Wo der Sieger immer Recht hat

Russland ist finster entschlossen, seinen Krieg in Syrien zu gewinnen, um das Assad-Regime an der Macht zu halten. Selbst bisherige Moskau-Freunde im Westen stellen ernüchtert fest: Der Wunschpartner will lieber Gegner sein

Wenn in München und Genf über Waffenstillstände und eine Friedenslösung für den Nahen Osten verhandelt wird, sitzen auch diejenigen mit am Tisch, die in der Region für Millionen Flüchtlinge und hunderttausende Tote mitverantwortlich sind: Saudi-Arabien, der Iran, die Türkei, Russland, die Vereinigten Staaten und die Vertreter zahlreicher nichtstaatlicher Gruppen. Ihre Interessen, Ziele und Werte sind unterschiedlich, zum Teil gegensätzlich. Was für die einen Freiheitsbewegungen sind, sind für die anderen Terroristen. Treten die einen für einen säkularen Staat ein, so kämpfen die anderen für ein islamistisches Syrien. Und trotzdem ist der Beginn der Verhandlungen ein erster erfreulicher Schritt weg von Gewalt, Hass und Zerstörung. Aber der Weg zum Frieden wird lang sein und immer wieder zu scheitern drohen.

Für die russische Regierung ist klar, wer die Hauptverantwortung für die Instabilität und Gewalt in der Region trägt: die Amerikaner. Ihre Politik – der Krieg im Irak, die Unterstützung von bewaffneten Gegnern des Assad-Regimes und die völlige Fehleinschätzung der Folgen des Arabischen Frühlings – ist nach russischer Auffassung die wichtigste Ursache für das heutige Chaos. Russland dagegen trage zur Stabilität in der Region bei. Durch die Mitwirkung an der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen und den Iran-Verhandlungen habe man dies unter Beweis gestellt. Amerikanische Regierungen hätten im Irak, in Libyen und in Syrien gegen Völkerrecht verstoßen; hingegen entspreche Russlands Unterstützung für das Assad-Regime den Regeln des Völkerrechts.

Russland will wieder Weltmacht sein

Völlig falsch ist die russische Darstellung nicht: Der von George W. Bush zu verantwortende Krieg gegen den Irak war völkerrechtswidrig. Der Einsatz militärischer Gewalt in Libyen mit dem Ziel des Sturzes von Muammar al-Gaddafi ging über das vom UN-Sicherheitsrat beschlossene Mandat hinaus. Und die Unterstützung bewaffneter Assad-Gegner mag moralisch legitim sein, völkerrechtlich ist sie äußerst fragwürdig. Tatsache ist allerdings auch, dass die meisten Syrer vor dem Assad-Regime fliehen und Russland mit seiner Unterstützung dieses Regimes zu den Fluchtursachen beiträgt. Moralisch gesehen ist die Unterstützung einer Regierung, die gegen die eigene Bevölkerung erwiesenermaßen chemische Kampfstoffe eingesetzt hat, sowieso verwerflich.

Die Kritik von Menschenrechtlern wird die russische Führung jedoch nicht zu einer Änderung ihrer Haltung gegenüber dem Assad-Regime bewegen können. Moskau wird Bashar Al-Assad erst dann fallen lassen, wenn ein personeller Wechsel in der politischen Führung Syriens keine Gefahr mehr für die russischen Interessen und Ziele darstellt. Doch was sind die wichtigsten außenpolitischen Interessen und Ziele Russlands im Nahen Osten?

Die russische Führung möchte erstens ihren Einfluss in Syrien erhalten und ausbauen. Sie möchte ihre Militärstützpunkte dort absichern und damit im östlichen Mittelmeerraum erneut eine Rolle spielen wie vor dem Zerfall der Sowjetunion.

Zweitens verlangt Russland eine Mitsprache oder sogar ein Veto-Recht bei jeder politischen Lösung im Syrien-Konflikt.

Dazu gehört drittens der Wunsch Russlands, wieder als eine Großmacht akzeptiert zu werden, ohne die es in zentralen Konflikten keine Lösungen gibt. Wie Russlands Militäreinsätze in Syrien und in der Ost-Ukraine zeigen, ist es bereit, dabei schnell und entschlossen zu handeln: ohne jegliche vorherigen Konsultationen mit anderen Staaten, unter Einsatz erheblicher militärischer Mittel, und trotz großer politischer Risiken und finanzieller Kosten.

»Russland wird die Spielregeln bestimmen«

Viertens: Die russische Führung möchte besonders von den Vereinigten Staaten als Macht auf Augenhöhe anerkannt werden – sei es als Partner oder als Widersacher. Am liebsten würde Moskau die Entscheidungsfreiheit und freie Bündniswahl kleinerer Staaten durch bilaterale Vereinbarungen über Einflusszonen zwischen den beiden früheren Supermächten aushebeln, selbst wenn dies der Charta von Paris aus dem Jahre 1990 widerspricht, die Russland ebenfalls unterzeichnet hat. Die Absprachen mit den Amerikanern in Jalta am Ende des Zweiten Weltkrieges sind für viele russische Außenpolitiker heute kein Schreckgespenst, sondern ein Vorbild.

Diese Haltung drückte Igor Korotchenko, Chefredakteur der Zeitschrift Nationale Verteidigung, nach einem Besuch in Syrien Ende Januar zugespitzt so aus: „Es gibt eine klare Wahrheit: Der Sieger hat immer Recht. Deshalb wird es Russland sein, das die Spielregeln in Syrien bestimmt, gleichgültig, ob andere das mögen oder nicht. Russlands vorrangiges Ziel ist es, den Staat Syrien in seinen bestehenden Grenzen zu erhalten.“

Über die außenpolitischen Interessen hinaus hat Russland fünftens auch innenpolitische Gründe, sich im Syrien-Konflikt auf der Seite des Assad-Regimes zu engagieren: Eine relativ große Zahl von ausländischen Kämpfern des so genannten Islamischen Staates (Daesh/IS) stammt aus dem Nordkaukasus. Russland will durch sein Engagement in Syrien einer Gefährdung seiner innenpolitischen Stabilität durch islamistische Gruppen vorbeugen.

Allerdings bombardiert das russische Militär in Syrien nicht nur Stellungen von Daesh/IS, sondern auch andere islamistische Gruppen, die teilweise von der Türkei oder Saudi-Arabien unterstützt werden. So hat Russland noch vor Kurzem turkmenische Rebellen nahe der türkischen Grenze bombardiert. Die türkische Regierung betrachtet dies als Angriff auf ihre Interessen, weil sie sich der turkmenischen Minderheit im Norden Syriens eng verbunden fühlt.

Moskaus westliche Freunde sind ernüchtert

War Russlands Außenpolitik bisher erfolgreich? Hat Moskau seine Ziele erreicht? Und wie hoch sind die politischen und finanziellen Kosten des russischen Vorgehens?

Aus russischer Sicht ist der Einsatz in Syrien ein Erfolg, weil das Assad-Regime stabilisiert wurde. Der russische Einfluss in Syrien wird wahrscheinlich auch nach Assad gewährleistet sein. Der Ausbau der russischen Marine- und Luftwaffen-Stützpunkte erhöht sogar den sicherheitspolitischen Einfluss Russlands in der gesamten Region. Und der Einsatz der russischen Streitkräfte in Syrien, auf der Krim und in der Ost-Ukraine hat westliche Analytiker davon überzeugt, dass Russland militärische Machtmittel professionell, schnell, effektiv und über größere Entfernungen hinweg einzusetzen vermag.

Dieser Erfolg hat aber einen hohen politischen Preis: All diejenigen, die sich in der Vergangenheit für eine enge Partnerschaft mit Russland eingesetzt haben, müssen nun ernüchtert feststellen, dass Moskau im Einzelfall zwar ein unverzichtbarer Partner sein kann (zum Beispiel während der Iran-Verhandlungen), zugleich aber immer häufiger als Gegenspieler fungiert. Der außenpolitische Druck auf Russland steigt damit.

Die Änderungen in der russischen Politik haben dazu geführt, dass die Beistandsverpflichtung und die Verteidigungsbereitschaft der Nato-Staaten wieder an Bedeutung gewonnen haben. Ebenso wie andere Bündnispartner stellt Deutschland militärische Übungen und die Ausrüstung der Bundeswehr auf die neue Gefahrenlage ein. Es beteiligt sich zudem aktiv an den Einsätzen zum Schutz des baltischen Luftraumes. Im Rahmen von AWACS-Einsätzen der Nato sind deutsche Soldaten auch am Schutz der türkischen Südgrenze beteiligt. Diese Einsätze sind zwar nicht gegen Russland gerichtet, aber sie finden statt, nachdem es dort zum Abschuss eines russischen Flugzeuges gekommen ist. Die russisch-türkischen Beziehungen haben sich seitdem dramatisch verschlechtert.

Die Modernisierung seiner Streitkräfte kostet Russland viel Geld. Davon war zu Zeiten hoher Öl- und Gaspreise reichlich vorhanden. Doch angesichts fallender Rohstoffpreise, einer verschleppten Modernisierung der russischen Wirtschaft und auch infolge der westlichen Sanktionen hat sich die Lage stark verändert. Wenn Russland die Modernisierung seiner Streitkräfte zukünftig im Tempo der vergangenen Jahre fortsetzen will, wird dies andere Teile des Staatshaushalts, darunter die Sozialleistungen, in Mitleidenschaft ziehen.

Zudem ist auch die Krim nach ihrer Eingliederung auf erhebliche Zuschüsse aus dem russischen Haushalt angewiesen, und auch der Konflikt in der Ost-Ukraine sowie der Einsatz in Syrien kosten Russland viel Geld. Momentan mögen die erheblichen finanziellen Mittel, die die russische Führung für ihre Großmachtpolitik aufbringt, kaum umstritten sein. Aber wird dieser Konsens auch dann bestehen bleiben, wenn die Kosten dieser Politik Russland nicht nur in einem Jahr, sondern langfristig belasten?

Sanktionen aufheben? keine gute Idee

Es gibt Stimmen, die angesichts der Bedeutung Russlands für eine Lösung des Syrien-Konfliktes eine Aufhebung der Sanktionen voraussagen, die der Westen wegen des Ukraine-Konfliktes gegen Russland verhängt hat. Eine solche Kursänderung der westlichen Politik ist jedoch wenig wahrscheinlich. Die Bundesregierung hat immer wieder betont, dass die Aufhebung der gegen Russland gerichteten Sanktionen erst denkbar sei, wenn Moskau seinen im Minsker Abkommen eingegangenen Verpflichtungen nachkomme. Dabei sollte es auch bleiben, weil die Stabilisierung der Lage in der östlichen Ukraine für Europa große Bedeutung besitzt und ein anderes Verhalten die außenpolitische Glaubwürdigkeit der EU beschädigen würde.

Die Vereinigten Staaten sehen dies ähnlich. Überhaupt ist die Zusammenarbeit zwischen der EU und Washington angesichts der Konflikte in der Ost-Ukraine und in Syrien intensiver geworden. Die Funktion der Nato als Versicherung gegen sicherheitspolitische Risiken wird in Europa und den Vereinigten Staaten heute stärker akzeptiert als noch vor einigen Jahren. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass die russische Führung die westlichen Reaktionen auf ihr militärisches Engagement auf der Krim und in der Ost-Ukraine falsch eingeschätzt hat. Sie kann diese Reaktionen auf keinen Fall als russischen Erfolg verbuchen.

Die deutsche Politik kann allerdings kein Interesse daran haben, dass die Schwächen und Fehleinschätzungen der russischen Politik eine weitere Verfestigung der Moskauer Wagenburg-Mentalität nach sich ziehen. Aus diesem Grunde ist es nur konsequent und richtig, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier immer wieder für kooperative Angebote an Russland eintritt. Es liegt in unserem Interesse, dass das größte Land Europas einen Ausweg aus seinen selbstverschuldeten außenpolitischen Sackgassen findet.


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