Willkommen mitten in Europa
Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Peter Struck, hat zwar, wie es sich für ihn gehört, einen roten Helm, aber seine BMW ist schwarz lackiert. Genauso wie die Yamaha der Staatsekretärin Gila Altmann von den Grünen. Albert Deß von der CSU fährt eine blaue BMW, der rote Parlamentarier Karsten Schönfeld eine grüne Maschine aus demselben Hause. Und alle zusammen, Abgeordnete, Beamte und Angestellte aus Ministerien, Parteien und Behörden fahren an rot-grünen Wegweisern vorbei in Richtung Osten.
Auch wenn Polen politisch in Richtung Westen drängt, bleibt Deutschlands Ostgrenze eine psychologische Sperre: Nur wenige zieht es im Urlaub nach Polen, Ignoranz und Vorurteile bleiben verbreitet. Grund genug für die Motorradgruppe der Sportgemeinschaft des Deutschen Bundestages, dem von Berlin aus nur einen Minitrip entfernten Nachbarn einen Besuch abzustatten.
Der Tross zieht vorbei an blühenden Wiesen. Durch die parkähnliche, extensiv genutzte Landschaft führen gute Straßen. Die Autobahn nach Warschau aber hält Überraschungen parat: Zebrastreifen und Kreuzungen sind uns auf Schnellstraßen ebensowenig vertraut wie Bushaltestellen, Fahrradwege oder Prostituierte am Straßenrand. Gerade die Ortsdurchfahrten entpuppen sich als Erlebnis. An den Straßen stehen Menschen, die jubeln und winken. Ob einer polnischen Motorraddelegation in Deutschland die gleiche Gastfreundschaft zuteil würde? Erst recht bei der Ankunft in Warschau stellt sich diese Frage.
Denn kilometerlang werden die Straßen von der Polizei abgeriegelt, um den Korso zu geleiten. Angeführt von zwei polnischen Abgeordneten auf schweren Maschinen geht es bis zum Garten des Parlaments. Dessen Präsident begrüßt diese "unübliche Form des Fremdenverkehrs". "Polen ist ein wichtiges und befreundetes Nachbarland, in das wir gerne gekommen sind", erwidert Peter Struck. "Wir wissen, wie wichtig für Polen und Deutschland der Beitritt zur Europäischen Union ist." Doch den erschöpften Bikern ist das Buffet inzwischen fast wichtiger als alles andere.
Nach einer langen Tanznacht wird die Atmosphäre am nächsten Morgen besinnlich. Mit Kranzniederlegungen und einer Schweigeminute wird den Opfern des polnischen Widerstands gegen die NS-Zwangsherrschaft und der ermordeten Juden des Warschauer Ghettos gedacht. Helm ab zur Besinnung auf ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte.
Die Metropole Warschau mit ihren Boulevards, Prachtbauten und Parks ist der Wendepunkt der Reise. Bei hochsommerlichen Temperaturen geht es zurück nach Westen. Auf dem Land scheint die Zeit stehen geblieben. Arbeit bedeutet hier noch körperliche Tätigkeit. Straßenarbeiter mit braungebrannten Oberkörpern sehen wir, Bäuerinnen, die das Heu von Hand zusammenschieben, Landarbeiter, die Reisig auf Pferdefuhrwerke laden. Die Äcker und Felder sind klein parzeliert und eingerahmt von Hecken und Feldgehölzen. Weder LPGen noch EU-Subventionen haben der Landschaft ihren Charme genommen.
Bemerkenswert intakt ist die Altstadt von Wroclaw (Breslau), dem Ziel der letzten Etappe. Wer weiß, dass in dieser "Festung" gegen die Rote Armee bei Kriegsende kaum ein Gebäude stehen blieb, kann davon nur überrascht sein. Heinz Eggert (CDU), ehemaliger sächsischer Innenminister, mit dabei auf seiner Harley, weiß warum: "Polen hat immer schon viel in Denkmalschutz investiert und gute Leute ausgebildet." Wroclaws Bürgermeister gibt der Gruppe mit auf den Weg, dass "Polen stolz ist auf seine Geschichte, aber nicht nur nach hinten schaut".
Während der Rückfahrt durchs niederschlesische Industrierevier hat dann jeder Teilnehmer noch einmal Gelegenheit, gründlich über die EU-Anwärterschaft Polens nachzudenken. Kein Zweifel: Von dieser Fahrt nehmen viele Teilnehmer ein ganz und gar neues Bild von Polen mit nach Hause. "Willkommen mitten in Europa" kann es also diesseits wie jenseits der Grenze heißen.