Wir und der Gezeitenwechsel
„Diese Welt gehört den Optimisten, nicht weil sie immer Recht haben, sondern weil sie positiv eingestellt sind. Selbst wenn sie irren, denken sie positiv. Deshalb erreichen sie etwas, korrigieren Fehler, kommen weiter und haben Erfolg. Kultivierter, wacher Optimismus zahlt sich aus. Pessimismus bringt nur den leeren Trost, Recht zu haben.“
David S. Landes, Wohlstand und Armut der Nationen
Etwas geht zu Ende. Ob am 18. September ein Regierungswechsel bevorsteht, wissen wir nicht. Dass Deutschland einen „Gezeitenwechsel“ erlebt, wie Warnfried Dettling in diesem Heft schreibt, daran kann es keinen Zweifel geben. Dieser Umbruch hat längst die gesamte Gesellschaft erfasst. Er vollzieht sich nicht widerspruchsfrei, nicht harmonisch und kommod. Vielen wäre es lieber, sie könnten die unübersichtlich gewordene Wirklichkeit einfach abschalten wie ihr Fernsehgerät. Die Mentalität der starrsinnigen Gegenwartsverweigerung ist weit verbreitet. Sie tritt mit aggressiver Selbstgewissheit auf. Oskar Lafontaines Äußerungen zur Zuwanderungspolitik könnten „genau so gut von Jörg Haider oder Franz Schönhuber stammen“, schreibt der Populismusexperte Frank Decker. Heute halten sich reaktionäre Parteien absurderweise für links, obgleich Protektionismus und Xenophobie nie und nimmer linke Tugenden sein können. Manches geht tatsächlich zu Ende.
Doch wo etwas aufhört, fängt auch Neues an. Dass ausgerechnet diejenigen intellektuell unterbelichtet seien, die sich für die aktive Aneignung von Gegenwart und Zukunft entscheiden und gegen verhockte Miesepetrigkeit: das ist das Lieblingsressentiment übelnehmerischer Jammerlappen – derer nämlich, die selbst zu denkfaul sind, sich auf die schwierige Wirklichkeit einzulassen. Jeder einzelne Beitrag dieser Ausgabe der Berliner Republik beweist, dass die Zukunft in der ernsten, differenzierten, kritischen – gerade auch selbstkritischen –, in jedem Fall aber immer zupackenden und deshalb optimistischen Auseinandersetzung mit dem dynamischen Wandel der Welt liegt. Auf die Haltung kommt es an, wacher Optimismus zahlt sich aus. Das gilt auch für die politische Auseinandersetzung. Wer wirklich will, dass die Idee der sozialen Demokratie im 21. Jahrhundert nicht unter die Räder kommt, der muss laut und deutlich sagen, dass wir es mit einer neuen Welt zu tun haben. Niemand muss sich für den Versuch schämen, den veränderten Umständen gerecht zu werden – ganz im Gegenteil. Deshalb ist die spontan an den Graswurzeln der SPD entstandene Wahlinitiative www.wirkaempfen.de in der Tat das Beste, was in jüngerer Zeit aus der deutschen Sozialdemokratie hervorgegangen ist; Gerhard Schröder ist das schon ganz zutreffend aufgefallen. Nur aus beweglichem Geist erwachsen neue Perspektiven.
Die eindringlichen Bilder dieses Heftes hat Mathias Kutt aufgenommen. Thema seines Fotoessays ist, passend zum Schwerpunkt über Staat und Wirtschaft, die Ausbreitung privater Sicherheitsdienste im öffentlichen Raum. Diese Beschützer öffentlichen und privaten Eigentums zählen in Deutschland zu den Geringstverdienern.