Wollt ihr diesen oder den anderen?
Es ist vieles anders in diesem Wahljahr als vier Jahre zuvor. Entgegen manchen Prognosen ist die Wahlkampfstilistik, sind Inszenierung und muntere Kleinkunst nicht weiter nach vorn gerückt. Zaghafte Versuche wurden vom Wähler eher ignoriert, von den Medien zerzaust. Als planmäßiges Vorgehen kaum wahrnehmbar sind Drehbücher, Kampagnen und Kommunikationslinien. Auch in der Art der Wahlkampfführung gibt es Konjunkturen, Arenen und Kampas agieren diesmal zurückhaltend.
Ihr Potenzial schöpft die Union im Frühjahr 2002 bislang wesentlich besser aus als die SPD. Trotz massiver Unzufriedenheit erreicht die Stimmung aber noch nicht das Konzentrat eines Wendegefühls, jene Energie, die entschieden die Oppositionsseite begünstigen würde. Ein wichtiger Grund liegt im unterschiedlichen Ansehen der beiden Spitzenkandidaten. Eine weitere Bremse ist - so das Allensbacher Meinungsforschungsinstitut - das Fehlen eines zentralen Wechsel-Themas. Die Erwartung, ein Regierungswechsel könne nennenswerte Veränderungen bringen, ist kaum zu verzeichnen.
Was bewegt sich jetzt noch, was kann den Ausschlag geben? Sachsen-Anhalt bedeutete für die SPD eine bittere Niederlage, auch was die nähere Zukunft im Bundesrat angeht. Die Koalitionsoption mit der PDS in ostdeutschen Ländern ist noch fragwürdiger geworden. Die SPD hat für ihre Revitalisierung ein bis zwei wertvolle Wochen eingebüßt. Schlimmer als die nackten Zahlen, deren Übertragbarkeit auf Deutschland insgesamt sehr fraglich ist, war für die SPD der Zeitpunkt der Wahl. Gerade bröckelten die Unionswerte, und die SPD-Werte stiegen wieder an. Vor allem aber zeigte der Kanzlerkandidat Schwächen, wie vor ihm schon andere regional erfolgreiche Ministerpräsidenten.
Über allen Feldern herrscht Ideenruhe
Auf nahezu allen Politikfeldern herrscht rund um den taktisch ausweichenden Kandidaten eklatante Ideenruhe. Zwar führen CDU und CSU bei der Sonntagsfrage, aber Edmund Stoiber und seine keineswegs geordnete Truppe tun viel dafür, das zu ändern. Stoibers auf niedriges Profil angelegtes Regierungsprogramm weckt Zweifel, was Finanzierung, Reichweite oder Konsensfähigkeit angeht. Die Dachverbände der deutschen Wirtschaft beurteilen Stoibers Steuerpläne - Kernstück seines Programms - als wachstumsfeindlich und stützen den Kurs der SPD, die auch von den Gewerkschaften wieder mehr Zustimmung erfährt.
Trotz vieler Vorlagen von Seiten der SPD hat Edmund Stoiber einen unsicheren Start hingelegt. In der CDU und in unionsnahen Zeitungen gibt es Zweifel am "ausgesprochen mäßigen" (Die Welt) Kandidaten. "Kann er es?" - so wird hinter vorgehaltener Hand gefragt. Dauert die schwache Vorstellung weiter an, wird sich bei den Wählern der Eindruck verdichten: "Die können es nicht besser." Dann wäre Sympathie wahlentscheidend - und Schröder stünde als Sieger fest. Schon heute stellen sich viele Wähler eine nahe liegende Frage: Warum sie eigentlich den Kanzler wechseln sollen. Schröder wird den Menschen nahebringen, dass noch viel zu tun bleibt. Und dass da einer ist, der es machen will.
Die Stimmung ist optimistisch wie lange nicht
Der kommunikative Kanzler wird die Wähler daran erinnern, dass seine Regierung das geschafft hat, woran sich die matte Vorgängerregierung nicht mehr ernsthaft versucht hatte: Haushaltskonsolidierung, fast 500.000 Arbeitslose weniger, Umbau von Steuern und Rente, ein Atomausstieg im Konsens, gesellschaftspolitische Neuerungen wie die Lebenspartnerschaft. Alles erfolgte in Maßen, und weckte deshalb nur mäßige Begeisterung. Das vielleicht größte Verdienst des Kanzlers liegt darin, dass er den Konsolidierungskurs seines Finanzministers stützte. Die Sozialdemokraten widerstanden der Versuchung, die schwache Konjunktur durch staatliche Ausgabenprogramme aufflackern zu lassen.
Positive Erwartungen an die Konjunktur sind die Grundvoraussetzung für eine gnädige Stimmung der Wähler. Mittlerweile spricht einiges dafür, dass sich bis zum 22. September noch einiges wendet. Vor allem drei Größen haben einen signifikanten Einfluss auf die Wahlchancen: Die Höhe der Arbeitslosigkeit, die Entwicklung der Einkommen sowie die Höhe der Inflation. Für die Konjunktur signalisieren alle Frühindikatoren behutsame Besserung. Die Stimmung in den Unternehmen ist so optimistisch wie lange nicht mehr. Die Medien ziehen nach und die Wähler - so die Allensbacher Meinungsforscher - werden zeitlich verschoben im Sommer folgen.
Mehrfach in Folge meldete das Münchner Ifo-Institut günstige Werte für den Geschäftsklimaindex, das wohl wichtigste Barometer für die Stimmung der Unternehmen. Die Zinsen sind niedrig und die Ausfuhren beschleunigen sich. Im Inland liegt die Teuerung deutlich unter den Werten von 2001. Die verfügbaren Einkommen werden, so der Sachverständigenrat, im Jahr 2002 zunehmen. Die große Wählergruppe der Rentner erhält im Juni (nach Plan) eine deutliche Erhöhung.
Das aufwühlende Tief war mit 4,3 Millionen Arbeitslosen im März erreicht. Anfang April kam der unvermeidliche Frühling, mit ihm ebenso unvermeidlich die ersten Lichtblicke für den Arbeitsmarkt. Im Frühsommer werden es weniger als vier Millionen Arbeitslose sein, und das Konjunkturfenster öffnet sich. Ein Aufklaren oder gar ein sommerliches Hoch muss Stoiber als Gegenwind, darf Schröder als Rückenwind empfinden. Arbeitskämpfe und überzogene Abschlüsse können die zarten Trends allerdings erheblich beeinträchtigen - psychologisch noch mehr als materiell.
Es geht um Erneuerung und Zusammenhalt
Anders als noch zu Beginn des Jahres gibt es jedenfalls keine Kontroverse mehr darüber, ob der Aufschwung kommt, sondern was daraus gemacht werden kann. Die Union wird vorerst die "Schlusslicht-Debatte" weiterführen. In Sachsen-Anhalt war das erfolgreich, im Bund könnte ein Miesepeter-Image entstehen. Die SPD spricht offensiv vom wirtschaftlichen Aufschwung, der Arbeitsplätze und politische Spielräume schaffen kann. Allein die Konjunktur allerdings wird es für SPD und Koalition nicht richten.
Die Wähler sind hin- und hergerissen zwischen Erneuerungserwartungen und Ängsten. Die Wahlentscheidung fällt über die Frage, wer das größere Vertrauen auf sich ziehen kann, mit positiven Trends kompetent und sozial verantwortlich umzugehen. Im September wird es nach Überzeugung der SPD jenen bis zu 10 Prozent der Wähler, die noch zu erreichen sind, in erster Linie um eine Balance von Erneuerung und Zusammenhalt gehen. Verantwortung ist das Prinzip, das für den Ausgleich sorgt.
Zentrales Thema ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Dort profiliert sich überraschend nicht Edmund Stoiber, sondern ein Sozialdemokrat mit mutigen Vorschlägen. Gerhard Schröders Problemlöser, Florian Gerster, soll Impulse zur Stimulation des Arbeitsmarktes geben. Der Bericht der Hartz-Kommissionim August bietet die große Chance, beim wichtigsten Thema in die Offensive zu kommen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit (Stichwort Vermittelbarkeit) ist ein wichtiger Ansatz, der auf breite Zustimmung stößt.
Die Hausaufgaben auf dem Arbeitsmarkt - vor allem im Niedriglohnsektor - können bis zur Wahl nicht mehr gelöst, wohl aber angepackt werden. Nürnbergs geschummelte Statistik wird zum Ausgangspunkt für Reformen auf dem Gebiet, auf dem die Regierung viel versprochen und zu wenig erreicht hat. Der Kanzler und SPD-Chef kann sich im Sommer noch einmal als derjenige präsentieren, der entscheidet und vorantreibt. Ein Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einer "kundenorientierten" Vermittlungszentrale ist populär. Die Wähler erwarten keine Wunder, misstrauen großen Worten. Sie wollen realistische Perspektiven und eine jeweils moderate Position der Tarifpartner im Bündnis für Arbeit.
Die Wähler sind hochbeweglich, ihre Motive und Erwartungen gleichwohl nicht einheitlich. Es gibt strategische Wähler, die auf bestimmte Koalitionen aus sind. Die Grenzgänger zwischen den Unionsparteien und der FDP sind von einem anderen Stamm als Wähler, die zwischen SPD und CDU wechseln. Es gibt auch die völlig Ungebundenen, die weit überdurchschnittlich aus politisch Desinteressierten bestehen. Ziel des Wahlkampfes sind die vielen Unentschlossenen, die Suchenden. Deshalb wird sich der Wahlkampf im Sommer auf das Duell der Personen zuspitzen.
Stoiber steht für die gehemmte Gesellschaft
In fast allen Fragen der politischen Ökonomie liegen Schröder und Stoiber nicht weit auseinander. Als im Zweifel vorsichtige Modernisierer gelten beim Wähler beide, ordnungspolitisch sind sie keine Dogmatiker. Es geht am 22. September aber nicht in erster Linie darum, wer der bessere Macher ist. Die wesentlichen Unterschiede liegen tatsächlich anderswo: bei den angeblich weichen Themen und den alltagskulturellen Anmutungen. Schon der Streit um die Zuwanderung brachte in den Wahlkampf einen besonderen Unterton hinein.
Edmund Stoiber ist nicht bloß ein Macher anderer Art, sondern ein kulturelles Gegenbild zum Bundeskanzler. Der CSU-Mann ist der typische Vertreter einer geschlossenen, auch gehemmten Gesellschaft. In der SPD und bei ihren festen Wählern erinnert Stoiber an die Gefühle politischer Zugehörigkeit. "Sein Vorteil ist kulturelle Eindeutigkeit, sein Nachteil der Zeigefinger, den man dabei immer zu sehen meint", schreibt Warnfried Dettling. Auch ungebundene Wähler haben erhebliche Vorbehalte gegen den Kandidaten.
Die Mitte ist ein flüchtiger Ort geworden, seit die Parteien ihren Wählern weniger Unterscheidbares als früher für eine Entscheidung an die Hand geben können. Während die Vorsitzenden der Union ihre Interpretation der Mitte noch anlehnen an Begriffe aus der Welt der alten Kämpfe, geht die Strategie der SPD von dem einfachen Gedanken aus: Die Mitte erkennt sich in Gerhard Schröder wieder, der sich ihr nicht durch Herkunft, sondern durch Leistung angehörig sieht.
Gerhard Schröder ist der Prototyp der Achtundechziger-Kohorte, die alle Entwicklungsstufen der Bundesrepublik durchlaufen hat und heute im Zentrum der Gesellschaft kulturell dominiert. Sein Vorteil ist die Offenheit, die inzwischen ein Grundmerkmal unserer Gesellschaft ist. Seine Anziehungskraft erhält er nicht durch eine Ideologie, sondern durch ein verbindendes Lebensgefühl. An ihm orientiert sich die "Aufstiegsmitte", dank der Bildungsreform aufgestiegen und lebensweltlich häufig in der Familienphase angesiedelt.
Mit gutem Grund wird die SPD stark auf die Frage setzen, welcher Kandidat das "Lebensgefühl der Gesellschaft" eher repräsentiert: Schröder oder Stoiber. Ein solches, nur vage zu beschreibendes, eben: zu "fühlendes" Kriterium politischer Kultur besitzt großes Potenzial für die Auseinandersetzung im Wahlkampf. Es geht um Unterschiede in Modernität und Liberalität - nicht zwischen zwei Gesellschaftsmodellen, wohl aber zwischen zwei Arten von gesellschaftlichem Klima.
Schröder beendete die Erstarrung der Kohl-Ära
Die Rückerinnerung am Wahltag könnte lauten: Schröder nahm die biedere Erstarrung Helmut Kohls vom Land und gab dem Aufbruch eine positive Richtung. Bildung als neue soziale Frage, moderne Familienpolitik, überlegte Zuwanderungspolitik entsprechen der Erwartung und dem Lebensgefühl einer progressiven Mitte in Deutschland. Auch das Konzept für nachhaltige Entwicklung mit einer Perspektive bis 2020 gehört in diesen Kontext. Auf Sympathie in der modernen Mitte trifft die Idee eines nationalen Sparpakts von Bund, Ländern und Gemeinden aus Eichels Haus. Das Ziel ist vor allem Generationengerechtigkeit.
Familie ist da, wo Schröder ist
In Zukunft muss besonders von dem Abbau von Barrieren die Rede sein, die viele daran hindern, ihre Kinder- und Familienwünsche auszuleben. Gleichzeitig wird Kinderbetreuung immer mehr zum harten ökonomischen Thema. Mit dem Familienthema hat Gerhard Schröder einen vielleicht wahlentscheidenden Joker gezogen. Meilenweit liegt er in der Kompetenzfrage mit 50:25 vor seinem Herausforderer von der CSU (Allensbach). Bei den Parteien sieht es für die SPD mit 45:22 (Infratest) ähnlich günstig aus. Als politisches Thema - auch vom Kanzler - lange unterschätzt, ist es in der Wahrnehmung der Medien zum potentiellen Siegerthema geworden: "Familie ist da, wo Schröder ist".
Für das Lebensgefühl der modernen Mitte ist das von Gerhard Schröder und Renate Schmidt gewendete Familienbild der SPD von zentraler Bedeutung. Eine über zwei Jahre planmäßig angelegte Vorbereitung der SPD im Hinblick auf Personen und Programme, Netzwerke und Kommunikation, trägt im Frühjahr 2002 erkennbar Früchte. Die Kohorte der Achtundsechziger ist auch in dieser Frage im Zentrum der Gesellschaft angekommen. Es wird keinen althergebrachten Lagerwahlkampf geben. Es geht nicht im klassischen Sinne um "rechts oder links", sondern um "vorwärts oder rückwärts".
"Die oder wir", so wird es heißen, wobei die SPD laut Wahlprogramm unter "wir" nicht nur die eigene Partei versteht, sondern die Koalition. Franz Müntefering, der diese Aussage vorschlug, kennt die große Bedeutung von Rotgrün für die Motivation vieler SPD-Mitglieder. Und so könnte aus dem Plebiszit über den Kanzler im Spätsommer auch eine Abstimmung über ein starkes Duo werden: Die Kombination Schröder/Fischer kann aus Sicht der Wähler in Sachen Beliebtheit, Kompetenz und Lebensgefühl gegen jedes andere Paar erfolgreich bestehen.
Die Spitzen der Unionsparteien haben ähnliche Situationen wie die derzeitige in den achtziger und neunziger Jahren zu gründlich studieren können, um das politische Frühjahrshoch mit der Herbstwetterlage 2002 zu verwechseln. Im ersten Halbjahr 1986 etwa zeigte die Sonntagsfrage für die SPD einen Trend, der den Kanzlerkandidaten der SPD zu Mutmaßungen über eine erreichbare absolute Mehrheit hinriss. Im Frühjahr 1994 hatten die Regierungsparteien Union mit FDP über Monate hinweg keine demoskopische Mehrheit mehr.
Die Konjunktur wird sich aufhellen, die Arbeitslosigkeit sinken, der Stern dieser Regierung kann wieder steigen. Ein paar gute Vorschläge zur Erneuerung (Arbeit, Familie), ein kleiner Aufschwung, viel Hoffnung auf die Fairness des Wählers, nicht schon nach vier Jahren den Stab zu brechen: Das alles kann zusammen mit einer selbstbewusst vorgetragenen Regierungsbilanz, einem kommunikativen Kanzler, begleitet von Kampa und Parteiaktiven im Sommer die Lage schrittweise verändern. Wenn sich die SPD nicht selbst demontiert, wird ein gut gelaunter Kanzler am Ende in einem Plebiszit über die "zweite Wahl" triumphieren.