Wirtschaftspolitik mit Werten
Wer sich die großen Wahlerfolge der SPD in der Vergangenheit vor Augen führt, wird ein Muster immer wieder erkennen: Die Mehrheit der Bürger gibt der SPD dann ihre Stimme, wenn sie Chancengerechtigkeit und Wirtschaftskompetenz sowie wirtschaftliche Vernunft glaubwürdig miteinander verbindet – so etwa bei Willy Brandt. Dieser hatte ein starkes Team an Politikern mit wirtschaftlichem Sachverstand um sich versammelt, darunter den Wirtschaftspolitiker Karl Schiller. Und auch bei Helmut Schmidt und Gerhard Schröder war dies der Fall. Als Spitzenkandidaten und Bundeskanzler traten sie glaubwürdig für Wirtschaftskompetenz und soziale Gerechtigkeit ein.
Wie kann und wie sollte eine sozialdemokratische Agenda für das 21. Jahrhundert aussehen – für eine Zeit, in der die Bindung an Parteien, Gewerkschaften und Vereine abnimmt, in der sich die Arbeitswelt in atemberaubendem Tempo wandelt, in der zahlreiche Krisen dazu führen, dass viele Menschen sorgenvoll in die Zukunft blicken, in der es (auch das muss gesagt werden) unserem Land wirtschaftlich so gut geht wie noch nie?
Sicher ist: Der Blick vieler Wähler auf das, was politisch richtig oder falsch ist, ist heute differenzierter als noch vor 20 oder 30 Jahren. Ideologische Gegensätze haben sich zunehmend aufgelöst. Trotzdem denken Parteien – besonders in Fragen der Wirtschaftspolitik – immer noch allzu oft in Gegensätzen: Markt oder Staat, Wachstum oder Konsolidierung, Flexibilität oder Sicherheit, Angebots- oder Nachfragepolitik, und schließlich Gewinn versus Gemeinwohl und Gerechtigkeit versus unternehmerische Freiheit.
Besonders die SPD muss dieses Denken in starren Gegensätzen überwinden. Spätestens nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Ideologie sowjetischen Typs, aber auch nach den kostspieligen Irrungen des marktradikalen Neoliberalismus, sollte die Erkenntnis reifen, dass Ideologien nicht weiterhelfen – und mit entsprechenden Parteiprogrammen auch keine Mehrheiten mehr zu gewinnen sind.
Das neue wirtschaftspolitische Denken überwindet Gräben, schaut auf Best Practices, ist pragmatisch und dennoch wertegebunden. Die Orientierung an Werten ist allein deshalb notwendig, weil Markt und Kapitalismus ohne Richtungsimpulse und politische Rahmensetzungen oft blind für die Bedürfnisse der Menschen und die Begrenztheit der Ressourcen sind. Der Markt muss der Wertschöpfung, dem Wohlstand und dem sozialen Frieden dienen. Konservative und Liberale spielen die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zuweilen gegeneinander aus: je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit und umgekehrt. Die Sozialdemokratie muss deutlich machen, dass diese Werte gleichwertig und gleichrangig sind und beide einander bedingen. Freiheit ist nicht alleine die Freiheit des Marktes – genauso wie Gerechtigkeit und Solidarität über die Gewährleistung des Existenzminimums hinausgehen.
Nachhaltigkeit als Grundprinzip
Der Grundpfeiler der sozialdemokratischen Programmatik muss deshalb das Versprechen sein, allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft die Chance auf Aufstieg und Teilhabe am Wohlstand zu geben – eine Forderung, die 150 Jahre nach August Bebel und Ferdinand Lasalle nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat. Damit inhärent verbunden ist die Erwartung, etwas zu leisten, sich anzustrengen und zu lernen. Eine wertegebundene Wirtschaftspolitik sorgt dafür, dass sich Leistung wirklich lohnt und fairer Wettbewerb herrscht: zwischen den einzelnen Individuen ebenso wie zwischen Unternehmen.
Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik muss Antworten finden auf die Zukunftsfragen, die die vier wichtigsten Ressourcen Arbeit, Kapital, Energie- und Rohstoffe sowie neuerdings auch Information beziehungsweise Daten betreffen.
Ein Grundprinzip der politischen und wirtschaftlichen Programmatik der SPD muss dabei die Nachhaltigkeit sein. Das bedeutet: von der Zukunft her denken, dem kurzfristigen Erfolgsdruck widerstehen können und die rein betriebswirtschaftliche Logik durch weitere ökonomische und gesellschaftliche Perspektiven erweitern. Ein modernes Verständnis von Fortschritt verbindet ökonomische, soziale und ökologische Verantwortung. Konkret heißt dies: Damit der Markt seine positive Wirkung entfalten kann, bedarf es Regeln und eines sanktionsfähigen Staates mit effizienter gesetzlicher Rahmengesetzgebung und gelegentlich auch strategischer Steuerung sowie einer fairen Preisbildung.
Der Staat kann und soll die Märkte nicht ersetzen. Regulierung kann Wirtschaftskreisläufe auch bürokratisch drangsalieren. Deswegen bleibt der Abbau von Bürokratie und die Steigerung der Effizienz eine fortwährende Aufgabe. Dennoch kann der Staat Impulse und Prioritäten setzen.
Gemeinsam mit Wirtschaft und Wissenschaft muss er langfristige Herausforderungen für unsere Gesellschaft strategisch angehen: Investitionen in die Digitalisierung und in Infrastrukturprojekte gehören dazu, ebenso wie die Bewältigung des demografischen Wandels. Die Sozialdemokratie sollte sich nicht scheuen, die entsprechenden Projekte zu benennen. Und sie sollte deutlich machen, dass sie die Politik auf diesen Gebieten als treibende Kraft versteht, die den Anspruch hat, schon heute die Gesellschaft von morgen zu gestalten – wohl wissend, dass die Zukunft nur begrenzt planbar ist.
Die Agenda 2010 ist ein Beispiel für eine solche kluge Politik. Sie hat Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft freigesetzt und so die Weichen gestellt, Deutschland als vermeintlich „kranken Mann Europas“ an die Spitze des ökonomischen Erfolges zurück zu führen. Die Industrie- und Mittelstandspolitik wurde neu ausgerichtet, die Produktivitätssteigerung durch Flexibilisierungs- und Qualifizierungsmaßnahmen begleitet.
Dass Deutschland neben seinem aktiven Mittelstand auch heute noch einen starken industriellen Sektor hat, trägt zu unserer ökonomischen Prosperität und Stabilität und zu unserer globalen Konkurrenzfähigkeit bei. Die Sicherung vollständiger oder zumindest langer Wertschöpfungsketten ist der zentrale Stabilitätsmechanismus. Flankiert wird dieser von einer strategischen Außenwirtschafts- und Rohstoffpolitik, die Industrie und Mittelstand gleichermaßen beim Zugang zum Weltmarkt unterstützt.
Ein intelligenter Mix aus Reformen und Investitionen ist deshalb die Schlüsselformel einer modernen sozialdemokratischen Politik, die auch für die kommenden Jahre und Jahrzehnte hochrelevant bleibt: den Bildungs- und Qualifizierungsbereich ausbauen und fördern sowie in Forschung investieren – und dabei die Reformbereitschaft der Gesellschaft immer im Blick behalten. Dies ist der grundlegende Unterschied zur einseitigen Sparpolitik der Konservativen und Neoliberalen und zur antiindustriellen Haltung vieler Grüner.
Der Spitzensteuersatz greift zu früh
Ein weiterer Grundpfeiler sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik sollte das Ziel sein, den Bürgern die Chance für den Vermögensaufbau zu geben. Dazu gehört eine kluge, maßvolle Steuerpolitik, die einerseits einen fairen sozialen Ausgleich zwischen stärkeren und schwächeren Mitgliedern in der Gesellschaft ermöglicht, andererseits aber auch Anreize für Leistungsträger setzt. Die SPD sollte deshalb für eine Steuerpolitik eintreten, die die arbeitende Mitte sowie Unternehmer und Selbständige dazu motiviert, etwas zu leisten, also Vermögen aufzubauen und Arbeitsplätze zu schaffen. Der Spitzensteuersatz greift in Deutschland viel zu früh: bei Alleinstehenden ab einem Jahreseinkommen von 53.000 Euro. Leute mit 60.000 oder auch 90.000 Euro Jahresverdienst gehören aber ebenso zur SPD-Kernklientel wie Arbeitnehmer mit einem deutlich niedrigeren Lohn. Sozialdemokratische Wirtschafts- und Finanzpolitik sollte immer im Blick haben, dass der Staat die arbeitende Mitte über Steuern und Abgaben nicht unverhältnismäßig belastet.
Zum Vermögensaufbau gehört aber auch die Chance, über Sparbeträge Geld zurückzulegen – sei es für die Ausbildung der Kinder, sei es für eine Immobilie oder für das Alter. Die lang währende Niedrigzinsphase setzt allerdings die Altersvorsorge und Vermögensbildung vieler Sparer und breiter Bevölkerungsschichten massiv unter Druck. Auch diesem wachsenden Problem sollte sozialdemokratische Politik entgegenwirken. Diskussionswürdig sind vor allem öffentlich geförderte Fondsmodelle, die die private Anlage- und Vermögensbildung mit Investitionen in Infrastruktur, Energiewende und Wohnungsbau verknüpfen. In diesem Sinne könnte sich die SPD auch dafür einsetzen, die Bürger stärker am Erfolg unserer Wirtschaft teilhaben zu lassen, etwa über Aktienprogramme für Mitarbeiter oder über Investmentfonds. Viele deutsche Unternehmen sind heute mehrheitlich in der Hand ausländischer Aktionäre. Über Dividendenausschüttungen profitieren sie davon, dass Arbeitnehmer hierzulande erstklassige Produkte herstellen. Wir dagegen lassen diese Möglichkeit des Vermögensaufbaus weitgehend links liegen. Auch hier könnte sozialdemokratische Politik jenseits alter ideologischer Grabenkämpfe neue Wege gehen, indem sie kluge Anreize setzt, die zu einem Wohlstandszuwachs für die Mitte der Gesellschaft führen.
Und nicht zuletzt gehört es zum Kern einer modernen sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik, sich für die Zukunft eines vereinten Europas stark zu machen. Die Europäische Union hat den größten Binnenmarkt der Welt und verfügt über eine starke, von vielen Mitgliedsstaaten geteilte einheitliche Währung. Dies hat trotz aller Krisen und Rückschläge den Wohlstand des Kontinents insgesamt gesteigert. Binnenmarkt und Währungsunion sind im Interesse der deutschen Wirtschaft, aber mehr noch im Interesse der Menschen in Deutschland und Europa.
Nach der Vergemeinschaftung der Geld- und Währungspolitik sollte die SPD die Partei sein, die mit großer Überzeugungskraft für eine wachstums- und beschäftigungsorientierte Koordination der Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik und perspektivisch auch für eine europäische Sozialunion eintritt, die mit Blick auf die bisherige Erfahrung mit der Entwicklung nationaler Wohlfahrtssysteme einen weiteren Wachstums- und Entwicklungsimpuls für Wirtschaft und Gesellschaft umfassen kann.
Mindeststandards auf verschiedenen Ebenen zu vereinbaren, ist der richtige Weg, weil sie einen Kompromiss zwischen Wettbewerbsfähigkeit und dem Ausschluss unfairer Konkurrenz bieten. Dies gilt für die Rechte von Arbeitnehmern, die Mitbestimmung, die Tarifautonomie und für Unternehmenssteuern. Letztere sollten europäisch abgestimmt werden, um einen Dumping-Wettbewerb auszuschließen. Die deutsche Sozialdemokratie sollte hier gemeinsam mit ihren Partnern in anderen Ländern politische Maßstäbe setzen.
Für einen ökonomischen Schengenraum
Klar ist: Ein Europa mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten können wir nicht ausschließen. Der natürliche Partner Deutschlands ist Frankreich – genauso wie in der europäischen Parteienlandschaft der natürliche Partner der SPD die französischen Sozialisten sind. Beide Parteien sollten einen ökonomischen Schengen-Raum anstreben, der Branchen ohne Grenzen definiert und mittels einer vereinheitlichten, verschlankten und verbesserten Regulierung die Entwicklung „europäischer Champion-Player“ unterstützt, die globalen Riesen wie Microsoft, Apple oder Google die Stirn bieten können. Besonders im Energiebereich und in der digitalen Wirtschaft sind Initiativen gefordert. Statt 40 Prozent der EU-Mittel in Agrarsubventionen zu stecken, wäre es an der Zeit, deutlich mehr in die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit des Kontinents zu investieren.
Eine kluge Industriepolitik, die die richtige Balance zwischen Markt und Staat hält, Unternehmertum fördert und nötige Investitionen tätigt; eine ausgewogene Finanzpolitik, die deutliche Leistungsanreize für den einzelnen Bürger setzt, zugleich sozialen Ausgleich ermöglicht und das Prinzip des „Forderns und Förderns“ einhält; und eine zukunftsgerichtete Europapolitik, die auf einen gemeinsamen Wirtschaftsraum als Gegengewicht zu anderen großen Wirtschaftsblöcken wie den Vereinigten Staaten oder China zielt – als Wirtschaftsforum der SPD plädieren wir dafür, dass dieser Dreiklang die sozialdemokratische Programmatik der kommenden Jahre prägt.
Damit würde sich die SPD in die Tradition ihrer großen Parteivorsitzenden und Bundeskanzler stellen – und für die Mitte der Gesellschaft wieder zur attraktivsten Kraft im deutschen Parteienspektrum werden.