Wie sich die Rolle der Parlamente in der Sicherheitspolitik verändert
Wer trifft die Entscheidung über den Einsatz des Militärs? Traditionell ist sie eigentlich dem Staatsoberhaupt eines Landes vorbehalten. In kaum einem anderen Politikbereich scheinen Regierungen so dominant und unabhängig von der Legislative handeln zu können. Dass es hierzu auch Alternativen gibt, beweist die Vielzahl westlicher Demokratien, in denen die Parlamente an militärischen Entscheidungen mitwirken. Zugleich sehen allerdings diejenigen (Nato-)Staaten, die in den vergangenen Jahren militärisch am aktivsten waren, keine oder nur eine minimale parlamentarische Beteiligung an der Entscheidung über Auslandseinsätze vor.
Der Syrien-Konflikt hat nun eine erstaunliche Wendung in dieser Frage bewirkt. Nach dem Chemiewaffeneinsatz in Damaskus schien eine militärische Strafaktion gegen Baschar al-Assad im Sommer 2013 bereits beschlossene Sache zu sein. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich wollten auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates handeln. Dann jedoch stellte Premierminister David Cameron unerwartet den Einsatz im britischen Unterhaus zur Disposition, welches parteiübergreifend dagegen stimmte. Anschließend entschied sich Präsident Barack Obama, offensichtlich auch zur Überraschung seiner engsten Berater, den Kongress zu befragen. Er band eine eigentlich bereits öffentlich verkündete Entscheidung und damit auch seine persönliche Führungsstärke an ein höchst ungewisses Votum von Senat und Repräsentantenhaus, die sich tief gespalten zeigten. Nur Frankreich unter Präsident François Hollande schien – wenn auch sichtlich düpiert – fest entschlossen, sich an einem Militäreinsatz zu beteiligen. Hollande gab die Richtung vor und Frankreich schien bereitwillig zu folgen – wie schon zuvor in Mali. Die Nationalversammlung diskutierte den Einsatz zwar, darüber abgestimmt wurde jedoch nicht.
Es waren sodann ein Lapsus von Vizepräsident Joe Biden sowie die schnelle Reaktion Wladimir Putins und Assads, die Obama aus der Bredouille halfen. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten, Russland und Syrien über die Vernichtung des syrischen Chemiewaffenarsenals verhinderte nicht nur den Militärschlag, sondern auch den Showdown zwischen Präsident und Kongress in Washington.
Bemerkenswert ist, dass alle drei Staatschefs die Legislative konsultierten, obwohl sie dazu nicht verpflichtet waren. Denn die Entscheidung über militärische Auslandseinsätze obliegt nach geltendem Recht in jedem der drei Länder allein dem Staatsoberhaupt.
Drei weitreichende Fragen von großer Bedeutung für die Zukunft drängen sich auf. Erstens: Ist das geschilderte Verhalten ein Hinweis auf eine allgemeine Parlamentarisierung von Sicherheitspolitik? Lässt sich hier ein Trend beobachten? Zweitens: Welche Auswirkungen hat eine parlamentarisierte Sicherheitspolitik? Bedeutet die Parlamentsbeteiligung zugleich einen Machtzuwachs für die Legislative? Hierzu gibt es in der Forschung gegenläufige Erkenntnisse. Und drittens: Wie sind die Entscheidungen der drei Regierungen zu erklären? Und wie könnten sie sich auf etwaige Tendenzen der Parlamentarisierung auswirken?
Ausgehend vom Theorem des „demokratischen Friedens“ hat sich die Politikwissenschaft in den vergangenen Jahren der Frage zugewandt, welche Rolle innerstaatliche Entscheidungsstrukturen für das sicherheitspolitische Verhalten eines Staates und damit für Krieg und Frieden weltweit haben können. Diese Frage beschäftigt Parlamentarismusforschung, Internationale Beziehungen und Außenpolitikanalyse gleichermaßen.
Zunächst ist festzuhalten, dass in 18 der 33 Nato- und EU-Staaten die Parlamente aufgrund rechtlicher Bestimmungen an der Entscheidung über Militäreinsatze beteiligt werden müssen. In sieben weiteren Staaten ist die Beteiligung nicht kodifiziert, jedoch politische Praxis. Die Ausgestaltung der Beteiligung unterscheidet sich dabei von Staat zu Staat. Die Formen reichen vom vollumfänglichen Vetorecht bei jedwedem Einsatz, über Einflussnahme allein in bestimmten Phasen des Entscheidungsprozesses, bis hin zu Beteiligungsrechten, die nur bei bestimmten Einsatzarten greifen (differenziert etwa nach Missionstyp, Dauer oder Rahmen des Einsatzes). Die Parlamentsbeteiligungen in Spanien und Luxemburg gehen dabei weiter als in Deutschland. Die Türkei und neun weitere Staaten haben sie in vergleichbarer Weise wie die Bundesrepublik geregelt.
Lässt sich ein allgemeiner Trend hin zu mehr (formalisierter) Parlamentsbeteiligung feststellen? Die Befunde zu der Frage sind eher ernüchternd, denn es gibt keine empirischen Hinweise für einen Zuwachs. In den letzten zwei Dekaden haben zwar diverse Staaten Parlamentsbeteiligungen eingeführt, zum Beispiel Deutschland (1994, jedoch erst 2005 kodifiziert), Spanien (2005) und die Niederlande (2000). In anderen Staaten hingegen wurden die Parlamente in dieser Frage entmachtet, etwa in Ungarn, der Slowakei und Bulgarien (jeweils im Zuge der Nato- und EU-Integration). Betrachtet man die kleine Gruppe der vier Staaten, die aufgrund ihrer Fähigkeiten für die Einsatzplanung in der Nato maßgeblich sind (USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland), so ist nur in Deutschland das Parlament zwingend an Auslandseinsatzentscheidungen beteiligt.
Mehr Parlament, weniger Militäreinsätze?
Wie wirkt sich parlamentarisierte Sicherheitspolitik auf die Entscheidungen über Auslandseinsätze aus? Hier lässt sich zunächst feststellen, dass eine Parlamentarisierung die Bereitschaft zum Einsatz von Militär im Ausland mindert. Sie konditioniert zudem die konkreten Einsatzmodalitäten. Dies konnten Untersuchungen zur Beteiligung europäischer Staaten am Irak-Krieg 2003 nachweisen. Denn die parlamentarische Beteiligung erweitert die Kontrolle der Exekutive, erhöht die Transparenz sowie den Begründungsdruck gegenüber der Öffentlichkeit und beugt damit außenpolitischen Fehlentscheidungen vor. Aufgrund ihrer größeren Responsivität gegenüber Öffentlichkeit und Medien fungieren Parlamentarier, kaum verwunderlich, als Einfallstor der öffentlichen Meinung in die praktische Politik.
Damit ist allerdings keine Gesetzmäßigkeit beschrieben im Sinne von: „Mehr Parlament bedeutet weniger Militäreinsätze.“ Denn Parlamente können eine Regierung auch zum Einsatz drängen; und der parlamentarische Einfluss muss sich nicht in einem Veto ausdrücken. Der Deutsche Bundestag hat bislang jedes ihm vorgelegte Mandat für einen Auslandseinsatz bewilligt. Ebenso stimmte das britische Unterhaus der Beteiligung am Irak-Krieg wie auch dem Libyeneinsatz zu. Parlamente nehmen oft informell, indirekt und weit vorher Einfluss auf Entscheidungen und die Ausgestaltung von Einsätzen. Denn auch wenn Verfassungen oder Gesetzestexte es suggerieren: Parlamente stehen mitnichten nur am Ende der Entscheidungskette und sind auch nicht nur auf ein Ja oder Nein beschränkt. Über eine Vielzahl informeller Steuerungsinstrumente und Kanäle (Partei, Regierungsfraktion, Ausschüsse und Arbeitskreise) können sie den Entscheidungsprozess beeinflussen. Die formell zugesicherte Zustimmungskompetenz und die damit verbundene Vetomacht ermöglichen es den Parlamentariern, auf Einsatzdauer und -raum, den Umfang sowie die eingesetzten Truppenteile und Waffen Einfluss zu nehmen. Die Abstimmung im Parlament ist dann meist nur der ritualisierte Endpunkt des gesamten Prozesses.
Zugleich gibt es aber auch berechtigte Zweifel daran, ob die Parlamente trotz ihrer formellen und informellen Kompetenzen den Entscheidungsprozess tatsächlich substanziell beeinflussen können. Globalisierung, Mehrebenenpolitik und exekutive Informationshoheit bestimmen die Einsatzentscheidung bereits auf internationaler Ebene vor und hindern die Parlamente oftmals daran, ihre Einflussmöglichkeiten effektiv zu nutzen. Die Parlamente geraten hier in ein Dilemma: Weil sie am Ende der Entscheidungskette stehen, lastet ein besonderer Druck auf ihnen, langwierige Abstimmungsprozesse im nationalen wie internationalen Rahmen nicht noch im letzten Moment zu kippen. Dadurch erhält ihr Veto besonderes Gewicht. Gleichzeitig sind sie direkt der Wählerschaft verantwortlich und müssen deren Präferenzen in den Entscheidungsprozess einbringen. Besonders in Deutschland wird dieses Dilemma deutlich. Der Bundestag wird einerseits von der Exekutive mit Verweis auf die deutschen Bündnisverpflichtungen unter Druck gesetzt, muss aber andererseits einer einsatzkritischen Öffentlichkeit die Zustimmung vermitteln. Das Ergebnis dieses Dilemmas können dann nationale Einsatzvorbehalte (so genannte caveats) sein, die dem Militär Zügel anlegen sollen.
Wie ist nun das Verhalten der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs im Syrienkonflikt zu bewerten? Betrachtet man den Fall Frankreich, so scheint alles beim Alten zu bleiben. Sicherheitspolitik – und damit die Entscheidung über Militäreinsätze – bleibt das alleinige Recht des Präsidenten. Die Nationalversammlung darf diskutieren, aber nicht mitentscheiden. Der französische Präsident wird allerdings in Zukunft öffentliche Vorfestlegungen meiden, um nicht wie im Fall Syrien von den Bündnispartnern eingefangen und desavouiert zu werden. Dies war für Paris eine schmerzliche Erfahrung.
Obamas Entscheidung, den Kongress zu Rate zu ziehen, wird verständlicher mit Blick auf die jahrzehntelange Auseinandersetzung zwischen amerikanischer Exekutive und Legislative um die Auslegung der war powers resolution. Danach muss der Präsident den Kongress über die Planung von Militäreinsätzen unterrichten und innerhalb von 60 Tagen nach Einsatzbeginn dessen Zustimmung erhalten. Bislang haben alle Präsidenten die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung in Frage gestellt. Das amerikanische Verfassungsgericht hat diesen Konflikt noch nicht entschieden, weswegen er in jeder Legislaturperiode immer wieder neu ausgefochten wird. Entscheidend sind dabei die jeweilige Stärke des Präsidenten und die Zusammensetzung des Kongresses. Den Libyeneinsatz betrieb Obama zuvor ohne die Zustimmung des Kongresses. Im Fall Syrien war die Beteiligung des Kongresses aber keine (Vor-)Entscheidung im Machtgerangel der staatlichen Gewalten, sondern eher situativ begründet: Die fehlende Legitimierung des Einsatzes durch den UN-Sicherheitsrat sollte durch eine Zustimmung des Kongresses kompensiert werden, auch angesichts erheblicher Zweifel in der Bevölkerung an der Glaubwürdigkeit des Präsidenten nach den Erfahrungen im Irak und den erheblichen Risiken eines erneuten militärischen Engagements im Nahen Osten. Hinzu kam Obamas offenkundige Unentschlossenheit, die ihm im eigenen Land als Führungsschwäche ausgelegt wurde. Die Befragung des Kongresses diente also kaum einer prinzipiellen Neujustierung der Macht im amerikanischen Regierungssystem.
Erst Deutschland, jetzt auch Großbritannien
Auch in Großbritannien dürften die fragliche völkerrechtliche Berechtigung und der mangelnde Rückhalt in der Bevölkerung angesichts der Irak-Erfahrung Premierminister Cameron dazu veranlasst haben, das Unterhaus in die Entscheidung einzubeziehen, obwohl die royal prerogative ihm die alleinige Entscheidungsgewalt über das Militär garantiert. Anders als in den Vereinigten Staaten könnte diese Abstimmung jedoch nachhaltigen Einfluss auf die zukünftige Machtverteilung zwischen Parlament und Premierminister in der Sicherheitspolitik haben. Mit Irak 2003, Libyen 2011 und nun Syrien 2013 hat sich in Großbritannien eine politische Praxis etabliert, die eine Parlamentsbeteiligung an Einsatzentscheidungen fast schon obligatorisch erscheinen lässt.
Besonders Camerons Anerkennung des ablehnenden Votums bedeutet, dass dem Unterhaus hier eine faktische Entscheidungskompetenz zugestanden wird. Dabei gibt es bereits seit 2003 Forderungen, die demokratische Kontrolle des Militärs zu stärken und die royal prerogative zu beschneiden. Unter- und Oberhaus haben Reformvorschläge erarbeitet, die den Streitkräfteeinsatz an bestimmte Voraussetzungen wie die Parlamentsmitwirkung binden sollen. Bislang wurden diese Vorschläge zwar nicht kodifiziert, die politische Praxis zeugt aber davon, dass die Zustimmung des britischen Parlaments mittlerweile auch so notwendig ist. Die Abstimmung zu Syrien, in der das Unterhaus Cameron die Gefolgschaft verweigerte, kann somit als Meilenstein auf dem Weg zur Parlamentarisierung der britischen Sicherheitspolitik verstanden werden.
Mit Großbritannien würde dann, neben Deutschland, bereits der zweite Staat aus dem für Nato- wie auch EU-Einsätze relevanten Quartett seinem Parlament eine maßgebliche Rolle im sicherheitspolitischen Entscheidungsprozess zubilligen.