Wollt ihr Europa retten, dann schickt Geld und Zigaretten!
Willy Brandt sagte 1992 auf dem Kongress der Sozialistischen Internationale in Berlin: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ Seitdem sind mehr als 20 Jahre vergangen und Europa hat sich grundlegend gewandelt. Die Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon haben die Vielfalt Europas auf eine neue gemeinsame Grundlage gestellt und die europäischen Staaten auf friedlichem Wege so nah zusammengeführt wie nie zuvor. Doch das Miteinander hat Risse bekommen, die mittlerweile kaum noch übertüncht werden können. Die 2008 eskalierte und seit 2010 fast kontinuierlich präsente Krise rüttelt an den Grundfesten des europäischen Gebäudes. Krisensitzungen und Rettungspakete sind alltäglich geworden, die Stimmung im gemeinsamen Haus Europa ist schlecht, denn alles dreht sich ums Geld – und bei dem hört bekanntlich die Freundschaft auf. Deshalb ist jetzt der Moment, sich auf die eigene Kraft zu besinnen, sich zu fragen, ob man noch auf der Höhe der Zeit ist – und die Antworten zu prüfen.
Merkel ist nicht der neue Hitler – aber was dann?
Wie konnte es so weit kommen? Blicken wir kurz zurück. Seit dem gemeinsamen Auftritt Angela Merkels und Peer Steinbrücks im Herbst 2008 mit dem Satz, die Spareinlagen der Deutschen seien sicher, dreht sich das Rettungskarussell immer schneller. Etwas abgebremst wurde es lediglich durch die Ankündigung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi, alles tun zu wollen, um den Euro zu behalten. Mittlerweile befindet sich die Eurozone in einer zwar nicht mittels „Eurobonds“ formalisierten, aber durch die verschiedenen Rettungsschirme existierenden De-facto-Haftungsgemeinschaft. Die hauptsächlich in der Haftung stehenden Geberländer – allen voran Deutschland – verlangen als Gegenleistung bei den Nehmerländern die Bereitschaft, gnadenlos zu sparen, um sich zu konsolidieren. Wohin dies führt, lässt sich an den Arbeitslosenquoten der betroffenen Länder, aber noch viel deutlicher an der schlechten Stimmung der Menschen dort erkennen. Zur Verhinderung von Bankenpleiten aufgewandte Rettungsgelder in Milliardenhöhe belasten die Staatshaushalte besonders der südlichen Euroländer und Irlands und haben im Namen des Spardiktats zu massiven Sozialkürzungen geführt. Jobs geschaffen, kranke Menschen gesund gemacht oder hungrige Menschen satt, hat kein einziger Rettungseuro.
In dieser Hinsicht ist der sich in Griechenland, Zypern, Italien, Spanien und Portugal entladende Volkszorn nur zu verständlich. Aber bei allem Verständnis beschleicht manchen europäisch orientierten Deutschen dennoch ein mulmiges Gefühl, wenn die eigene Regierungschefin als Hitlerkarikatur, Nazi-Domina oder zu verbrennende Strohpuppe dargestellt wird. Auch weit unter der Gürtellinie liegende Einlassungen deutscher Presseorgane und einzelner Politiker zu Arbeitsmoral und Lebenseinstellung unserer europäischen Freunde rechtfertigen nicht diese Heftigkeit. An dieser Stelle muss man sich ernsthaft fragen, welche Entwicklung dazu geführt hat, dass sich Europa derzeit unter dem Leitmotiv „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ immer heftiger streitet.
Ein kurzer Blick auf die historischen Hintergründe: Das Vierteljahrhundert vor dem Vertrag von Maastricht 1992 war geprägt von der Dominanz der Geldpolitik der Bundesbank und der Stärke der Mark. Als Hüterin von Währungs- und Preisstabilität sicherte die Bundesbank das Vertrauen der Deutschen in ihr Geld. Gegenüber den staatlicher Kontrolle unterliegenden Zentralbanken anderer Länder Europas hatten die Deutschen bei der Bundesbank das gute Gefühl der Unabhängigkeit von der Regierung. Dementsprechend besaß die Bundesbank im Europäischen Währungssystem quasi die Führungsrolle. Dies führte bereits damals immer wieder zu Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich als Motor der europäischen Integration. Wo die Deutschen auf strikter Stabilität beharrten, war das französische System flexibler, da die französische Zentralbank Banque de France staatlichen Weisungen unterlag und bei Bedarf steuernd eingriff.
In diesem Gegensatz wird auch der Unterschied zwischen beiden Systemen deutlich. Im zentralistisch organisierten Frankreich mit seinen 101 Departements liegt die Etathoheit bei der Zentralregierung. Vereinfacht gesagt, haben die Departements keine eigenen Einnahmen, sondern einen zentral zugewiesenen Etat. Wird dieser lokal überschritten, laufen die Mehrkosten an zentraler Stelle im Gesamtetat auf und müssen dort ausgeglichen werden. Das übliche Vorgehen der französischen Regierung bestand darin, die benötigten Mittel durch die Ausgabe von Staatsanleihen auf dem Finanzmarkt einzusammeln. Wurden die für die Kredite zu zahlenden Zinsen zu hoch, erging die Anweisung an die Zentralbank, die Geldpolitik zu lockern.
Verantwortung für die eigene Verschuldung
Dagegen ist im föderal organisierten Deutschland die Etathoheit nicht zentral geregelt: Städte, Länder und Gemeinden sowie der Bund finanzieren sich aus eigenen Steuereinnahmen, für die sie auch die alleinige Gesetzgebungskompetenz haben (zum Beispiel für die Grunderwerbs- und Gewerbesteuer). Mit der Eigenständigkeit hinsichtlich der Einnahmen geht allerdings auch die Verantwortung für die eigene Verschuldung einher. Übersteigen die Ausgaben die Einnahmen, müssen Städte, Länder und Gemeinden sowie der Bund jeder für sich Kredite aufnehmen. Eine gemeinsame Anleihe der Länder ist erst vor kurzem gescheitert. Auf Bundesebene werden die benötigten Mittel durch die Ausgabe von Staatsanleihen auf dem Finanzmarkt eingesammelt. Der von staatlichen Weisungen unabhängigen Bundesbank war und ist es verboten, Staatsanleihen des Bundes aufzukaufen.
Mit der Errichtung der Europäischen Zentralbank am 1. Juni 1998 und der Einführung des Euro als Buchgeld zum 1. Januar 1999 gaben die nationalen Notenbanken ihre maßgeblichen Kompetenzen an die neue unabhängige Instanz ab. Da in diesem Zuge auch die französische Zentralbank aus dem staatlichen Eigentum in die Unabhängigkeit entlassen und Mitglied im Europäischen System der Zentralbanken wurde, hatte Frankreich die Möglichkeit der Staatsfinanzierung über die eigene Notenbank mit Eintritt in die Währungsunion aufgegeben. Neben Frankreich traf dies auch für eine Reihe weiterer Staaten zu, die allerdings durch ihren Eintritt in die Währungsunion im Gegenzug auch von der guten Bonität der starken Mitglieder profitierten, durch die sich ihre eigenen Kreditratings und Refinanzierungszinssätze massiv verbesserten. Hierbei wurde das Wechselkursrisiko durch die Ratingagenturen bei Eintritt in die Währungsunion automatisch in ein Kreditausfallrisiko umgewandelt. Das Risiko, dass Staatsanleihen im Falle der Abwertung gegenüber einer anderen Währung an Wert verlieren könnten, wurde so zu einem Risiko, dass ein Staat zahlungsunfähig würde. Man ging davon aus, dass die nach den Prinzipien der Bundesbank gegründete EZB und die strikten Regeln des Maastricht-Vertrags sicherstellten, dass alle Beteiligten über kurz oder lang die Anpassung an die neue, härtere Währung bewältigen würden. Die Pflicht, Staatsanleihen mit Eigenkapital zu unterlegen erschien unnötig. Die Insolvenz eines Staates war nicht vorgesehen, der Teufelskreis der sich gegenseitig hochschaukelnden Banken- und Staatsschuldenkrise ebenfalls nicht.
Diese maßgebliche systemische Bruchstelle in der Konstruktion der Eurozone tritt im oben beschriebenen europaweiten Streit aktuell mehr denn je zu Tage. Die deutsche Regierung sieht die EZB in der direkten Kontinuität der Bundesbank und besteht darauf, dass sich jeder Staat – wie im deutschen Finanzsystem üblich – selbst und eigenverantwortlich refinanziert. Die französische Position favorisiert dagegen den Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB, um Druck von hoch verschuldeten Ländern zu nehmen. Jede Seite handelt dabei gemäß ihrem ureigenen Selbstverständnis. Entsprechend spitzt sich der ungelöste Systemkonflikt immer weiter zu.
Welche Folgen und Gefahren drohen nun durch die Forcierung der Politik „Geld gegen Reformen“? Unabhängig davon, dass der Eingriff in die Souveränität anderer Länder – indem ihnen vorgeschrieben wird, wie sie zu funktionieren und zu wirtschaften haben – über die bisher vertraglich vereinbarten Abgaben von Souveränitätsrechten hinausgeht und als ein bisher im Europa der letzten siebzig Jahre ungekanntes imperialistisches Verhalten betrachtet werden kann: Es besteht akute Gefahr für den gemeinsamen Binnenmarkt und dessen vier zentralen Freiheiten des ungehinderten Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs. Durch die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen schafft Zypern einen von EU-Gremien und EZB genehmigten Präzedenzfall, diese fundamentalen Freiheiten einzuschränken. Gleichzeitig entsteht sogar ein doppelter Schaden, da die Gemeinschaftswährung in einem Land, das Kapitalverkehrskontrollen vornimmt, faktisch weniger wert ist als in den anderen Ländern der Währungsunion, was letztere zusätzlich untergräbt.
Derweil übernimmt die EZB mit ihrer Geldpolitik immer mehr die Rolle des tonangebenden politischen Akteurs – allerdings ohne politisches Mandat. Sie fördert die Zentralisierung der Eurozone, die gemeinsame Haftung für Schulden und die Einebnung von Wettbewerbsungleichheiten. Auf der Strecke bleiben die Prinzipien Subsidiarität und Eigenverantwortung sowie das Motto „Konkurrenz belebt das Geschäft“ – Dinge, ohne die das deutsche Wirtschaftswunder undenkbar gewesen wäre. Der über die vergangenen Jahre immer weiter abgesenkte Leitzins der EZB – für die einen zu hoch und die anderen zu niedrig – droht auch für die kommenden Jahre auf niedrigem Niveau zu verharren oder sogar ins Negative abzurutschen und so das weitere Auseinanderdriften der Euroländer zu befördern. Auf diese Weise sabotieren die Anpassungsprobleme aller Beteiligten an die Gemeinschaftswährung die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft und sorgen zu allem Überfluss auch noch für Zwietracht unter den europäischen Partnern.
Die Leidtragenden sind die kleinen Leute
Die hauptsächlichen Leidtragenden dieser Entwicklung sind in ganz Europa die Kernwählerschaft der SPD und ihrer Schwesterparteien: sozial Schwache, Arbeiter und Angestellte bis in die gehobene Mittelschicht hinein. Diese Gruppen haben nicht die Möglichkeiten, ausreichend Geld in Aktien oder Immobilien zu stecken. Sie legen ihr Geld – wenn am Monatsende überhaupt etwas übrig bleibt – auf Tagesgeldkonten, Sparbüchern, mittels Banksparplänen und in Lebensversicherungen an. Allesamt Sparformen, die durch niedrige Zinsen und Geldentwertung am härtesten getroffen werden. Am Ende droht Altersarmut, da bei einer lang andauernden Niedrigzinsphase die Renditeversprechen gerade von Versicherungsprodukten Makulatur sein dürften. Dadurch gerät das althergebrachte Kernversprechen der SPD in Gefahr: sozialer Aufstieg aus eigener Kraft. Wer nicht in der Lage ist, Geld zurückzulegen und sich durch Sparen in eine bessere Ausgangsposition zu bringen, um sich selbst und seinen Kindern bessere Bildung und Ausbildung zu ermöglichen, der wird es in Zukunft immer schwerer haben, sich hochzuarbeiten. Die soziale Mobilität wird noch stärker nachlassen, als es ohnehin bereits der Fall ist.
Die Zukunft Europas liegt nicht in einer Schicksalsgemeinschaft nach deutschem Vorbild, sondern in den sich frei entfaltenden Lebensweisen und Mentalitäten des Kontinents. Diese gilt es gemäß dem europäischen Leitgedanken „In Vielfalt geeint“ zu bewahren – und nicht einzuebnen oder in ein Korsett zu zwingen. Wie Ferdinand Lassalle bereits vor etwa 150 Jahren treffend feststellte: „Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und bemänteln dessen, was ist.“ Die neue europäische Erzählung muss die Herzen der Menschen für das freie und friedliche Europa gewinnen, darf dabei aber die vielfältigen ökonomischen Realitäten nicht ignorieren, denen die Gemeinschaftswährung auf Dauer nicht Stand hält. Eine gesamteuropäische Perspektive für die Länder außerhalb der Eurozone kann nicht im Beitritt in eine Schuldenunion bestehen. Besonders die Sozialdemokratie hat in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie Fehlentwicklungen erkennen, unangenehme Realitäten benennen und neue Wege beschreiten kann – auch wenn es nicht immer die des geringsten Widerstandes waren. Ein offener, ehrlicher und auf der Höhe der Zeit geführter europäischer Dialog wird heute dringender gebraucht denn je.