird ein anderer Faktor knapp: die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen und Informationen in Wissen und Bedeutung zu verwandeln. Diese Fähigkeit, hier unter dem Sammelbegriff „Humankapital“ zusammengefasst, ist nicht beliebig vermehrbar. Ihre relative Knappheit und damit auch ihre Bedeutung nimmt mit der Informatisierung zu; die relative Bedeutung anderer Produktionsfaktoren wie des Sachkapitals geht zurück. Mit fortschreitender Informatisierung werden immer mehr Routinetätigkeiten automatisiert. Der intellektuelle Gehalt der verbleibenden Arbeit erhöht sich. Immaterielle Komponenten und Werte sowie der Umgang mit Wissen haben einen immer größeren Anteil an der Wertschöpfung.
Die Wissensarbeiter stellen schon die Mehrheit
Wir leben mehr und mehr in einer Wissensgesellschaft, inzwischen stellen „Wissensarbeiter“ die Mehrheit der Erwerbstätigen. Sie sind die Träger und Besitzer der einzigen Ressource, die wirklich knapp ist; ihre Rolle wird die künftige Gesellschaft entscheidend prägen. Ähnlich wie beim Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft werden sich mit dem neuerlichen Wandel auch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse verändern.
Unser heutiges Verständnis von Arbeit ist ein Produkt der Industrialisierung. Während in der agrarischen Gesellschaft Menschen Jahrtausende lang gemäß dem Rhythmus der Natur lebten, brachte es die Industrialisierung mit sich, dass sich die Menschen zur selben Zeit am selben Ort versammeln mussten, um im Rahmen einer Betriebsorganisation zusammenarbeiten zu können. Nur so ließ sich die neue Technik der Dampfmaschine als zentrale Kraftquelle rationell nutzen. Die Zwänge von Mechanisierung und Fabrikorganisation zertrennten Lebens- und Arbeitsraum. Vieles, was uns heute eher selbstverständlich erscheint – etwa die Einteilung des Tages in Arbeits- und Freizeit – wurde anfänglich als enormer Verlust an Freiheit empfunden. Die allmähliche Verfestigung dieser Grenzen führte im Laufe der Zeit zu einer neuen Definition von Arbeit, zu industriell geprägten Lebensstilen – und zur Bildung neuer Solidar-Organisationen.
Im Gefolge der Informatisierung setzen sich nun neuartige Wertschöpfungsprozesse und Unternehmensformen durch, in denen die starren Grenzen der industriell geprägten Arbeitskultur wieder zerfließen. Bei vielen Formen von Wissensarbeit wird der Zwang zum kasernierten Arbeiten aufgehoben: Arbeit bezeichnet wieder das, was man tut, nicht das, wohin man geht. Das starre Regime von Ort und Zeit wird zur Disposition gestellt. Arbeit zerfällt in viele Formen; die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit, Wohn- und Arbeitsort, abhängiger und selbständiger Beschäftigung, Produzenten und Konsumenten, Lernen und Arbeiten sowie zwischen verschiedenen Lebensphasen: Ausbildungszeit, Berufstätigkeit und Familienzeit und Ruhestand verschwimmen mehr und mehr. Unser Arbeitsbegriff, der sich in den vergangenen beiden Jahrhunderten auf „Erwerbsarbeit“ verengte, wandelt sich erneut. Überall breiten sich Arbeitsformen aus, die wir heute noch „atypisch“ nennen. Langfristig wird unser sich an vielen Stellen auf die industrielle Definition von Arbeit gründendes System gesellschaftlicher Institutionen und Regeln mit existentiellen Herausforderungen konfrontiert.
Ein wesentliches Kennzeichen der Industrieära ist die Dominanz von planbarer, gleichförmiger und kolonnenhafter Vervielfältigungsarbeit. Um 1 Million Exemplare eines Industriegutes herzustellen, vollziehen tausend Arbeiter tausendmal identische Arbeitsschritte. Um hingegen 1 Million Exemplare eines Computerprogramms, einer digitalen Präsentation, eines Romans oder eines anderen Geistesproduktes auf den Markt zu bringen, genügt die Herstellung eines Exemplars. An die Stelle der Massenproduktion tritt Unikatarbeit: Jedes Produkt muss nur einmal hergestellt und kann gleichwohl von beliebig vielen Nutzern verwendet werden. Jedoch: Unendlich fallende Durchschnittskosten sprengen unsere Vorstellungswelt vom Ausgleich ökonomischer Kräfte und damit von der Fähigkeit der Marktwirtschaft, sich selbst zu regulieren. Denn dieses Gedankengebäude beruht letztlich auf der Annahme steigender Durchschnitts- und (Grenz-)kosten. In einer künftigen Wirtschaftstheorie, die dazu taugt, die Wirtschaft immaterieller Güter zu verstehen, „Intangibles“ zu bewerten sowie wissensintensive Prozesse vernünftig zu steuern und zu bilanzieren, wird das Phänomen der Kommunikation einen zentralen Platz einnehmen müssen.
Hierarchische Organisationen sind passé
Wo es auf Geistesblitze statt Maschinenlaufzeit ankommt, versagen ein auf quantitativen Größen basierender Produktivitätsbegriff sowie die hierauf bezogenen Konzepte zur Bewertung und Umverteilung von Arbeit. Bei Informationsprodukten zählt die Qualität der eingeflossenen Ideen und nicht die darauf verwandte Arbeitszeit. Deshalb ist es kein Wunder, dass Eigenschaften, wie sie von Kunstmärkten bekannt sind, inzwischen an Bedeutung gewinnen: permanente Innovation, hoher Kommunikationsanteil, große Marktdynamik und intransparente Qualitäten.
Mit der Informatisierung bildet sich eine wissensbasierte Ökonomie heraus, die sich mehr auf die Produktion von Ideen gründet als ihre Vorgängerin. Damit wandelt sich auch die Aufgabe und der Aufbau von Organisationen. Zum wichtigsten Wettbewerbsvorteil einer Organisation wird ihre Fähigkeit, aus vorhandenem Wissen neues Wissen zu erzeugen. Innovationen entstehen aber nicht nach Plan oder auf Anordnung, sondern erfordern ein ganz anderes Klima, als es industriegesellschaftliche Managementformen zu bieten vermögen. Die heute noch vorherrschende Organisationsform – die funktionelle Hierarchie – wird früher oder später verschwinden, da in ihr die Entfaltung von Wissen und individuellen Fähigkeiten massiv behindert wird. Damit verschwindet auch eine weitere große Demarkationslinie des Industriezeitalters: die scharfe Trennung zwischen Entscheidungsträger und Ausführer. Netzwerke aus kleinen, autonomen Einheiten, in denen jeder Knoten mit jedem anderen kommunizieren kann (und darf), sind Organisationsformen mit größerer Innovationsfähigkeit.
In der Informationsökonomie steht deshalb das Einkommen nicht mehr in Beziehung zur investierten Arbeitszeit, sondern hängt ab von dem Geschick, der Originalität und der Schnelligkeit, neue Probleme zu identifizieren und sie auf kreative Weise zu lösen. Damit einhergehend verlieren herkömmliche Karrierewege, formale Ausbildungsabschlüsse, standardisierte Berufsbilder und fixierte Stellenbeschreibungen an Bedeutung. Was im Industriezeitalter Energie, Spezialisierung und Austauschbarkeit waren, werden in der neuen Ära Zeit, Lernen und Anpassungsfähigkeit sein.
Während man bis vor kurzem noch glaubte, steigende Produktivität würde zu stetig kürzeren Arbeitszeiten führen, erleben viele Wissensarbeiter heute das genaue Gegenteil: verschwimmende Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Die Balance zwischen Arbeit und Leben muss neu erlernt werden – eine weitere Facette der nachindustriellen Definition von Arbeit.
Der Bedarf an sozialer Heimat wächst
Menschen, die in neuen Formen arbeiten, die ein anderes Verhältnis zu ihrer Arbeit entwickeln, deren Identität sich mehr aus ihrem Wissen als aus der Zugehörigkeit zu einem Unternehmen speist, entwickeln nicht zuletzt einen neuen Bedarf an Sachwaltern und Ratgebern. In der Wissensgesellschaft entsteht nicht weniger, sondern anderer Bedarf an sozialer Sicherung, Kommunikation und sozialer „Heimat“. Mit der Auflösung des klassischen Betriebs und der Verschiebung sozialer Bezüge vom Arbeitsplatz in die übrige Lebenssphäre werden sich neue Formen gemeinschaftsorientierten Handelns und neue Quellen der Identitätsbildung entwickeln.
Institutionen wie die Gewerkschaften, die Gemeinschaft bilden und sich um sozialen Ausgleich kümmern, werden in einer vielfältig zersplitterten Gesellschaft vermutlich sogar wachsende Bedeutung erhalten. Neue Unternehmensmodelle und Arbeitsformen eröffnen zugleich auch neue, zum Teil deutlich bessere Durchsetzungsmöglichkeiten für Forderungen an die Gestaltung von Arbeit und Einkommen. Mit dem Vordringen neuer Arbeitsformen verlieren die alten, großflächig wirksamen, kollektiven Regelungen an Bedeutung und Funktion, stattdessen sind flexible, stärker die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen berücksichtigende Dienstleistungen gefordert.
Das heißt aber nicht, dass in der sich rascher wandelnden neuen Welt die alte Notwendigkeit zu politischer Orientierung und Organisation überflüssig würde. Im Gegenteil ist unverkennbar, dass mit dem Strukturwandel die Ungleichheiten in der Welt, die Gegensätze zwischen Gewinnern und Verlierern, zwischen Arm und Reich, sogar noch dramatisch zunehmen. Auf diese sich verschärfende Polarisierung der Gesellschaft wies übrigens schon 1947 Norbert Wiener in seinem Grundlagenwerk Kybernetik hin: „Stellt man sich die zweite (kybernetische) Revolution als abgeschlossen vor, so wird das durchschnittliche menschliche Wesen mit mittelmäßigen oder noch geringeren Kenntnissen nichts zu ,verkaufen‘ haben, was für irgendjemanden das Geld wert wäre.“
Was Menschen von Maschinen unterscheidet
Leider sind solche Einsichten bei uns noch immer nicht genügend verbreitet, denn unser industriegeprägtes Bildungssystem bereitet junge Menschen nur unzulänglich auf das vor, was Peter F. Drucker schon vor Jahrzehnten als die Anforderungen einer Wissensgesellschaft beschrieb. Folgen der Anachronismen auf allen Ebenen unseres Bildungssystems sind heute unter anderem der relativ hohe Anteil an Langzeitarbeitslosen sowie die Tatsache, dass Deutschland auf der internationalen Wohlstandsskala inzwischen ins Mittelfeld zurückgefallen ist.
Statt in den Schulen die Entwicklung neuer Fähigkeiten zu fördern, um sich in dieser neuen Welt sinnvoll orientieren und vor allem die Qualität und Entstehungszusammenhänge von Informationen besser bewerten zu können, statt also jungen Menschen vor allem das beizubringen, was Computer nicht können, lassen unsere an industriegesellschaftlichen Kategorien, Denkmustern und Werten orientierten Schultypen, Lehrpläne und Methoden erkennen, dass bei uns die Mehrzahl junger Menschen für die Arbeitswelt von gestern ausgebildet wird. Genau das beklagte der Futurologe Alvin Toffler unlängst: „Öffentliche Schulen sind in vielen Ländern nichts anderes als Fabriken, um junge Menschen mit Arbeitsfertigkeiten vertraut zu machen, die in der Fließbandfertigung benötigt werden, zum Beispiel Anweisungen entgegenzunehmen, pünktlich am Werkstor zu erscheinen, Arbeiten zu erledigen, die sich endlos wiederholen, in einer hierarchischen, bürokratischen Unternehmensstruktur zu funktionieren und so weiter.“
Diese Defizite spiegeln sich unter anderem auch in hierzulande vielerorts ausgesprochen rückständigen Managementkonzepten und Unternehmensstrukturen wider, in denen radikale (Durchbruchs-)Innovationen zu neuen Märkten weit geringere Entstehungs- und Durchsetzungschancen haben als inkrementelle Innovationen auf tradierten Feldern. Auch deshalb ist Deutschland bei traditionsreichen Investitionsgütern und bei vielen konventionellen Industrieprodukten vergleichsweise stark, hingegen auf noch relativ jungen, hochdynamischen und oft auch hochprofitablen Feldern wie etwa in der Softwareentwicklung und bei technisch anspruchsvollen IT-basierten Konsumgütern deutlich abgeschlagen.
Dieses Nachhinken im weltweiten Strukturwandel birgt angesichts des sich verschärfenden Wettbewerbs mit nachrückenden Ländern langfristig erhebliche Risiken. Diese lassen sich nur dann dauerhaft abwenden, wenn wir an den Wurzeln des Problems ansetzen und vor allem im Bereich der Aus- und Weiterbildung über die Rolle von Kreativität, Innovationen und über die komplexen Wechselwirkungen von Technik neu nachdenken. Denn eine Erkenntnis Norbert Wieners ist auch nach Jahrzehnten noch immer nicht so richtig in den Köpfen von Politikern, Bildungsplanern, Gewerkschaftern und vielen anderen angekommen: In der Arbeitswelt zählt künftig vor allem das, was Menschen von Maschinen unterscheidet, nämlich Kreativität, Emotionen, Wissen, Erfahrung und das, was man Computern (noch) nicht beibringen kann: die Fähigkeit, intelligent mit Unvorhersehbarem umzugehen.
Im Grunde erinnert bei uns so manches an die Mönche, die auch noch fünfzig Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks jedes einzelne gedruckte Exemplar Korrektur lasen, weil sie die Wirkungen der neuen Technik anfänglich gar nicht begreifen konnten. Gut möglich, dass sich spätere Generationen über unser heutiges Verständnis der Wirkungen von Informatisierung und Internet ebenfalls kopfschüttelnd amüsieren werden. «