Wir neuen Deutschen
Wir finden, dass es sich verdammt gut lebt in diesem Land, von dem wir nicht wissen, wie wir es nennen sollen: Heimat? Zuhause? Fremde? Unser Deutschland – oder doch: euer Deutschland?
Wir sind hier aufgewachsen, wir haben hier Deutsch gelernt, sind hier zur Schule gegangen und haben uns an den Wohlstand gewöhnt, der uns immer dann bewusst wurde, wenn wir die Kargheit in der Heimat unserer Eltern sahen; wenn wir Verwandte besuchten und unsere Eltern ihnen Geld gaben oder Geschenke aus Deutschland mitbrachten. Wir sahen unser Spielzeug, das vielleicht nicht so schön war wie das von deutschen Kindern, aber wenn wir es mit dem unserer Cousins und Cousinen in Polen, Vietnam oder in der Türkei verglichen, spürten wir: Ganz gleich, wie arm oder reich unsere Familien waren, in unseren Leben gab es keinen wirklichen Mangel. Und keine Angst, zumindest nicht solch eine, wie wir sie bei unseren Verwandten ahnten: weil sie kaum genug zum Leben verdienten, weil bei ihnen die Lebensmittel knapp waren, weil sie nicht frei ihre Meinung sagen durften. Wir dagegen fuhren auf Klassenfahrt, jobbten nach der Schule im Altenheim, gaben Nachhilfe oder räumten für zehn Mark die Stunde im Supermarkt Regale ein, um unser Taschengeld aufzubessern. Wir waren Heranwachsende in Deutschland.
Erst sehr viel später verstanden wir, dass es einen großen Unterschied ausmacht, ob man Heranwachsender in Deutschland ist oder deutscher Heranwachsender. Spätestens wenn wir nach der Schule heimgingen und die Türschwelle überschritten, kehrten wir zurück in die Fremde, die sich vertraut anfühlte. Es lief irgendein türkischer Fernsehsender, Polnisch oder Vietnamesisch erklang aus der Küche, und abends baten uns die Eltern, ihre Briefe auf Fehler durchzusehen. Daheim erlebten wir eine andere Welt als tagsüber in der Schule. Unser Zuhause war nicht deutsch, unsere Familien waren nicht deutsch. Wir waren anders, weil unsere Eltern, ihre Leben und ihre Sorgen anders waren als die der Familien unserer Mitschüler.
»Migrationshintergrund« – was für ein merkwürdiges Wortungetüm
Unsere Biografien sind sperrige Hybride, die für Eindeutigkeiten nicht taugen. Khuê Pham mag ein vietnamesischer Name sein und Özlem Topçu ein türkischer, aber weder ist die eine Vietnamesin noch die andere Türkin. Beide wurden in Deutschland geboren; die eine wuchs hier auf, die andere lebte lediglich als Kind für drei Jahre in der Türkei. Der Name Alice Bota klingt deutsch, aber er hat diesen Klang erst angenommen, als aus einer Alicja eine Alice gemacht wurde. Sie kam als Achtjährige nach Deutschland, als Einzige von uns dreien besitzt sie zwei Pässe. Khuê Pham stammt aus einer aufgestiegenen Bildungsbürgerfamilie; Özlem Topçu ist ein Arbeiterkind und hat als Erste in der Familie studiert; Alice Bota hat erlebt, wie ihre Akademikereltern in Deutschland wieder von vorn anfangen mussten. Unsere größte festzustellende Gemeinsamkeit: Wir haben einen „Migrationshintergrund“.
Es ist ein merkwürdiges Wortungetüm. Die deutsche Verwaltung hat es vor einigen Jahren eingeführt, um Ordnung zu schaffen, weil die Dinge unübersichtlich geworden sind. Weil in Deutschland Eingebürgerte leben, die bleiben möchten; Ausländer, die womöglich wieder gehen wollen; weil sie Kinder haben, von denen einige einen bundesrepublikanischen Pass haben und andere nicht. Das Wort verrät sich selbst: Es versucht eine Definition, die offenbart, wie vage das Konzept von Deutsch-Sein und Nicht-deutsch-Sein ist. Es verrät nicht viel über einen Menschen. Wir sind Musliminnen, Katholikinnen, Atheistinnen; wir sind Schwestern, Töchter, Ehefrauen, wir kommen aus unterschiedlichen Städten, wir haben unterschiedliche Interessen, und für die Zukunft stellt sich jede von uns etwas anderes vor. Nur eines kommt uns nicht in den Sinn: zurückzukehren in ein ominöses Heimatland. Denn das haben wir nicht. Wir sind hier daheim. Auch wenn wir uns oft fremd fühlen.
Wir sind in Deutschland mit dem Wunsch aufgewachsen, dazuzugehören. Wir haben hart gearbeitet, um in dieser Gesellschaft etwas zu erreichen und wir spüren Wut. Darüber, in einer Gesellschaft zu leben, in deren Selbstverständnis wir nicht vorkommen. Darüber, Teil einer Veränderung zu sein, die von den meisten lieber verdrängt wird. Bislang haben vor allem andere definiert, was deutsch ist; vorwiegend weiße, männliche, heterosexuelle Akademiker, die in den Institutionen, den Redaktionen, den Vorständen oder den Regierungen sitzen. Jetzt wollen wir selbst benennen, wer wir sind. Und was deutsch ist. Wir, Kinder von Ausländern, groß geworden in einem bundesrepublikanischen Leben, herumgekommen in einem geeinten Europa nach 1989, suchen Worte für ein Selbstverständnis, das nicht ganz einfach zu finden ist. Uns fällt die Bezeichnung „neue Deutsche“ ein.
Wann begann das Anderssein?
Es ist kein Pass, der jemanden zum neuen Deutschen macht, es ist nicht sein Erfolg oder das Ergebnis eines Einbürgerungstests – es ist ein Selbstbewusstsein, das wir genährt haben aus Wut und Stolz. Wut, weil wir das Gefühl haben, außen vor zu bleiben; weil es ein deutsches Wir gibt, das uns ausgrenzt. Und Stolz, weil wir irgendwann beschlossen haben, unsere eigene Identität zu betonen. Sie einzubringen. Ohne danach zu suchen, haben wir dieses Gefühl, diesen Begriff bei anderen gefunden, denen wir begegnet sind. Harris, Sohn einer deutschen Mutter und eines schwarzen Amerikaners, Rapper, hat sich selbst zum neuen deutschen Patrioten erklärt. Naika Foroutan, Soziologin mit deutscher Mutter und iranischem Vater, benutzt den Begriff, um in ihrer Forschung die neuen Deutschen von den alteingesessenen zu unterscheiden. Es gibt viele andere, die sich intuitiv so nennen. Unsere Gleichung ist einfach: Wir sind Teil dieser Gesellschaft. Wir sind anders. Also gehört die Andersartigkeit zu dieser deutschen Gesellschaft.
Wir können uns nicht mehr daran erinnern, wann es begann, eine Rolle zu spielen, das Anderssein. Über die Jahre schlich sich dieses Gefühl ein, weil jede von uns irgendwann Geschichten erlebt hat, die bloßlegten, wer in Deutschland als fremd gilt und was es heißt, fremd zu sein. Meistens traf es unsere Eltern. Da wurde die türkische Mutter in einem Geschäft nicht bedient, weil sie gebrochenes Deutsch sprach. Da sagte ein Kollege zu dem polnischen Vater, er würde am liebsten die ganzen Polacken und Russen über den Haufen schießen, weil sie den Deutschen die Arbeitsplätze wegnähmen. Da wurde der vietnamesische Vater, ein Arzt, auf der Straße als Zigarettenschmuggler angesprochen. Da sagte der Lehrer, als es Ärger in der Schule gab, es solle doch der Elternteil anrufen, der besser Deutsch spreche; man habe keine Lust, sich abzumühen. Dabei sprachen beide Deutsch, nur eben mit diesem fremden Akzent. Unsere Eltern hielten sich nicht lange mit solchen Bemerkungen auf, sie gaben sich unempfindlich. Sie mögen gedacht haben, dass dies der Preis ist, den man zahlen muss, wenn man als Fremder in ein neues Land kommt. Sie hielten uns an, Leistung zu bringen, es den anderen zu zeigen, ihnen keine Schande zu machen, was sollten sonst die Deutschen von ihnen denken? Für uns aber war dieses Deutschland nicht fremd; es war unser Land.
Weil wir hier sind, werfen wir Fragen auf, mit denen sich Deutschland vorher nicht beschäftigen musste. Darf eine Lehrerin ein Kopftuch tragen? Und wenn nicht, darf dennoch in Klassenzimmern ein Kruzifix hängen? Darf ein Mädchen dem Schwimmunterricht fernbleiben, weil ihre Eltern es so wollen? Sollten wir zwei Staatsangehörigkeiten besitzen dürfen, oder stellt das unsere Loyalität als deutsche Staatsbürger in Frage? Und funktioniert dieses Verständnis überhaupt noch in der globalisierten Welt? Was bedeutet es eigentlich, sich zu integrieren?
Für uns bedeutet es, dass es Werte gibt, die nicht verhandelbar sind: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören dazu. Eine Gesellschaft, die auf diesen Werten beruht, respektiert die Selbstbestimmung der Menschen, auch wenn es nicht allen gefällt, was Einzelne mit ihr anfangen. Sie muss viel aushalten, manchmal muss sie ertragen, was nicht zu ertragen ist: den reaktionären Vater, die gleichgültige Mutter, die abgeschottete Familie. Sie ist nicht von Angst getrieben, sondern von Mut. So eine Gesellschaft akzeptiert, dass Scheitern ein Teil von ihr ist, weil Scheitern immer auch ein Teil des Lebens ist. Und sie fragt danach, warum jemand scheitert, warum ihr jemand entgleitet – und nicht, wann diese Menschen endlich wieder weggehen und wie man sie loswerden könnte. Doch genau das schwingt mit, wenn darüber diskutiert wird, wer zu dieser Gesellschaft gehört und wer nicht.
Vor kurzem hat der Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, ein Buch veröffentlicht, Neukölln ist überall. Es wurde sogleich zum Bestseller. Buschkowsky beschreibt darin den rauen Ton auf den Straßen des Berliner Problembezirks, die herumlungernden Deutsch-Türken und Deutsch-Araber, die sich nicht an Regeln halten und andere als „Opfer“ beschimpfen. Er beschreibt, dass viele Menschen vom Rest der Gesellschaft abgehängt sind; dass es keine Chancengleichheit gibt; und dass Aufsteiger, ob Zuwanderer oder Deutsche, Stadtteile wie Neukölln verlassen, so schnell sie können. Aber in dem Buch drückt sich auch eine tiefe Angst vor einer Überfremdung dieses Landes aus. In zehn bis fünfzehn Jahren werde Nord-Neukölln einen Einwandereranteil von 80 Prozent haben. Und das sei vor allem gleichbedeutend mit dem Anwachsen archaischer Lebensweisen und fremder kultureller Riten, die zu Deutschland nicht passen.
Buschkowsky und die Angst vor Menschen mit anderer Herkunft
Buschkowskys Buch ist ein Bestseller, seine Lesungen sind gut besucht – nicht weil er der Gesellschaft Hoffnung macht, sondern weil er behauptet, über die angeblich gescheiterte Integration aufzuklären. Offenbar glauben viele Deutsche, dass Migranten nicht nur ihr Land bedrohen, sondern dass diese Bedrohung auch totgeschwiegen wird.
Wir aber fragen uns: Von was für einer Gesellschaft ist dort eigentlich die Rede? Die Bücher von Buschkowsky und Sarrazin, die Masse an hasserfüllten Blogs im Internet, das Gerede von der deutschen Leitkultur, die Gehört-der-Islam-zu-Deutschland-Diskussion – für uns bietet nichts davon eine positive Vorstellung an von dem, wie unser Deutschland sein könnte. Es kommt uns so vor, als gehe es nicht darum, soziale Probleme anzupacken, in denen migrantische Familien allzu oft leben. Vielmehr scheint es eine Angst vor Menschen zu geben, die eine andere Herkunft haben. Als müsste man diese Menschen abwehren, sobald sie nicht bereit sind, den fremden Teil in sich abzulegen. Als Otto Schily noch Bundesinnenminister war, sagte er einmal, die beste Integration sei Assimilation. Er bekam dafür eine Menge Beifall. Wer glaubt, dass diese Meinung vor Jahren geäußert wurde und heute keine Begeisterung erntet, der irrt. Und es sind nicht nur die Rechten oder Konservativen, die solchen Sätzen zujubeln. Es ist paradox: Einerseits rang die SPD lange mit sich, eine Quote für Migranten einzuführen, bevor sie sich dagegen entschied; andererseits wurde die Deutschtürkin Aydan Özoguz, seit einem Jahr im SPD-Parteivorstand, ausgebuht, als sie kürzlich bei einer Veranstaltung erzählte, dass es ihren Eltern wichtig war, sie auch in der türkischen Sprache zu erziehen. Es waren ihre Genossen, die sie dafür auspfiffen, dass ihre Eltern einen Teil ihrer Kultur erhalten und an die Tochter weitergeben wollten.
Mehr als ein Drittel der Deutschen findet, dass Deutschland „in einem gefährlichen Maß überfremdet ist“, so eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2010. Die Hälfte der Befragten sagte, dass es zu viel Einwanderung gebe. „Überfremdet“ ist ein aggressives Wort. Es klingt nach gewaltsamer Übernahme, nach Überfall, es klingt nach Bedrohung. Sobald wir es hören, fühlen wir uns angesprochen. Und sind irritiert: Bedrohen wir denn irgendwen? Nehmen wir irgendjemandem etwas weg? Wir führen doch nur unsere ganz normalen Leben!
Als Deutschtürkin muss Özlem Topçu jedes Mal Stellung nehmen, wenn irgendwo auf der Welt ein islamistischer Terroranschlag geschieht. Sie wird dann als Muslimin wahrgenommen, nicht als Individuum und schon gar nicht als Deutsche. Bei Khuê Pham bestimmen die schwarzen Haare und der fremde Name die Wahrnehmung: Die Hautfarbe ist wichtiger als der deutsche Pass. Ganz anders ist es bei Alice Bota. Weil sie mit heller Haut, blauen Augen und ihrem Namen nicht auffällt, wird sie nicht als Migrantin wahrgenommen, obwohl die Jahre in Polen ein prägender Teil ihres Lebens sind. Vom Pass, von der Sprache, von unserer Sozialisation her sind wir alle Deutsche. Warum die eine fremd gemacht wird und die andere nicht, darüber entscheiden andere nach wechselnden Kriterien.
Die Ablehnung trifft mal die eine Gruppe, dann wieder die andere und seit einigen Jahren vor allem die Türken und Araber; was bleibt, ist das Gefühl, jederzeit ausgegrenzt werden zu können. Es gräbt sich als Minderwertigkeitskomplex in die Seele ein. Dort lauert es und flüstert: „In Wahrheit gehörst du nicht hierher.“ Jedes Mal, wenn von Betrug, Überfällen und Anschlägen die Rede ist, zucken wir zusammen und hoffen, dass der Täter kein Muslim, kein Russe, kein Asiate, kein Pole ist.
Die bösen Migranten und die guten
In unserem Alltag hören wir immer wieder, Migranten sei Bildung nicht wichtig, Türken seien rückständig, nicht integrierbar und Osteuropäerinnen nur als Nutten oder Putzfrauen tauglich. Wenn wir widersprechen, wenn wir an unsere Arbeit und unsere Familie erinnern, die offenbar kurz vergessen wurden, dann heißt es: Ihr, ihr seid doch angekommen. Ihr habt euch integriert. Ihr bringt diesem Land ja etwas. Ihr seid doch nicht gemeint. Doch, sind wir.
Wir mögen die Sprache perfekt beherrschen und für eine große deutsche Zeitung arbeiten, aber wir kommen aus Ausländerfamilien. Manche unserer Verwandten und Bekannten sind einen anderen Weg gegangen, sprechen die Sprache mit Akzent, haben in schlechteren Phasen ihrer Leben staatliche Hilfe benötigt – sind sie wirklich so anders als wir? Das verachtende Spiel vom bösen und guten Migranten wollen wir nicht mitspielen.
Und wir drei sind nicht allein: Mehr als 16 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Viele von ihnen fühlen sich als Deutsche, weil sie hier geboren sind und keine andere Heimat kennen. Oder weil sie beschlossen haben, hier ihre Leben zu verankern. Ihre Biografien, vor allem aber die ihrer Kinder, Migranten der zweiten oder dritten Generation, werden in der deutschen Gesellschaft immer sichtbarer. Wir gehören zu einer Minderheit, die in diesen Jahren so groß wird, dass sie zu bedeutend ist, um weiterhin ignoriert zu werden. Wir sind Leser und Hörer, wir sind Zuschauer und Käufer. Wir sind Konsumenten und Wähler, und wir sind es gern. Wir merken es, wenn Biografien wie unsere in den Redaktionen und Parteien nicht vorkommen. Wer könnte sich das schon leisten, auf die Kaufkraft, den Gestaltungswillen und die Perspektiven von Millionen Menschen zu verzichten? Wir spüren: Wir haben Macht, vielleicht zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Aber wir stehen noch ganz am Anfang.
Wir wollen unseren Blick einbringen, denn wir sehen dieses Land mit anderen Augen: Seine subtilen, manchmal unsichtbaren Mechanismen von Ausgrenzung und Akzeptanz erkennen wir deutlicher als andere. Seine Abwehr gegen das Neue und Fremde spüren wir am eigenen Leib. Die Ablehnung wurzelt selten in Rassismus, eher ist sie eine Form der Verdrängung und Abwertung. Dass hier jeder Fünfte ein Einwanderer ist oder ein Kind von Einwanderern, ist vielen Deutschen nicht bewusst. Ihr Bild von diesem Land ist genauso veraltet wie ihr Bild von den Migranten, die in der schlichtesten Vorstellung bedürftig, belastend und bedrohlich sind. Warum aber kann Deutschland keinen Stolz darauf empfinden, dass es Einwanderer anzieht? Und warum ist es nicht selbstbewusst genug, sie als Bereicherung zu empfinden?
Warum Parteien alter weißer Männer keine Zukunft haben
In Einwanderungsländern wie Großbritannien und Frankreich gibt es ethnische und soziale Spannungen, die sich manchmal heftig entladen, und trotzdem trifft man Algerier, Marokkaner und Pakistaner, die selbstverständlich von sich sagen, sie seien Franzosen oder Briten. Im französischen Kabinett sitzen Minister koreanischer, algerischer, spanischer und guadeloupischer Herkunft. Über Großbritannien sagt ein englischer Diplomat: „Wer weiß schon, wie ein Brite aussieht?“ Und in den USA hat sich gerade bei der Präsidentenwahl gezeigt, dass sich die Minderheiten, die Schwarzen, die Latinos, die Asian Americans, aber auch die Schwulen, Lesben und Armen von den Republikanern, der Partei der weißen, älteren Männer nicht verstanden fühlten – einer Partei, die sie ausgrenzt und nur eine Politik des Gestern für die Gesellschaft von Morgen anzubieten hat. Sie wählten Barack Obama, der in seiner Dankesrede das Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft mit den Worten zusammenfasste: „Was Amerika so einzigartig macht, das sind die Bindungen, die diese diverseste aller Nationen der Welt zusammenhalten.“ Diversität klingt hier wie eine Einladung, wie ein Wunsch, nicht wie eine Bedrohung – trotz aller Probleme, die das Land hat.
Für Amerika wurde die Ankunft der Pilgrim Fathers, der Aufbruch in das Neue, zum Gründungsmythos. Auch wenn der amerikanische Traum rissig geworden ist, er lockt noch immer: den mexikanischen Arbeiter, die koreanische Nanny, den schwarzen Stipendiaten. Die Gesellschaft hat nie vergessen, dass es sie ohne Einwanderung nicht geben würde. Orte wie Ellis Island, das zum Museum der Einwanderung wurde, erinnern daran. In Deutschland gab es immer nur das Haus der Auswanderung – das sich erst seit diesem Jahr auf einer zusätzlichen Fläche auch mit der Einwanderung nach Deutschland befasst.
Der deutsche Gründungsmythos ist noch recht jung: Er beginnt mit dem 8. Mai 1945. Der Anfang der Bundesrepublik steht für das Ende des Zweiten Weltkrieges, die Rückkehr in die Zivilisation nach dem Holocaust; für Frauen, die Ziegel um Ziegel zerbombte Städte wieder zusammenfügten; für Nachkriegsgenerationen, die ein demokratisches System aufzubauen hatten; für den kompensatorischen Fleiß der Schuldiggewordenen, der zum Wirtschaftswunder führte; für eine Sehnsucht nach Stabilität und Ordnung. Aber die deutsche Selbsterneuerung wurde von zerrissenen Gefühlen begleitet. Das Neue schöpfte sich nicht aus einem Gefühl des Aufbruchs, sondern aus der Übereinkunft, dass sich die Vergangenheit niemals wiederholen durfte. Man misstraute sich selbst – und versäumte es, eine entscheidende Frage zu stellen: Was für eine Gesellschaft wollen wir sein?
Nicht nur Horst Seehofer leugnet die Wirklichkeit
Seit den sechziger Jahren kommen Einwanderer nach Deutschland. Vor allem als Arbeiter, die man brauchte, aber nach ein paar Jahren auch wieder nach Hause schicken wollte. Dass sie bleiben und Familien gründen würden, hatte niemand vorhergesehen. Als die Wirtschaft in den siebziger Jahren stagnierte, die Rezession einsetzte und die Energiekrise ausbrach, hieß es, die Einwanderer würden den Deutschen die Jobs wegnehmen. Heute heißt es, sie nutzten das Sozialsystem aus und bedrohten christliche Werte. Als der CSU-Chef Horst Seehofer 2010 erklärte, Deutschland sei kein Einwanderungsland, lebten bereits 16 Millionen Menschen mit einem so genannten Migrationshintergrund hier. Seehofer leugnete, was seit einem halben Jahrhundert Wirklichkeit ist: dass nicht nur Deutsche, sondern auch Türken, Griechen, Italiener dieses Land aufgebaut haben und dass Deutschland sehr viele Gründe hat, stolz auf sich selbst und auf seine Einwanderer zu sein. Als es Özlem Topçus Mutter Nazife vor mehr als 30 Jahren als Gastarbeiterin aus der Türkei nach Flensburg im Norden Deutschlands verschlug, da fragten sie ihre Kollegen bei der Ankunft: Und wann gehst du wieder? Nazife Topçu dachte nie lange über diese Frage nach. Sie arbeitete, bis ihr Körper zerschunden war. Und als sie nach über 30 Jahren in Rente ging, da hatten ihre jahrelangen Kollegen nur eine Frage an sie: Und wann gehst du wieder in die Türkei zurück?
Deutschland geht zwiespältig mit seinen Migranten um. Selbst Integrationsskeptiker wissen, dass dieses Land auf sie angewiesen ist: Die Deutschen bekommen seit Jahren zu wenige Kinder, und die Bevölkerung ist im Durchschnitt zu alt, um das Sozialsystem auf Dauer finanzieren zu können. Und dem Land gehen die Fachkräfte aus: Dem Forschungsinstitut Prognos zufolge werden schon im Jahr 2015 drei Millionen Arbeitskräfte fehlen. Die Deutschen wissen, dass es in dieser Zeit der Globalisierung Zuwanderer mit Sprachkenntnissen, Verbindungen in andere Länder und mit Auslandserfahrung braucht. Wer hochqualifiziert ist, wird willkommen geheißen; diese Einwanderer will man anwerben. Aber was ist mit denen, die schon hier leben? Die mal gut, mal schlecht ausgebildet sind? Jeder Vierte unter 25 hat einen Migrationshintergrund – eine zerrissene Generation wächst in Deutschland heran. Identifiziert sie sich mit diesem Land oder zieht sie den Schluss, nun einmal nicht dazuzugehören? Will sie in dieser Gesellschaft etwas erreichen oder will sie sich entziehen?
In den letzten Jahren betonen immer mehr neue Deutsche ihren Platz hier, in Büchern wie Sie sprechen aber gut Deutsch oder dem Manifest der Vielen. In deutschtürkischen Vereinen wie der „deukischen Generation“ oder in Forschungsprojekten, die sich „Heymat“ nennen und hybride Identitäten untersuchen. Sie drehen Heimatfilme wie „Soul Kitchen“, sie beschreiben ein anderes deutsches Lebensgefühl; eines, das sich selbst benennen will. Es besteht nicht nur aus Wut über Ausgrenzung, sondern auch aus Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Was da heranwächst, ist eine dritte Identität jenseits von Deutschsein und Fremdsein.
Aber manche resignieren und schotten sich ab. Sie fühlen sich nicht akzeptiert, und sie akzeptieren Deutschland nicht. An den Schulen von Berlin-Kreuzberg und Neukölln, in denen türkisch- und arabischstämmige Schüler in der Mehrheit sind, berichten Lehrer davon, wie Deutsche fertiggemacht werden. Die Täter kommen überwiegend aus Familien, die sozial schwach sind, abgehängt. Die Eltern impfen ihnen Traditionen ein, an die sich ihre Kinder zu klammern lernen: Religion, Ehre, Patriarchat. Es sind Migranten der zweiten und dritten Generation, die nie in der alten Heimat gelebt haben, aber auch nie in Deutschland angekommen sind. Auch sie sind wütend, auch sie wollen irgendwo dazugehören. Aber sie heften ihren Blick starr auf ein Land, von dem sie in Wahrheit entfremdet sind. Kann diese Gesellschaft zulassen, dass sie sich selbst zu Ausländern machen? Können wir es uns leisten, dass neue Deutsche zu Fremden werden?
Man kann sich in diesem Land von unten nach oben hocharbeiten. Man braucht dafür Ehrgeiz, Glück und Hilfe, aber es ist möglich. Dank der weitgehend kostenlosen Schulen und Universitäten, dank der robusten Wirtschaft und der relativ niedrigen Arbeitslosigkeit ist Deutschland zu einem Land der Möglichkeiten geworden. In der globalen Finanz- und der europäischen Schuldenkrise ist es die derzeit einzige Wirtschaftsmacht in Europa: Deutschland verkörpert einen neuen Traum von Stabilität und Aufstieg in einer unruhigen Zeit. Schon kommen junge Spanier und Griechen, Portugiesen und Italiener, oft Akademiker, die in ihrer Heimat keine Arbeit finden. Die nächste Einwanderungswelle hat begonnen, und sie ist europäisch. Diese Menschen können hier problemlos bleiben, denn sie sind Bürger der Europäischen Union. Möglich, dass sie die Vorboten einer neuen Generation von europäischen Migranten sind, die sich immer dort niederlassen, wo sie gerade Arbeit finden. Wie wird Deutschland mit diesen neuen Einwanderern umgehen?
Überall derselbe Mechanismus von Ihr-Werdung und Wir-Werdung
In Berlin sieht man die Veränderung durch andere Menschen, andere Kulturen am deutlichsten. Seit einiger Zeit beschweren sich die Schwaben in Neukölln über die vielen Spanier, die in den Cafés herumsitzen. Es herrscht derselbe Mechanismus von Wir-Werdung und Ihr-Werdung wie überall: Die Spannungen zwischen Neuzugezogenen, Längerhiergewesenen und Schonewighierlebenden wird es immer wieder geben. Und immer wird darum gerungen werden, was sich auf keinen Fall ändern darf.
Berlin ist durch seine Araber, Italiener, Engländer und Israelis lebendiger und vielfältiger geworden. Türkische Teestuben, italienische Pizzerien und vietnamesische Bistros stehen neben Bäckereien, Kaufhäusern und Eckkneipen. Man kann hier im chinesischen Supermarkt einkaufen, französische Bücher ausleihen und gemeinsam mit amerikanischen Drag Queens den Eurovision Song Contest schauen. Man kann aber auch in einem Biergarten zünftig essen, in das Jüdische Museum gehen oder in der Philharmonie Beethoven hören. Die Einwanderer haben Berlin verändert, aber sie haben das Deutsche nicht verdrängt. Berlin gilt heute als weltoffen und aufregend. Sein Image ist cooler, kosmopolitischer und widersprüchlicher als das Image von Deutschland. Die Stadt, in der die Mauer fiel, hat sich zum Symbol für Aufbruch und Erneuerung gewandelt. Sie ist ein Beweis für die Chancen, die Veränderung bietet. Und sie beweist, dass Veränderung positiv sein kann.
Wahrscheinlich wird Deutschland in Zukunft Berlin immer ähnlicher. Es wird vielerorts multikultureller werden und jünger, es wird soziale und kulturelle Spannungen aushalten müssen. Was deutsch ist, diese Frage stellt sich immer dringlicher. Wie viel stimmt noch von der alten Vorstellung? Die Frage, die Deutschland für sich nie beantwortet hat, stellt sich nun umso lauter: Was für eine Gesellschaft wollen wir sein? Das heutige Deutschland ist immer noch mit seiner Vergangenheitsbewältigung beschäftigt. Das morgige Deutschland wird mit anderen Dingen beschäftigt sein, denn die Vergangenheit entrückt zunehmend. Immer mehr Kinder werden in Migrantenfamilien groß, immer mehr wachsen mit einem anderen Geschichtsbewusstsein heran. Sie empfinden kein Schuldgefühl für den Holocaust, sie hatten keinen Opa in der Wehrmacht.
Die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern handeln von Kemal Atatürk, vom Vietnam-Krieg und dem Fall der Sowjetunion, vom Schah, von der Teilung Koreas und vom Irak-Krieg. Die einen beten in einer Moschee, die anderen in einem Tempel, die Dritten gar nicht. Manche werden zu Hause zu Gehorsam gegenüber Älteren und Loyalität gegenüber der Familie erzogen, manche zu Individualismus. Die Vorstellung davon, was unsere Geschichte, unsere Religion oder unsere Kultur ist, wird sich verändern. Erweitern.
In der Vergangenheit hat Deutschland schon mehrfach gewaltige Umbrüche erlebt. Es hat die Vertriebenen integriert, die einst fremd waren, fremder, als man sagen durfte. Die Italiener, die als Machos und Mafiosi galten. Die jüdischen Kontingentflüchtlinge, für deren Geschichte sich die Deutschen schämten. Die Ostdeutschen, diese ärmeren und unterdrückten Fremden mit derselben Sprache. Wenn man so will, hat es auch die Linken, die Grünen, die Feministinnen und die Schwulen integriert. All diese Gruppen gehörten zu Minderheiten, die tatsächlich oder nur scheinbar für andere Kulturen standen. Sie wurden als Spinner ausgelacht oder dafür verantwortlich gemacht, dass der Gesellschaft ein moralischer Kompass abhandengekommen sei, dass sie ihre christlichen Wurzeln verliere.
Immer sind es „die da“, die den gesellschaftlichen Frieden bedrohen
Obwohl es sich um die unterschiedlichsten Gruppen handelte, waren die Vorbehalte gegen sie im Grunde dieselben: „Die da“ bedrohen den gesellschaftlichen Frieden, „die da“ drücken der Gesellschaft fremde Werte auf, „die da“ machen die Traditionen kaputt. Diese Argumente werden auch heute noch verwendet, am häufigsten gegen Muslime. Doch vieles von dem, das einst fremd war, ist nun selbstverständlich. Ausgerechnet in der schwarz-gelben Regierung sitzen ein Schwuler, ein Rollstuhlfahrer und ein Waisenkind aus Vietnam; die Kanzlerin – eine Ostdeutsche, der Bundespräsident auch. Deutschland wird mittlerweile auf höchster Ebene von Menschen repräsentiert, die alles andere als typisch deutsch sind. Es gab da keinen politischen Willen, kein „Projekt tolerante Regierung“. Es ist einfach geschehen, weil sich die Gesellschaft wandelt und damit auch die, die sie vertreten. Die Bevölkerung hat sich an die ungewöhnlichen Biografien gewöhnt, sie nimmt sie kaum noch wahr. Die Angst vor der Veränderung ist oft größer als die Veränderung selbst.
Wir hoffen, dass diese Gesellschaft ihre Einwanderer, vor allem die Muslime, genauso integrieren wird wie andere Gruppen auch. Wir glauben, dass die Veränderung durch Einwanderung geringer sein wird, als viele sie befürchten. Und wir wünschen, dass neue Deutsche wie wir von Anderen eines Tages ganz selbstverständlich als Deutsche behandelt werden. Dass wir als Teil dieser Gesellschaft begriffen werden und nicht als Fremde. Dass nicht unser Migrationshintergrund gesehen wird, sondern wir. Dass wir uns bald zutrauen, dieses Land „unser Deutschland“ zu nennen. Unsere Wut, sie speist sich aus unterschiedlichen Gefühlen: aus der Angst, nicht akzeptiert zu werden. Aus dem Stolz, etwas geleistet zu haben. Aus der Sehnsucht, heimisch zu werden. Im Grunde unterscheiden sich unsere Gefühle nicht stark von denen der Alteingesessenen, die uns hier nicht wollen. Auch sie kämpfen um das, was sie als ihren Platz verstehen und ihre Heimat. Was wird aus diesen Gefühlen, wenn wir, die neuen Deutschen, mehr werden? Wird die Wut auf beiden Seiten wachsen? Oder wird sie abklingen, weil alle feststellen, dass die Veränderungen doch nicht so groß sind und wir uns daran gewöhnen?
Der universelle Wunsch, akzeptiert zu werden
Wir mögen ein anderes Verhältnis zu unseren Familien haben, wir mögen einen anderen Gott haben, wir mögen andere Sprachen sprechen. Aber wir drei haben festgestellt, dass unsere Grundwerte ziemlich deutsch sind: Unsere ideale Gesellschaft ist die liberale. Vielleicht schätzen wir sie so, weil unsere Eltern aus konservativen Gesellschaften kommen. Vielleicht ist Offenheit für uns so wichtig, weil es für uns in einer geschlossenen Gesellschaft keinen Platz gäbe. Vielleicht liegt uns Toleranz so am Herzen, weil wir diese verschiedenen Kulturen in uns tragen, die manchmal miteinander ringen und sich manchmal ergänzen.
Die Erfahrungen, die wir drei in diesem Land machen, stehen für die Erfahrungen von Millionen anderer neuer Deutschen. Sie stehen aber auch für die Erfahrungen von Millionen Deutschen. Wer kennt es nicht, das Gefühl, am falschen Platz zu sein, weil er aus einem anderen Milieu kommt, von einem anderen Ort? Wer kennt sie nicht, die Sehnsucht anzukommen, weil etwas in der Familie oder in einem selbst zerrissen ist? Wer kennt nicht den Wunsch aufzusteigen und die Angst abzusteigen? Der Wunsch, akzeptiert zu werden: Ist das nicht ein universeller Wunsch? Und ist nicht die Fähigkeit, andere zu akzeptieren, genauso universell? Manchmal wissen wir nicht, wer wir sind. Manchmal wissen andere nicht, wer wir sind. Aber eines ist uns nun bewusst: Wir sind deutscher, als wir denken. Was kann daran schon schlimm sein?
Dieser Essay basiert auf Alice Botas, Khuê Phams und Özlem Topçus Buch „Wir neuen Deutschen: Wer wir sind, was wir wollen“, Reinbek: Rowohlt Verlag 2012, 176 Seiten, 14,95 Euro.