Wo nichts bleibt, wie es war

EDITORIAL

Die SPD setzt voll auf "Münte". Der knorrige Sauerländer soll Zuversicht verbreiten, wo Verzagtheit regiert, Richtung geben, wo sich Desorientierung breit gemacht hat. Er ist der richtige Mann zur richtigen Zeit. Denn gewiss braucht die deutsche Sozialdemokratie gegenwärtig zunächst einmal Stabilisierung, Integration, Besinnung auf die eigene Kraft und wie dergleichen im Jargon der Parteien heißt. Nötig ist das alles, hinreichen wird es nicht. Viel spricht dafür, dass die Musik heute vor allem woanders spielt: out there, "draußen im Lande". Stell dir vor, die SPD besinnt sich auf alte Tugenden, und die Gesellschaft hat mittlerweile ganz andere.

Wer genauer hinsieht, der weiß längst, wie dramatisch sich die Tektonik unserer Gesellschaft in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten verschoben hat, wie rasend schnell sich der Wandel weiter vollzieht, der Stück für Stück die Grundlagen der überkommenen Ordnung aufhebt. Die Gesellschaft durchziehen heute nicht mehr die gewohnten Konfliktlinien. Altes verblasst, Neues entsteht. Thesenfreudige Interpreten behaupten, die große Wasserscheide innerhalb der deutschen Gesellschaft sei derzeit der 40. Geburtstag: Wer den schon hinter sich habe, denke und handele - üblicherweise - noch in den alten Paradigmen, Orientierungen, Kategorien.

Die Jüngeren hingegen lebten bereits ganz selbstverständlich in einer neuen Welt. Ihrer Welt. Der Welt des 21. Jahrhunderts. Wo viele Ältere noch immer die Wiederkehr der Gewissheiten von gestern reklamierten, hätten sich die Nachwachsenden längst in der neuen Normalität einer Gesellschaft im Umbruch eingerichtet. Dieser Deutung zufolge besteht unsere Gesellschaft mittlerweile aus zwei sozialen, kulturellen und diskursiven Parallelkosmen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit voneinander entfernen. Während das Bezugssystem der einen noch von Normalarbeitsverhältnis und Betriebsrente handelt, von Pendlerpauschale und Eigenheimzulage, entstammt dieses ganze Universum für die anderen nur noch Erzählungen aus ferner Zeit.

Doch was noch fehlt, ist eine politische Form des Neuen. Was fehlt, sind Deutungen, die neue Erfahrungen und neue Wirklichkeit auf politisch wirksame Begriffe bringen. Was fehlt, ist überhaupt die Wendung der veränderten Mentalitäten dieses Landes ins Politische. "Politik ist Organisation", sagt Franz Müntefering, und so viel ist ja zeitlos richtig. Was fehlt, ist deshalb ein neues Bündnis zwischen gesellschaftsreformerisch gesinnten jüngeren Denkern und Politikern gleichen Alters, die sich radikal von den schal gewordenen Illusionen der Vergangenheit lösen und die Dinge in die eigenen Hände nehmen. Der junge Historiker Paul Nolte hat jetzt überzeugend das Bild einer Generation Reform entworfen, die sich genau dieser Arbeit annimmt (siehe Seite 52). Sehr viel deutet darauf hin, dass er auf der richtigen Fährte ist. Der große Umbruch erreicht auch die Politik.

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