Wie sich die Mittelschicht selbst betrügt

Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland unterstützt seit vielen Jahren eine Politik, die allein den Privilegierten nutzt. Auch darum wächst in unserer Gesellschaft die Ungleichheit. Den Schaden tragen wir alle gemeinsam

Soziale Ungleichheit stresst. Wer in einer ungerechten Gesellschaft lebt, wird schneller krank und stirbt auch früher. Umgekehrt steigert es das Wohlbefinden und verlängert das Leben, einer möglichst egalitären Gesellschaft anzugehören. Die Menschen sind gesünder, mental stabiler und glücklicher, wenn sie nicht ständig ihren Status verteidigen oder um ihn bangen müssen. Diese Positionskämpfe machen nicht nur die Armen krank, sondern beeinträchtigen alle Schichten. Selbst die Reichsten entkommen dem Stress nicht völlig, der durch krasse Ungleichheit entsteht. Gerechtigkeit ist also nicht nur ein moralisches Gebot, sondern zunächst einmal eine ganz praktische Frage: Es geht schlicht um Lebensqualität. Dunkel haben die Gesellschaften schon immer geahnt, dass Reichtum allein nicht glücklich macht, wenn er durch die Benachteiligung der Mitbürger erkauft wird. Entsprechende Sinnsprüche finden sich bereits in der Bibel. Doch der epidemologische Nachweis ist neu. Es ist Kate Pickett und Richard Wilkinson zu verdanken, die weltweit alle einschlägigen Studien zusammengetragen haben.


Deutschland liegt dabei meist im Mittelfeld der westlichen EU-Mitgliedsstaaten – bei der Lebenserwartung genauso wie etwa bei der Häufigkeit von mentalen oder physischen Erkrankungen. Dieser epidemologische Befund passt zu den ökonomisch-sozialen Statistiken: Die Bundesrepublik befindet sich auch im Mittelfeld, wenn die Verteilungsgerechtigkeit gemessen wird. Allerdings könnte in Deutschland bald eine Dynamik nach unten einsetzen. Denn die OECD hat ermittelt, dass in keinem anderen Industriestaat die Ungleichheit schneller zunimmt. Ein Grund: Die deutschen Reallöhne sinken seit Jahren, während die Gewinne explodieren. Im Boomjahr 2007 lag die Lohnquote nur noch bei 61 Prozent. Das ist ein „Rekordtief“, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) feststellte. Gleichzeitig war erstmals zu beobachten, dass die Löhne selbst in Wachstumszeiten nicht mehr stiegen. An dem Aufschwung von 2005 bis 2008 wurden die deutschen Arbeitnehmer nicht beteiligt – auch das war einzigartig in ganz Europa.


Als markante Wende kann das Jahr 2000 gelten. Seither schrumpft die Mittelschicht rasant in Deutschland. Zur Jahrtausendwende gehörten ihr noch 62 Prozent an; 2006 waren es nur noch 54 Prozent. Dieser Trend lässt sich auch in Köpfen messen. Früher zählten 49 Millionen Menschen in Deutschland zur Mittelschicht, jetzt sind es nur noch 44 Millionen. Dafür blähte sich vor allem die Unterschicht auf: Dort sammelt sich schon ein Viertel der Bevölkerung. Zur Oberschicht wiederum gehört rund ein Fünftel der Bürger.

Abschied der Klassen? Keine Spur!

Der deutsche Staat hat diesen Trend nicht gebremst, sondern sogar noch gefördert. Vor allem die reicheren Schichten wurden weiter privilegiert. Um ein erstes Beispiel zu nennen: Der Spitzensteuersatz fiel von 53 auf 42 Prozent. Dies war ein markanter Bruch mit der Steuertradition. Im Jahr 1920 war die moderne Einkommenssteuer im ganzen Deutschen Reich eingeführt worden, und damals hatte der Spitzensteuersatz bei 60 Prozent gelegen. In der Nachkriegszeit ab 1958 schwankte er dann zwischen 56 und 53 Prozent – bis die großen Steuerreformen der rot-grünen Koalition einsetzten.


 Die Große Koalition führte dann die Abgeltungssteuer ein, die den erstaunlichen Effekt hat, dass Zinserträge niedriger besteuert werden als normale Arbeitnehmereinkommen. Gleichzeitig wurde auch die Erbschaftsteuer so reformiert, dass Firmenerben nun faktisch gar keine Steuern mehr zahlen – selbst wenn sie ein Millionenvermögen übernehmen. Auch diese Neuerung ist keine Bagatelle: Das so genannte „Produktivvermögen“ ist in Deutschland in ganz wenigen Familien konzentriert. Exakte Zahlen gibt es zuletzt von 1969, als 1,7 Prozent der Haushalte etwa 74 Prozent des Betriebsvermögens kontrollierten. Es gibt jedoch keinen Grund anzunehmen, dass sich diese Verteilung seither verändert hätte. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hält es daher für „ganz und gar irreführend, von einem Abschied der Klassen zu sprechen“.   
Wie absurd die deutschen Steuer- und Sozialgesetze sind, lässt sich auch daran ersehen, dass Millionäre weit weniger abführen müssen als normale Arbeitnehmer. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat sich einmal für das Jahr 2002 die Mühe gemacht, die Steuererklärungen der 450 reichsten Deutschen nachzuprüfen, die im Mittel über ein Jahreseinkommen in Höhe von 22 Millionen Euro verfügten. Das erstaunliche Ergebnis: Auch diese Superreichen zahlten durchschnittlich nur 34 Prozent an Einkommensteuern – „und damit deutlich weniger als den gesetzlichen Steuersatz“. Denn eigentlich wären als Spitzensteuersatz damals 48,5 Prozent fällig gewesen. Doch wie das DIW trocken feststellt, gab es für die Multimillionäre „vielfältige Freibeträge, Abzugsbeträge und andere Vergünstigungen“, die sie steuersparend zu nutzen wussten.

Multimillionäre kommen billig davon

Umgekehrt müssen aber normale Arbeitnehmer bereits bis zu 53 Prozent ihrer Arbeitskosten an Steuern und Sozialabgaben abführen, wie die OECD nachgerechnet hat. Selbst bei einem Ehepaar mit zwei Kindern, wo beide durchschnittlich verdienen, liegt die Gesamtbelastung bei 45,2 Prozent. Die Multimillionäre kommen also sehr billig davon, wenn sie nur 34 Prozent ihres Einkommens abführen. Spitzenverdiener, Beamte und Selbständige profitieren ganz wesentlich davon, dass sie nicht in die gesetzlichen Sozialkassen einzahlen müssen. Denn vor allem die Kranken- und Pflegeversicherung funktionieren faktisch wie eine Zusatzsteuer. So geht von dem Beitrag eines normalen Arbeitnehmers für die Krankenkasse etwa die Hälfte ab, um die Gesundheitskosten der Geringverdiener und Arbeitslosen abzudecken. Millionäre können sich dieser Solidarität entziehen.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass die Mittelschicht ausgebeutet wird. Sie wird weitgehend damit allein gelassen, die staatlichen Aufgaben zu finanzieren. Trotzdem wäre es unangemessen, die Mittelschicht als reines Opfer zu bedauern. Denn die Mittelschicht stellt noch immer die weitaus meisten Wahlberechtigten. Ihre Mehrheit wirkt sich an der Urne sogar überproportional aus, weil die Armen ihre Stimme oft gar nicht erst abgeben. Auch die Politik weiß genau, dass Wahlen nur mit der Mittelschicht zu gewinnen sind, weswegen alle etablierten Parteien monoman auf die „Mitte“ zielen. Die FDP etwa warb im vergangenen Bundestagswahlkampf mit dem Slogan „Die Mitte stärken“. Die Mittelschicht kann also nicht nur Opfer, sondern muss auch Täter sein. Wenn sie absteigt, dann nur, weil sie an diesem Abstieg mitwirkt. Sie selbst stimmt für eine Steuer- und Sozialpolitik, die ihren Interessen völlig entgegenwirkt.

In Deutschland haben die Wähler sogar mehr Macht als in vielen anderen EU-Staaten: Der Föderalismus sorgt dafür, dass eine Bundesregierung nicht nur alle vier Jahre die Bundestagswahl bestehen muss, sondern zwischendurch auch bei diversen Landtagswahlen abgestraft werden kann, die stets als Stimmungstest gelten und regelmäßig zu Kurskorrekturen führen. Wenn also die rot-grüne Regierung den Spitzensteuersatz von
53 auf 42 Prozent gesenkt hat, wovon allein die sehr hohen Einkommen profitierten, dann muss sie geglaubt haben, dass auch die Mittelschicht einverstanden wäre, wenn die Spitzenverdiener ein Milliardengeschenk erhalten. Ähnlich war es mit der neuen schwarz-gelben Regierung: Wieder wurden vor der Wahl Steuersenkungen versprochen, von denen vor allem die Besserverdienenden profitierten. Die neue Regierung war für die meisten Bürger ein absehbar schlechtes Geschäft – und trotzdem hat die Mehrheit diese „Koalition der Mitte“ an die Macht gewählt.

Warum also stimmt die Mittelschicht immer wieder gegen ihre eigenen Interessen? Oder um die Frage in die Terminologie von Pickett und Wilkinson zu übersetzen: Warum lassen es Gesellschaften zu, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinander geht, wenn doch diese Ungleichheit alle Schichten stresst? Nicht selten wird vermutet, dass Medien und Lobbyisten die Bundesbürger so lange gezielt verwirren, bis sie den Eliten hörig folgen. Und tatsächlich ist der Einfluss von Journalisten und Verbänden enorm – aber grenzenlos ist er nicht. Zeitungen müssen gekauft, Sendungen gesehen und Lobby-Botschaften geglaubt werden. Wer die Interessen einer Minderheit durchsetzen will, muss die Emotionen der Mehrheit berühren. Lobbyisten sind nur erfolgreich, wenn sie auf das Selbstbild der Mittelschicht zielen. Sie sprechen deren Träume und Hoffnungen an, bedienen ihre Ängste und Vorurteile. Konkret: Wenn Lobbyisten Steuersenkungen für die Reichen durchbringen wollen, dann müssen sie der Mittelschicht das Gefühl geben, dass sie ebenfalls zu den Privilegierten gehört. Man muss die Mittelschicht zum Selbstbetrug animieren.

Begütert ist die Mittelschicht keineswegs

Zunächst mag es erstaunen, dass die Mittelschicht überhaupt je der Idee verfallen sein konnte, sich in der Nähe der Privilegierten zu wähnen. Denn begütert ist die Mittelschicht nicht. Zu ihr zählt, wer zwischen 70 und 150 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Bei einem Single wären dies aktuell zwischen 1.000 und 2.200 Euro netto im Monat. Ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern benötigt zwischen 2.100 und 4.600 Euro netto, um zur Mittelschicht zu gehören. Darunter beginnt die Unterschicht, darüber schon die Oberschicht.

Wie kann es also sein, dass die Mittelschicht, mit ihrem eher bescheidenen Wohlstand, eine Politik unterstützt, die vor allem den Privilegierten nutzt? Drei Mechanismen scheinen ineinanderzugreifen. Erstens: Die Reichen rechnen sich arm und erklären sich selbst zu einem Teil der Mittelschicht. Sie verschleiern ihren Wohlstand derart gekonnt, dass völlig unklar ist, wie reich sie wirklich sind. Fest steht nur, dass Billionen Euro aus der Statistik verschwinden, weil Nettoeinkommen von mehr als 18.000 Euro im Monat nicht erfasst werden. Deutschland ist ein sehr reiches Land, aber es ist fast unmöglich, Menschen zu treffen, die sich selbst zu den Reichen zählen würden. Selbst vermögende Fürstenhäuser glauben ernsthaft, sie gehörten zur Mittelschicht. „Wir sind weiß Gott nicht reich“, sagt etwa Gloria von Thurn und Taxis, deren ältester Sohn mindestens 500 Millionen Euro besitzt.

Die Kosten des Selbstbetrugs sind enorm

Zweitens: Während sich die Reichen arm rechnen, nimmt die Mittelschicht umgekehrt nicht wahr, wie groß der Abstand zu den Privilegierten tatsächlich ist. Die Mehrheit der Deutschen hält sich für einigermaßen wohlhabend und neigt dazu, die Grenze des Reichtums knapp oberhalb ihres eigenen Einkommens und Vermögens anzusetzen. In dieser Weltsicht muss man sich also nur ein wenig anstrengen oder ein bisschen Glück haben – und schon gehört man selbst zu den Begüterten. Leistung lohnt sich, davon ist die Mittelschicht noch immer überzeugt. Und sollte man selbst nicht an die Spitze gelangen, dann könnten zumindest die eigenen Kinder Karriere machen. Der Glaube an den eigenen Aufstieg ist in der Mittelschicht ungebrochen, wie auch der Boom der Privatschulen zeigt.

Drittens: Die Mittelschicht überschätzt ihren Status auch deshalb, weil sie viel Kraft und Aufmerksamkeit darauf verwendet, sich vehement von der Unterschicht abzugrenzen. Nur zu gern pflegt die Mittelschicht das Vorurteil, dass die Armen eigentlich Schmarotzer seien. So meinen immerhin 57 Prozent der Bundesbürger, dass sich Langzeitarbeitslose „ein schönes Leben auf Kosten der Gesellschaft machen“. Aus dieser Verachtung für die Unterschicht entsteht dann eine fatale Allianz: Die Mittelschicht sieht sich an der Seite der Reichen, weil sie meint, dass man gemeinsam von perfiden Armen ausgebeutet würde.

Die Kosten dieses Selbstbetruges sind enorm. Deutschland hat sich zu einer Gesellschaft entwickelt, in der das reichste Zehntel 35,8 Prozent aller Einkünfte kassiert – und die obersten 30 Prozent der Bevölkerung fast das gesamte Volksvermögen besitzen. Und künftig dürfte die Mittelschicht sogar noch stärker belastet werden. Die Finanzkrise hat die Staatsverschuldung stark erhöht – und diese Kosten wird erneut allein die Mittelschicht tragen, wenn sie sich nicht aus ihrer Allianz mit den Oberschichten löst.

 Die Mittelschicht ahnt bereits, dass die Kosten der Finanzkrise an ihr hängen bleiben sollen. Trotzdem wendet sie sich weiter gegen die Unterschicht und nicht etwa gegen die Vermögenden. So sagen fast 65 Prozent aller Menschen, die sich selbst von der Wirtschaftskrise betroffen fühlen: „In Deutschland müssen zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden.“ Wieder gerät völlig aus dem Blick, dass vor allem die Begüterten davon profitiert haben, dass der Staat mit Milliardensummen Banken und Wirtschaft gerettet hat. Stattdessen werden nun die Armen einmal mehr zu Schmarotzern erklärt, obwohl sie die Opfer der Krise sind.

„Umverteilung“ ist ein Tabuwort in Deutschland, das noch immer an den Sozialismus gemahnt. Es ist jedoch sinnlos, nicht über Umverteilung zu sprechen, denn es wird permanent umverteilt – bisher jedoch von unten nach oben. Dabei ist eine faire Umverteilung nicht nur möglich, sondern lässt sich auch bestens mit dem Kapitalismus vereinbaren, wie die Bewältigung der Wirtschaftskrise vor 80 Jahren beweist. Damals stand der demokratische amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt ebenfalls vor der Frage, wie er die immensen Konjunkturprogramme des New Deal finanzieren sollte, die nach einer schweren Bankenkrise nötig wurden. Kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 1933 begann er daher, den Spitzensteuersatz auf schließlich 79 Prozent anzuheben. Auch die Republikaner setzten diese Politik fort, als sie ins Weiße Haus gelangten: Unter Präsident Dwight D. Eisenhower lag der Spitzensteuersatz sogar bei 91 Prozent. Der amerikanischen Wirtschaft tat dieser starke Staat gut. Nie wieder ist sie so stark gewachsen.

Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, Umverteilung sei allein deswegen anzustreben, weil es dann materiell gerechter zuginge. Wie Pickett und Wilkinson nachgewiesen haben, geht es auch um Lebensqualität: „Größere Gleichheit verbessert die Gesundheit aller – und nicht nur der Menschen ganz unten.“ «

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