Wie wollen wir im 21. Jahrhundert wohnen?

Noch vor wenigen Jahren hätte es kaum jemand für möglich gehalten: Junge und Alte zieht es wieder in die Kernstädte. Die unerwartete Re-Urbanisierung ist Ausdruck veränderter Erwartungen an Zusammenleben und Wohnqualität

Die Deutschen sind Wohnweltmeister. Zumindest, wenn Geld als Maßstab der Meisterschaft angelegt wird: In keinem anderen Land geben die Menschen so viel für Stühle und Sofas, Tische und Betten, Teppiche und Küchen aus. Im Jahr 2012 waren es durchschnittlich 380 Euro pro Kopf, vom Neugeborenen bis zum Sterbenden. Nur 10 Euro weniger geben die Schweden aus. Das erstaunt, unterstellt man ihnen doch, dass sie das günstige Wohnen erfunden haben.

Diese Zahlen einer Statistik, die alljährlich Mitte Januar zur Kölner Möbelmesse veröffentlicht wird, werfen viele Fragen auf. Zum Beispiel: Warum ist uns das Wohnen so wichtig? Selbst Fachleute können darüber nur spekulieren. Leo Lübke etwa, mittelständischer Möbelhersteller aus Ostwestfalen in dritter Generation, vermutet augenzwinkernd, dass wohl das schlechte Wetter die Deutschen dazu motiviere, in das Ausstaffieren der eigenen vier Wände zu investieren. Dagegen spricht allerdings, dass die Österreicher fast ebenso viel Geld für ihre Inneneinrichtung ausgeben – obwohl das Wetter im Alpenland als so viel schöner empfunden wird, dass die Deutschen ihren Urlaub liebend gerne dort verbringen.

Dass die Qualität des Wohnens einen großen Teil der Lebensqualität ausmacht, ist nur eine Phrase ohne Aussagekraft, wenn nicht erläutert wird, welche konkreten Eigenschaften mit dem Schlagwort „Qualität“ gemeint sind. Die Nebelschwaden lichten sich ein wenig, sobald zwischen drei räumlichen Radien des Wohnens unterschieden wird. Im ersten, engen Radius befinden sich die Wohnräume. Hier reden wir vorwiegend über Grundrisse, Möbelstücke und ihr innenarchitektonisches Arrangement. Der zweite, mittlere Radius umfasst das Gebäude, innerhalb dessen sich die Wohnung befindet. Es geht dabei im Wesentlichen um Fragen der Architektur – womit nicht nur ästhetische, sondern auch bauphysikalische und soziale Aspekte gemeint sind. Der weite Radius bezieht schließlich das stadträumliche Umfeld mit ein.

Auf den letztgenannten, den urbanen Kontext richtet sich in jüngster Zeit die öffentliche Aufmerksamkeit. Zwei Themen stehen dabei im Mittelpunkt. Zum einen die steigenden Kosten für Miete und Eigentum, zum anderen die Beteiligung der Bürger an Neubauvorhaben. Beide Themen sind eng miteinander verzahnt. Das liegt in der Natur der Sache, denn am Grundstückspreis wird die unentwirrbare Gemengelage aus widerstrebenden Interessen und Zielkonflikten sichtbar. Anders gesagt, die Parole „Lage, Lage, Lage“ gibt den Takt für den Zyklus der Immobilienpreise vor. Welche Lage aber hohe Qualität bedeutet, wird von den Menschen höchst unterschiedlich bewertet. Die Lebensstile haben sich ausdifferenziert.

Die Kommunalpolitik ist überfordert

Mit der Geschwindigkeit des Wandels der individuellen Bewertungskriterien halten viele Stadtplanungsämter nicht Schritt, die Lokalpolitik ist oft überfordert. Anscheinend hat sie die aktuelle Re-Urbanisierung völlig unvorbereitet getroffen. Damit ist gemeint, dass die Kernstädte – vor allem die prosperierenden Großstädte – seit ein paar Jahren besonders starke Anziehungskraft ausüben. Junge Menschen sind schon immer zur Ausbildung und zum Studium in die Städte gewandert. Aber jetzt ziehen sie sich als junge Familien nicht mehr zurück. Das widerspricht dem städtebaulichen Ideal der sechziger Jahre vom freistehenden Einfamilienhaus in den Vorstädten, das die Stadtplaner aus ihrem Studium verinnerlicht haben.

Hinzu kommt ein zweites Phänomen: Wohlhabende ältere Menschen ziehen neuerdings die bessere Infrastruktur der Städte (Verkehr, Kultur, Gesundheit) dem beschaulichen Leben in einer kleinen Gemeinde vor. Zusammengenommen nennt man den daraus resultierenden Effekt „Gentrifizierung“. Dieses Etikett besagt nichts anderes, als dass ein Stadtviertel für viele Menschen besonders attraktiv ist, weil es viele urbane Qualitäten vereint. Der Druck auf die beliebten Städte ist so stark gestiegen, dass die Zeitungen titeln: „Innenstädte werden zu Ghettos der Reichen.“ Mieten, die weit über 10 Euro, und Kaufpreise, die oberhalb von 4.000 Euro pro Quadratmeter liegen, können sich breite Schichten der Bevölkerung nicht leisten. Mit solchen Beträgen sind die Normalverdiener der Mittelschicht konfrontiert – rund 17 Millionen Haushalte, die über ein monatliches Nettoeinkommen zwischen 1.500 und 4.500 Euro verfügen.

Wer sich kennt, hilft sich

Nun verfallen betroffene Städte in den Reflex, umgehend so viel günstigen Wohnraum wie möglich zu schaffen: öffentlich geförderter Geschosswohnungsbau, ebenfalls ein Konzept der sechziger Jahre des vorigen Jahrtausends. Dabei entstehen meist trostlose Orte, in denen niemand auf Dauer leben möchte, weil sie nicht mit dem Ziel geschaffen wurden, qualitativ hochwertigen Lebensraum zu schaffen, sondern die Mieten niedrig zu halten. Ulrich Pfeiffer, Aufsichtsratschef der Berliner Marktforschung empirica, mahnt deshalb: Wenn 2050 die Bevölkerung geschrumpft ist und ein Drittel aller Deutschen älter sind als 65 Jahre, werden diese Gebäude, die jetzt hochgezogen werden sollen, leerstehende Ruinen sein. Sie genügen den Ansprüchen nicht, die an das Zuhause gestellt werden: zu klein, zu wenige Zimmer, ohne persönliche Freiräume und Rückzugsmöglichkeiten.

Darüber hinaus stellen sie keine Qualitäten dafür zur Verfügung, dass ein nachhaltiges nachbarschaftliches Miteinander wachsen kann. Denn Wohnzufriedenheit braucht nicht nur das Viertel, das zu den individuellen Bedürfnissen passt. Sie entwickelt sich, wenn die Generationen und Kulturen informelle Anknüpfungspunkte für das Miteinander finden. Wer sich kennt, hilft sich. Diese Nachbarschaftshilfe von Mensch zu Mensch wird umso wichtiger, je älter die Gesellschaft wird. Die Politik richtet ihre Aufmerksamkeit aber vorwiegend auf bezifferbare Quantitäten: Quadratmeterpreise, Dämmwerte, ob es Treppen gibt oder nicht. Die sozialen Qualitäten von Architektur, die klug helfen können, Interessen der Bewohner zu harmonisieren, werden kaum berücksichtigt. Ein seltenes Beispiel für dieses fortschrittliche, nutzerorientierte Architekturverständnis bietet die Sanierung des Wohnhochhauses „Tour Bois le Prêtre“ aus den sechziger Jahren im Pariser Norden. 2012 war das Modellprojekt im Deutschen Architekturmuseum ausgestellt. Das Büro Druot, Lacaton, Vassal hat den ungeliebten Bestand mit Fingerspitzengefühl und Einfallsreichtum nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem gesellschaftlich aufgewertet. Aus beengten Betonkisten sind langfristig attraktive Wohnräume entstanden: hell, großzügig und die Gemeinschaftsbildung anregend.

Der Blick in die Wohnungen hinein eröffnet die Perspektive auf das engste Umfeld. Wörtlich genommen wird dieser Blick durch viel zu viel Gegenstände versperrt, mit denen wir uns daheim umgeben. Denn das Konsumverhalten hat längst auch das Einrichten erfasst. Nach vorsichtigen Schätzungen des Verbands der Deutschen Möbelindustrie versammeln die privaten Haushalte mindestens zwei Milliarden Möbelstücke. Dennoch werden Jahr für Jahr 28 Milliarden Euro für Neuanschaffungen ausgegeben. Gibt es nicht schon längst überall genügend Stühle, Tische, Betten und Regale? An dieser Stelle wird offenbar, dass das Thema Wohnen zugleich zu viel und zu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Einerseits beherrschen mediale Berichte über oberflächliche Facetten die öffentliche Wahrnehmung: der neueste Farbtrend, das schrillste Sofa, die ausgefallenste Verfeinerung. Andererseits werden substantielle Zusammenhänge nicht ausgeleuchtet. Dafür sind nicht nur Journalisten verantwortlich. Gerade Architekten, Innenarchitekten und Designer haben es seit Jahrzehnten versäumt, die Debatte darüber in die Öffentlichkeit zu tragen, welche Steigerung der täglichen Lebensqualität möglich ist, wenn das persönliche Verhältnis der Bewohner zu ihren Dingen und der Dinge zueinander ausgelotet wird.

Die Frage nach den angemessenen Qualitäten des Wohnens lässt sich nicht pauschal statistisch beantworten. „Wie wollen wir wohnen?“ – das war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Leitfrage der Moderne zur Entwicklung einer freiheitlichen, demokratischen und friedlichen Gesellschaft. Die formalästhetischen Folgerungen ergaben sich daraus unmittelbar. Damit war gerade nicht ein eindimensionales „Schöner Wohnen“ gemeint, sondern die politische Dimension der Gestaltung von Orten, Räumen und Objekten. Für diese Wirkungen interessieren sich jetzt wieder mehr Studenten und Berufsanfänger aus Architektur und Design. Sie wollen das gesellschaftliche Verhandeln beim Entstehen und Verändern von Stadtvierteln, Häusern und Wohnungen nicht mehr auf bloße Quantitäten reduziert wissen. Wohnen ist ein zu großer Beitrag zum Gemeinwohl, um es nur den Kaufleuten oder nur den Künstlern zu überlassen. Mit den Worten Heinrich Zilles: „Mit einer Wohnung kann man einen Menschen geradeso erschlagen wie mit einer Axt.“

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