Wir werden angegriffen!
Unsere Demokratie wird angegriffen, unsere offene Gesellschaft unter Druck gesetzt. Die Bedrohung kommt aus zwei Richtungen: Sie erwächst zum einen aus dem zunehmenden Extremismus. Dieser äußert sich nicht nur in Terroranschlägen und grausamen Kriegen, in Morden und Morddrohungen, in Brandanschlägen gegen Flüchtlingsheime oder Hassexplosionen im Netz. Er offenbart sich ebenso in einem Klima der Einschüchterung und Verunsicherung sowie der Verhöhnung unserer Werte. Dies zeigen die Zahlen der rechtsmotivierten Gewalttaten und der antisemitischen und fremdenfeindlichen Straftaten, die im Jahresvergleich um bis zu 25 Prozent gestiegen sind. Zum anderen gerät unsere Gesellschaft durch die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber unserem demokratischen System unter Druck – eine Entwicklung, die weniger offensichtlich, aber nicht minder bedenklich ist. Die manifeste Bereitschaft vieler Bürger, sich persönlich und politisch für Flüchtlinge einzusetzen, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr die Bindungswirkung der Demokratie unter dem Druck der Verhältnisse in den vergangenen 25 Jahren abgenommen hat. Statt dem von Francis Fukuyama ausgerufenen „Ende der Geschichte“ erleben wir gegenwärtig ein Taumeln, eine Orientierungslosigkeit, ein Leiden an den ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Globalisierung und neuen Technologien, die – wie das Internet – die Welt immer enger zusammenrücken lassen.
„Resignative Zufriedenheit“ – genau das scheint das vorherrschende Gefühl in Deutschland zu sein. Eine wenige Monate alte qualitative Online-Befragung der Engagementabteilung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Gleichstellung und Jugend weist eine deutliche Zufriedenheit mit der aktuellen wirtschaftlichen Lage, besonders mit den weiterhin -sinkenden Arbeitslosenzahlen aus. Dieser Befund wird von vielen repräsentativen Umfragen bestätigt. Diese Zufriedenheit geht jedoch mit fast schon apokalyptischen Ängsten einher: Angst vor den Problemen, die Flüchtlinge mit sich bringen, Angst vor der europäischen Schuldenkrise, Angst vor islamistischen Terroranschlägen und Angst vor einem Krieg in Europa aufgrund des Russland-Ukraine-Konflikts.
Bessere Bildung, mehr Engagement
Die Befragten nehmen deutlich wahr, dass Chancen, Einkommen und Vermögen zunehmend ungleicher verteilt sind und der gesellschaftliche Zusammenhalt bedroht ist, wenn sich unsere Gesellschaft weiter auseinander entwickelt. Auf die Frage, was für den Zusammenhalt der Gesellschaft getan werden könnte, nannte die Mehrheit der Befragten zwei Dinge: erstens mehr und bessere Bildung (die über Aufklärung und Wissen zu mehr Verständnis und Toleranz führen soll) sowie zweitens zivilgesellschaftliches Engagement. Die meisten sehen sich selbst in der Pflicht – und nicht zuvörderst den Staat. Von der Politik erwarten sie ein gutes Management der Flüchtlingsverteilung und Unterstützung für eine erfolgreiche Integration.
Inzwischen führt die Geschwindigkeit, mit der die Flüchtlinge nach Europa kommen, die Politik in ganz Europa an die Grenzen ihrer Problemlösungskapazität. Möglichst schnell müssen ausreichend große Flüchtlingsunterkünfte geschaffen werden, um die traumatisierten Menschen aufzunehmen. Und das nicht ohne Akzeptanzprobleme – vor allem dann, wenn Entscheidungen gegenüber Anwohnern und Nachbarn nicht ausreichend kommuniziert werden. Nicht selten machen nicht die Flüchtlinge an sich, sondern deren große Zahl den Anwohnern erst einmal Angst. Dadurch kann vor Ort eine Abwehrhaltung entstehen, die nicht mit Ausländerfeindlichkeit verwechselt werden darf. Anders noch als in den neunziger Jahren ist Deutschland heute ein viel offeneres, vielfältigeres und auch toleranteres Land – mit einem wesentlich stabileren Arbeitsmarkt dank der Agenda-Reformen. Dass sich unser Land ganz unmerklich verändert hat, ist vielen erst mit dem „Sommermärchen“ von 2006 ins Bewusstsein gerückt. Seitdem ist allen klar: Deutschland ist ein weltoffenes Land, mit friedfertigen Bürgern, gewachsener Vielfalt und einem friedlichen Zusammenleben. Gegenwärtig staunt die Welt – und wir selbst ja auch – über die großartige Hilfsbereitschaft sehr vieler Engagierter, die sich um jene erschöpften und traumatisierten Flüchtlinge kümmern, die es zu uns geschafft haben.
Genau das ist allen Extremisten ein einziger Gräuel. Angesichts dieses Engagements scheint es so, als hätten sie den Kampf gegen unsere offene Gesellschaft verloren. Doch gerade mit den steigenden Flüchtlingszahlen wittern sie ihre Chance. Vor allem die ungelöste Frage, wie wir die vielen Flüchtlinge angemessen unterbringen können, wirkt wie ein Katalysator für extremistische Einschüchterung und Verunsicherung. Besonders rechtsextreme Kräfte setzen immer unverfrorener auf die Unzufriedenheit und wachsenden Ressentiments in der Bevölkerung. Denn ungeachtet der zunehmenden Hilfsbereitschaft der vergangenen Monate wachsen bei einer nicht un-wesentlichen Minderheit in unserem Land mit jedem weiteren Einwanderer die rassistischen Vorurteile.
In der erwähnten qualitativen Untersuchung wurde der Politik am häufigsten vorgeworfen, den vielen ungelösten Problemen mit Tatenlosigkeit zu begegnen: Viele Befragte erklärten, Politiker würden in ihrer eigenen Welt leben und die Probleme der „normalen Deutschen“ ignorieren. Dass Zuwanderung zu mehr Kriminalität führe, sei eine Tatsache, die aber von Politikern und Medien vehement bestritten werde. Stattdessen würden die Medien Unwahrheiten verbreiten. Das alles klingt stark nach Pegida. Zugleich aber sehen die Befragten mehrheitlich ein, dass Pegida Ausländerfeindlichkeit schürt, zur Entsolidarisierung beiträgt und damit den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Das gefährliche und bedrückende an Pegida ist jedoch, dass mit dieser Bewegung die Scheu abgenommen hat, sich öffentlich zum Fremdenhass zu bekennen.
Resignation und Rückzug ins Private
Zwar gaben die allermeisten Befragten an, es gebe für sie keine bessere Staatsform als die Demokratie. Aber ihr Vertrauen in die Demokratie wird zunehmend von Misstrauen gegenüber Politikern überlagert. Es überwiegt die Wahrnehmung, dass die Politik den existierenden Problemen hilflos gegenübersteht und dass viele Politiker nur so tun, als könnten sie diese lösen. Der mit solcher Resignation verbundene Rückzug ins Private macht es den extremistischen Kräften leichter, die Bevölkerung zu verunsichern und einzuschüchtern – schlimmstenfalls mit der Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Die Zeit hat vor wenigen Monaten den Angriff auf die Demokratie in Deutschland mit öffentlichen Äußerungen von 27 Politikerinnen und Politikern dokumentiert. Morddrohungen, Bedrohungen der Familie, Hasstiraden im Netz – die Anfeindungen gegen demokratisch gewählte Politiker haben mittlerweile jedes Maß verloren. Angegriffen werden vor allem diejenigen, die sich – ob haupt- oder ehrenamtlich – für die Integration von Flüchtlingen einsetzen. Egal, ob es sich um den Bundespräsidenten, Minister, Bürgermeister oder Landräte handelt: Sie alle müssen zunehmend ihren Job in einer Atmosphäre der Einschüchterung und der Verunsicherung machen. Wenn, wie in Tröglitz geschehen, ein Bürgermeister zurücktritt, weil seine Familie und er massiv bedroht werden, ohne dass die Landespolitik eingreift, dann können sich Neonazis und andere Extreme die Hände reiben: Die Demokratie ist endlich in der Defensive.
Was also tun? Zunächst müssen wir uns klar machen, dass unsere Demokratie tatsächlich angegriffen wird. Den Kampf gegen den Extremismus – egal aus welcher Ecke er in unserer unübersichtlichen Gegenwart kommt – müssen wir annehmen, statt weiter so zu tun, als gäbe es ihn nicht. Erneut leben wir in einer Zeit, in der es darauf ankommt, dass sich möglichst viele Menschen engagieren – für ihre Mitmenschen und für die Werte unserer offenen Gesellschaft: Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Solidarität und Vielfalt. Was passiert, wenn wir dies nicht tun, beschreibt Michel Houellebecq in seinem jüngsten Buch Unterwerfung. Dort zeichnet er das Bild einer erschöpften und apathischen Gesellschaft, die dem Ansturm der freiheitseinschränkenden Kräfte wehrlos gegenüber steht, weil sie nicht mehr an ihre eigenen Werte glaubt – oder zumindest nicht mehr bereit ist, sich für diese Werte einzusetzen.
Die gute Nachricht ist jedoch, dass in dem Spiegel, den Houellebecq uns hinhält, noch ganz andere Dinge zu sehen sind: Aller resignativen Zufriedenheit zum Trotz demonstrieren gegen Pegida weitaus mehr Menschen, als für diese Bewegung auf die Straße gehen. Täglich setzen sich viele Tausend Bürger für Flüchtlinge ein. Und Millionen von Menschen in ganz -Europa sind auf die Straße gegangen, um nach den unfassbaren Morden von Paris ihre Solidarität mit den Opfern des islamistischen Terrors zu zeigen. Jedes Jahr engagieren sich über 23 Millionen (!) Menschen in Deutschland für unser Gemeinwesen – in nahezu 600 000 Vereinen, in Kirchen und anderen Gotteshäusern, in Wohlfahrtsverbänden sowie in vielen anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen. Wir haben in Deutschland das Glück einer starken Bürgergesellschaft – auch wenn sie im Westen noch stärker ist als im Osten.
Genau hier liegt der Anknüpfungspunkt für progressive Politik. Klar ist: Mit jedem neuen extremistischen Anschlag nimmt der Druck auf die Politik zu, mehr Polizisten, Verfassungsschützer und Sicherheitskräfte zu beschäftigen und mehr Überwachung zum Schutz vor Übergriffen, Gewalt und Terror zuzulassen. Aber das ist nicht die ganze Antwort. Im Gegenteil: Die Freiheit der Bürger einzuschränken, um die innere Sicherheit zu gewährleisten, könnte letztlich dazu führen, dass wir Freiheit einbüßen, ohne jedoch echte Sicherheit zu erhalten. Dafür brauchen wir mehr und vor allem: eine besser finanzierte Präventions-, Integrations- und Engagementpolitik. Ebenso nötig ist, dass die Politik jenen mit Wertschätzung begegnet, die sich jeden Tag für ihre Mitmenschen engagieren.
Bereits heute haben wir im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit dem Präventionsprogramm „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ ein engmaschiges Netzwerk aufgebaut; es besteht aus den von uns geförderten Demokratiezentren in den Ländern, kommunalen Partnerschaften für Demokratie in rund 220 über ganz Deutschland verteilten Kommunen und nichtstaatlichen Organisationen, die bundesweit ihre Strukturen für Demokratieförderung und Extremismusprävention auf- und ausbauen. Mit dem Netzwerk organisieren wir Opfer- und Ausstiegsberatung, finanzieren Modellprojekte und stellen für die Jugendlichen vor Ort so genannte Initiativ- und Aktionsfonds zur Verfügung, aus denen sie selbst gewählte Aktionen für Demokratie und gegen Extremismus finanzieren können. Die Präventionsarbeit in den Schulen und den Gefängnissen zielt vor allem darauf ab, Gefährdete zu erreichen. Deswegen ist uns die gemeinsame Arbeit mit den Bundesländern neben der engen Zusammenarbeit zwischen den Bundesministerien und der Bundeszentrale für Politische Bildung so wichtig.
Was wir jetzt vor allem brauchen
Aber wir brauchen noch mehr. Wir brauchen erstens mehr und besser finanzierte Integrations- und Präventionsprogramme. Dazu gehört, dass Flüchtlinge gleich nach ihrer Ankunft arbeiten dürfen, um sich in unser Gemeinwesen einbringen zu können. Das dreimonatige Beschäftigungsverbot muss endlich abgeschafft werden. Zweitens bedarf es eines Einwanderungsgesetzes mit verbindlichen Regelungen für diejenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns nach Deutschland kommen wollen. Drittens müssen wir das Engagement der Bürger stärker wahrnehmen und anerkennen – nicht zuletzt das Engagement der vielen muslimischen Mitbürger. Viertens müssen wir konsequent Schulen zu Ganztagsschulen ausbauen, um mehr faire Chancen für alle Kinder und Jugendlichen zu organisieren.
Vor allem aber geht es darum, die gefährliche Mischung aus resignativer Zufriedenheit und Passivität auf der einen und Radikalisierung auf der anderen Seite zu durchbrechen. Immer mehr Bürger bezweifeln, dass die Politik das heutzutage überhaupt leisten kann. Leicht ist die Aufgabe tatsächlich nicht – und dennoch muss progressive Politik den Gegenbeweis antreten. Die Bereitschaft der Zivilgesellschaft, sich für unser Gemeinwesen zu engagieren, ist jedenfalls groß – zumindest dann, wenn die Politik erkennt, dass eine produktive Zusammenarbeit nur partnerschaftlich funktioniert. Und wenn sie der Zivilgesellschaft endlich die Wertschätzung zukommen lässt, die angesichts des täglichen Einsatzes von Millionen Menschen für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft nur angemessen ist.