Wie Rot-Grün 2.0 gelingen kann
Die naheliegende Frage nach den tieferen Ursachen für das vorzeitige Ende des ersten rot-grünen Regierungsbündnisses auf Bundesebene wurde in den vergangenen Jahren weder in den Parteien, noch zwischen SPD und Grünen ernsthaft verhandelt. Die SPD musste sich sofort auf einen neuen Partner einstellen und war damit beschäftigt, weiter zu regieren. Die Grünen hatten Schwierigkeiten, ihre Oppositionsrolle anzunehmen und neue Ideen und Ansätze zu entwickeln. Nun gilt es auch schon wieder, nach vorne zu schauen und den Machtwechsel in Angriff zu nehmen. So wurden wichtige Jahre der Analyse und der Neuaufstellung verschlafen. Doch der zweite Anlauf von Rot-Grün kann nur gelingen, wenn wir auf die bisherigen rot-grünen Erfahrungen blicken und daraus Schlussfolgerungen ziehen.
Parteien bestehen in erster Linie aus Programmen und Personen. Und auch Koalitionen haben es mit diesen zwei Faktoren zu tun. Beginnen wir sinnvollerweise mit den Inhalten, mit dem Programm: Bei allem notwendigen Realismus und Sachverstand, der in der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise gefragt ist, dürfen wir gerade jetzt nicht vergessen, dass Politik erkennbare Leitideen braucht, die den einzelnen Maßnahmen eine Richtung und eine Klammer geben. Das ist nicht nur ein Erfordernis inhaltlicher Kohärenz, das ist auch strategisch notwendig, um Zustimmung für das eigene politische Handeln zu gewinnen. Gerade wenn die Wellen hoch schlagen, braucht es Richtung und Kompass. Eines der größten inhaltlichen wie strategischen Defizite der rot-grünen Regierungsjahre, zumal in der zweiten Legislaturperiode, bestand darin, eine solche gemeinsame Leitidee nicht entwickelt und formuliert zu haben, auch wenn man sie manchmal erahnen konnte. Dabei ging es nicht nur um Kommunikationsdefizite, wie gelegentlich behauptet wird. Die Ideen selbst fehlten. Attraktive Koalitionen brauchen einen gemeinsamen ideenpolitischen Hintergrund, und sie brauchen gemeinsame, strahlkräftige Projekte. Das Problem am „rot-grünen Projekt“ war nicht die Rede davon, sondern dass der eigene Anspruch oft nicht eingelöst wurde.
Jetzt kommt es auf Vertrauensbildung an
Die Chance der aktuellen Krise besteht darin, neue Ideen, neue Orientierung und damit auch neue Kraft zu schöpfen. Deshalb sollte der ideenpolitische Diskurs umgehend eröffnet werden: Wie lautet unsere soziale Idee als Ausdruck von Gleichheit und Freiheit? Welches neue Bild zeichnen wir von den öffentlichen Institutionen? Wie entwickeln wir eine neue demokratische Kultur des Gehörtwerdens? Welche Fortschrittsidee legen wir unserer Wirtschafts-, Industrie-, Infrastruktur- und Technologiepolitik zu Grunde? Wie formulieren wir eine Finanz- und Steuerpolitik, die auf eine solidarische Mitte setzt, ohne den Mittelstand zu schwächen? Wie machen wir die Zukunft Europas zum Gegenstand nationaler Wahlen und Politik? Wie kommen wir zu einer gemeinsamen inklusiven Schulpolitik als zentralem Feld sozialer Ängste und Sorgen? Wie machen wir das Leben der Kinder und der Alten zum Gegenstand von Politik? Was braucht eine Politik der Inklusion? Wie lässt sich eine realistische internationale Politik der Menschenrechte und der Demokratie beschreiben? Wie bringen wir die Geschlechterverhältnisse neu auf die Tagesordnung? All das ist der Stoff, der das ideenpolitische Fundament von Rot-Grün bilden kann – wenn er jetzt bearbeitet und geformt wird.
Daher ist auch mit Blick auf das politische Führungspersonal die Suche nach dem „sachverständigen Krisenmanager“ falsch, oder besser: verkürzt. Dass die politische Lösung der Finanz- und Schuldenkrise zunehmend in die Hände von Wirtschafts- und Finanzexperten gerät, ist eine äußerst bedenkliche Entwicklung. Deren Mithilfe ist dringend erforderlich, ohne Zweifel. Die Demokratie und die politische Sphäre können sich aber nur dann behaupten, wenn die Politik auf ihre eigene Logik insistiert und entsprechend ordnungspolitisch eingreift, anstatt sich expertokratisch aufzugeben. Nur der Politiker, der Realitätssinn und Kompetenz mit Ideenreichtum und politischem Aufbruch zu verbinden vermag, wird in der Lage sein, in Regierungsverantwortung eine längere Bahn zu ziehen.
Ob Peer Steinbrück diesem Anforderungsprofil gerecht werden kann, muss sich in den kommenden Monaten erweisen. In taktischer Hinsicht spricht einiges dafür, dass Steinbrück der Union die entscheidenden Prozente in der Mitte abnehmen kann, auf die es ankommt, um stärkste Kraft zu werden. Auf diese Weise könnte sich tatsächlich eine reale Machtoption für Rot-Grün eröffnen. Ob aus einer Kandidatur Steinbrücks allerdings tatsächlich etwas Fruchtbares folgt, hängt davon ab, ob dieser bereit ist, seine Person mit für Rot und Grün belastbaren Ideen zu verbinden. Sachkompetenz und Klugheit wird Steinbrück niemand streitig machen. Jetzt wäre es ein Gebot der Klugheit, das Bild zu erweitern, das er von sich selbst aufgebaut hat: Steinbrück muss Rot-Grün klar als die Perspektive nennen, die einen politischen Aufbruch in Deutschland ermöglicht (anstatt nach einer Neuauflage der Großen Koalition zu schielen). Er müsste den Diskurs über eine gemeinsame Idee vom Sozialen, die hinter seinen wirtschafts- und finanzpolitischen Hypothesen steht – auch in ökologischer Hinsicht – aktiv aufnehmen (anstatt den hemdsärmeligen Manager zu geben, dem das alles im Weg steht). Und er müsste zu einem vertrauensbildenden Umgang nicht nur mit den eigenen Genossen, sondern auch mit den Grünen finden (anstatt Gerhard Schröder als Lonesome Rider zu übertreffen).
Jetzt sollte es darum gehen, nicht nur in der SPD, sondern auch im linken, freiheitsorientierten Spektrum insgesamt, diese Erwartungen deutlich zu formulieren und zur Voraussetzung für Unterstützung zu machen. Die Grünen werden in den kommenden Bundestagswahlkampf als eigenständige Kraft ziehen, die mit der SPD die größten Schnittmengen hat. Sie werden in den nächsten Monaten viel damit zu tun haben, ihr eigenes inhaltliches Profil zu schärfen. Wie stark die Präferenz zugunsten der SPD ausfällt, wird von den genannten Anforderungen abhängen. Rot-Grüne Treueschwüre werden sich die Grünen vor den Wahlen jedenfalls nicht abnötigen lassen, wenn die Gefahr besteht, dass ihnen nach den Wahlen – wie in Berlin von Klaus Wowereit – die Tür vor der Nase zugeschlagen wird. Es mag sein, dass es anstrengender ist, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der eigene Ideen und Vorstellungen hat. Doch die gemeinsame Anstrengung lohnt sich. Nur so können gesellschaftliche Ideen entstehen, die Politik interessant machen und dem versammelten Sachverstand eine Richtung geben. «