Wir müssen reden
Gesellschaftliche Debatten lassen sich nicht aus dem Nichts erfinden, sondern sie entstehen aus Entwicklungen, die die Menschen tatsächlich betreffen. Aber Politik kann solche Debatten aufgreifen, beeinflussen und ihnen eine Richtung geben. Im schlimmsten Fall verhindert Politik Auseinandersetzungen, wie es bei der Abschaffung der Wehrpflicht geschehen ist.
Unsere Verkehrsinfrastruktur war über lange Jahre kein Gegenstand großer Auseinandersetzungen. Diskussionen fanden vor allem regional und auf der Basis persönlicher Betroffenheit statt. Das hat sich geändert. Die Konflikte über die Zukunft unserer Verkehrswege haben zu einer neuen Qualität der öffentlichen Debatte geführt, auch weil sie derzeit mit lebhafter Beteiligung breiter Schichten ausgetragen werden. Es demonstrieren nicht mehr nur vermeintliche Randgruppen wie einst bei der Frankfurter Startbahn West. Das Synonym „Stuttgart 21“ steht stellvertretend für umstrittene Projekte wie den neuen Berliner Großflughafen BBI, die Erweiterung der Rheintalstrecke oder die Anbindung der neuen festen Fehmarnbeltquerung. Die SPD muss sich in diese Debatte dringend einschalten – mit dem Ziel, einen neuen Infrastrukturkonsens zu finden.
Großprojekte stoßen auf Widerstand
Fest steht: Der Konsens der alten Bundesrepublik hat seine Strahlkraft eingebüßt. Für die Verkehrspolitik nach der deutschen Einheit stand er noch Pate, doch vielen Menschen leuchtet der Zusammenhang „Infrastruktur gleich Wirtschaftswachstum“ heute nicht mehr ein. Der SPD-Parteivorstand formuliert es in dem Papier „Neuer Fortschritt und mehr Demokratie“ wie folgt: „Großprojekte der Energie- und Rohstoffversorgung, des Verkehrs und der Stadtentwicklung stoßen immer öfter auf Widerstand, weil die mit ihnen verbundenen Fortschrittsversprechen nicht mehr geglaubt und erfahren werden.“ Die SPD-Fraktion im Bundestag sekundiert unter dem Schlagwort „Infrastrukturkonsens 2020“, dass wir „für umfangreiche Investitionsprojekte von nationaler Bedeutung wie den Ausbau der Stromnetze die aktive Begleitung der Politik brauchen, auch um einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen“. Die SPD hat die Chance, in einem wichtigen gesellschaftlichen Diskurs wieder die Meinungsführerschaft zu erreichen. Dafür sollten wir zunächst die Frage beantworten, warum wir überhaupt in die Verkehrswege investieren müssen.
Parteien, Verbände und Interessengruppen sind sich über die Ziele der Infrastrukturpolitik schon lange uneins. Die Konfliktlinien sind vielschichtig. Es geht um die Finanzierung und den zu erwartenden verkehrlichen Nutzen von Projekten, den Zustand unserer Straßen und Schienen, umwelt- und klimapolitische Ziele, Lärm- und Abgasbelästigung, Fragen der Daseinsvorsorge, Baukultur und um demokratische Beteiligung. Eine einheitliche Auffassung oder auch nur eine Mehrheitsmeinung lassen sich nirgends feststellen. Jedes einzelne Thema wird für sich bewertet. Daher haben wir in der Infrastrukturpolitik nicht nur einen Dissens, sondern viele.
Während die Länder bereits vorsichtig nach neuen Strategien suchen – Berücksichtigung des demografischen Wandels, keine Neubauprojekte, stärkere Bürgerbeteiligung –, beharrt die schwarz-gelbe Bundesregierung auf der alten Logik: Ihr alleiniger Maßstab ist die Höhe der Haushaltsmittel für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, besonders der Straßen. Nie war der Konflikt „Beton versus Innovation“ deutlicher!
Deutschland verfügt im internationalen Vergleich immer noch über eines der besten Verkehrswegenetze und befindet sich auch deshalb in der aktuellen Rangliste des Weltwirtschaftsforums unter den fünf wettbewerbsfähigsten Staaten. Wollen wir diese Position halten, müssen wir eine neue Infrastrukturpolitik entwickeln. Zwischen neun und zehn Milliarden Euro investieren wir jedes Jahr in die Verkehrsinfrastruktur. In den Augen der Verkehrspolitiker jeder Couleur ist das viel zu wenig. Jedoch schaffen es die zuständigen Fachpolitiker in den Koalitionsfraktionen und in der Bundesregierung nicht, mehr Geld zu organisieren. Offensichtlich kann die Verkehrspolitik seit 2009 der breiten Gesellschaft und den zuständigen Haushaltspolitikern keine schlüssigen Antworten liefern, wofür das Geld ausgegeben werden soll. Es fehlen Ziele und ein Kompass. Wir müssen einen neuen Konsens herstellen, der Konflikte bereits im Vorfeld vermeiden hilft. Dafür können die aktuellen öffentlichen Debatten von Nutzen sein: Nur wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass gute Verkehrswege wichtig für die Gesellschaft sind, wird ein dauerhafter Konsens möglich.
Bildung statt Beton? Das ist zu einfach!
Wo verlaufen die zentralen Konfliktlinien? Erstens steht die Verkehrsinfrastruktur haushaltspolitisch im Konflikt mit anderen Politikfeldern und Infrastrukturen. Ein gutes Beispiel ist die konstruierte Konkurrenz mit der Bildungsinfrastruktur: „Bildung statt Beton“. So lange die Verkehrsinfrastruktur noch in einem einigermaßen guten Zustand ist, droht sie im direkten Vergleich stets den Kürzeren zu ziehen. Denn die Defizite im Bildungswesen spüren viele Bürger direkt. Hinzu kommt, dass Bildung und Wissen für ein rohstoffarmes Land enorme Bedeutung haben. Dass Deutschland aber vor allem auch ein hoch technisiertes, sehr arbeitsteiliges Industrieland ist und vom verkehrsintensiven Im- und Export lebt, wird häufig unterschlagen. Unser Ziel muss ein neuer Dreiklang sein: Bildung, Forschung und Infrastruktur. Dafür müssen wir jedoch nachweisen, welche Bedeutung funktionierende Verkehrswege für die Mobilität von Mensch und Wirtschaft haben – und dass es nicht immer nur um ein Mehr an Verkehr geht, der Lärm, Schmutz und einen verstärkten Klimawandel nach sich zieht.
Konkrete Ziele, klare Schwerpunkte
Zweitens besteht Uneinigkeit, wie das Verkehrsnetz der Zukunft aussehen soll. Der aktuelle Bundesverkehrswegeplan aus dem Jahr 2003 ermöglicht eine sinnvolle Verkehrsplanung nur zum Teil. Vor allem ist er – je nach Blickwinkel – hoffnungslos unterfinanziert oder gnadenlos überdimensioniert. Für eine Prioritätensetzung findet sich schnell Zustimmung, allerdings nur dann, wenn die eigene Betroffenheit antizipiert wird. Genau deshalb war in der Vergangenheit das Meiste letztlich prioritär. Zweifellos bilden sich auf viel befahrenen Verkehrswegen immer mehr „Flaschenhälse“, die den Verkehrsfluss behindern. Gleichzeitig wollen wir auch dünn besiedelte Räume anbinden. Sollen wir uns also auf ein Kernnetz konzentrieren oder die Versorgung in der Fläche weiter garantieren? Eigentlich sollte es sozialdemokratischer Anspruch bleiben, eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Aber ist das in einem guten Kosten-Nutzen-Verhältnis machbar?
Erst wenn diese Frage beantwortet ist, kann man sich dem Folgeproblem widmen: Brauchen wir einen weiteren Ausbau – und wenn ja, wo? Oder müssen wir uns auf den Erhalt der bestehenden Verkehrswege konzentrieren? Sollten wir unsere Planung weiter „am Bedarf“ ausrichten oder über ein Zielnetz nachdenken, orientiert an rein übergeordneten Kriterien wie weniger Flächenverbrauch und Verkehr? Auch dabei dürften industriepolitische Argumente natürlich nicht ausgeblendet werden.
Drittens sollte geklärt werden, in welche Arten von Infrastruktur wir verstärkt investieren wollen. Straße und Schiene stehen sich fast unversöhnlich gegenüber: Geht es um mehr individuelle Mobilität oder um eine an der Daseinsvorsorge ausgerichtete Organisation des öffentlichen Verkehrs? Kommt mehr Güterverkehr auf die Schienen, entlastet das die Straßen und ist umweltfreundlich. Allerdings stimmen die bisherigen Erfahrungen mit der Verlagerung wenig hoffnungsvoll; schon jetzt bestehen Kapazitätsengpässe. Außerdem bietet die Straße den Nutzern noch immer die höchste Flexibilität. Auch hier zeigt sich: Wir brauchen konkrete Ziele und klare Schwerpunkte, statt zu versuchen, möglichst alles gleichzeitig zu erreichen.
Intakte Straßen und Bahntrassen gelten als selbstverständlich
Schließlich gerät unsere Verkehrsinfrastruktur viertens immer wieder zwischen die Fronten von Umwelt- und Wirtschaftsinteressen. Gegen Lärm, Flächenverbrauch oder für den Klimaschutz lassen sich die Bürger leicht mobilisieren. Die Bedeutung von funktionierenden Verkehrswegen für den eigenen Arbeitsplatz oder unseren Wohlstand leuchtet vielen nicht mehr ein. Gut erhaltene Straßen oder Schienentrassen werden als selbstverständlich wahrgenommen. In Wirklichkeit sind Umwelt- und Lärmschutz immer mit Kosten verbunden, die nicht allein aus Steuermitteln zu finanzieren sind. Transparenz ist der wichtigste Schlüssel, um einen Zielkonsens zu erreichen. Zudem müssen wir in der Öffentlichkeit ein stärkeres Bewusstsein für die Bedeutung von Infrastruktur schaffen.
Fünftens sind sich die verkehrspolitischen Akteure uneinig, wie wir unsere Verkehrswege effizienter nutzen können. Mehr Effizienz bedeutet eine bessere Auslastung unserer Straßen- und Schienenwege und damit hoffentlich auch weniger Verkehr. Dabei existieren verschiedene Möglichkeiten: Erreichen wir Effizienz am besten durch Anreize und technische Innovationen oder mithilfe von Verboten? Es kommt darauf an, die Interessen von Wirtschaft und Verbrauchern in Einklang zu bringen und Verteilungskonflikte zu vermeiden.
Heute die Mobilität von morgen planen
Ein wirklicher neuer Infrastrukturkonsens wird sechstens einen Finanzierungskonsens einschließen müssen: Brauchen wir neben der Steuer- auch mehr Nutzerfinanzierung? Derzeit werden Straßen und Schienen vornehmlich aus Steuermitteln finanziert. Mit Einführung der Schuldenbremse gibt es für neue Verkehrsprojekte ein Argument weniger: Investitionen können heute keine höhere Neuverschuldung mehr begründen. Maßnahmen wie Öffentlich-Private Partnerschaften oder eine Kreditfinanzierung außerhalb des Haushalts sind keine umfassenden Lösungen, während Nutzergebühren unpopulär und umstritten sind. Allerdings wäre es fahrlässig, nicht auch eine PKW-Maut in Erwägung zu ziehen.
Es geht darum, die externen Kosten des Verkehrs angemessen mit einzubeziehen. Wo bereits Transportkosten abgerechnet werden (Beispiele sind die LKW-Maut oder Trassenpreise bei der Schiene), umfassen sie nicht alle Kosten, die der Transport von Gütern und Personen tatsächlich verursacht. Die Frage lautet, ob externe Kosten einberechnet werden müssen (und wenn ja, welche), oder ob der Status quo erhalten bleiben soll, damit Mobilität bezahlbar bleibt. Und muss eigentlich immer der Transporteur alle Kosten tragen? Denkbar wäre, dass der Staat schon dem Produzenten einer Ware entsprechende Kosten aufbürdet. Das mag jeder eingefahrenen volkswirtschaftlichen Logik widersprechen, kann aber für mehr Transparenz bei der Anlastung öffentlicher Verkehrskosten sorgen. Transparenz ist auch bei alternativen Finanzierungswegen notwendig. Beispielsweise können Öffentlich-Private Partnerschaften im Straßenbau gelegentlich sinnvoll sein, werden aber aufgrund mangelnder Transparenz der Verträge diskreditiert.
Siebtens führen immer öfter baukulturelle, ästhetische oder städtebauliche Aspekte zu neuen verkehrspolitischen Konflikten. Bauwerke stehen nicht mehr unisono für Moderne, Fortschritt und Optimismus. Wie passt sich die Verkehrsinfrastruktur in unsere Kulturlandschaft und unsere Städte ein? Uns muss klar sein, dass wir solche Fragen nicht an Planfeststellungsverfahren delegieren können.
Die Herausforderung besteht darin, heute eine Infrastruktur für die Mobilität von morgen zu planen – ein Blick auf den aktuellen Stauatlas greift zu kurz. Bei all dem dürfen Sozialdemokraten die soziale und industriepolitische Dimension von Mobilität nicht aus dem Blick verlieren – trotz Klimawandel. «
Die Autoren vertreten in diesem Beitrag ausschließlich ihre persönliche Auffassung.