Zwischen Ritual und Utopie

Wie andere große Organisationen sucht die IG Metall nach Mitteln gegen Mitgliederschwund und Legitimitätsverlust. Eine große "Zukunftsdebatte" und ein "Zukunftskongress" im Juni sollen neue Wege aufzeigen. Das Vorhaben erläutern KLAUS LANG UND JUPP LEGRAND

Rote Fahnen und Trillerpfeifen. Warnstreiks, Urabstimmungen und Streikdrohungen - die IG Metall ist in den Medien präsent. Aber nicht unbedingt als zukunftsorientierte Kraft. Tarifverhandlungen und Arbeitsniederlegungen gelten vielen Menschen als antiquierte Rituale. Allerdings weiß niemand, wie Tarifkonflikte besser und schneller gelöst werden können. Viele Verhandlungen, ob auf der weltpolitischen Bühne oder im Gemeinderat, sind weniger effektiv, dauern länger und kosten mehr. Dagegen sind Tarifauseinandersetzungen höchst rational und effizient - und die Beteiligten finanzieren sie auch noch selbst.

Die Gewerkschaften nehmen aber mehr und vielfältigere Aufgaben wahr, als es in Tarifkonflikten zum Ausdruck kommt. Ihr Beitrag ist unerlässlich für das Funktionieren von Betrieben und Verwaltungen: Sie organisieren Betriebs- und Personalratswahlen, beraten Mitglieder und qualifizieren Interessenvertretungen. Sie geben Rechtsschutz, informieren über Gesetze und vertreten die Belegschaften bei Sanierungs- und Konkursfällen. Als gesellschaftliche Akteure engagieren sie sich nicht nur in "Bündnissen gegen rechts" oder an "runden Tischen für Toleranz".

Obwohl die Tarifpolitik im Zentrum steht, entscheidet sie nicht alleine über die (Mitglieder-) Stärke der Gewerkschaften. Image und öffentliches Auftreten der Gewerkschaften, ihre Kompetenz für "Arbeit und soziale Gerechtigkeit", die direkte Ansprache der potenziellen Mitglieder am Arbeitsplatz sowie das Ansehen und die Überzeugungskraft der hauptamtlichen Funktionäre spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.

Wir leben in einer epochalen Umbruchphase. Alte Gewissheiten verlieren an Überzeugungskraft, neue Antworten müssen gesucht werden. Mit der "Zeitenwende" von 1989/90 sind politische Umbrüche sowie gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen in die Wege geleitet oder forciert worden, die auch die Gewerkschaften betreffen. Vor diesem Hintergrund hat die IG Metall 1999 beschlossen, eine neue Zukunftsdebatte zu führen. Sie greift aktuelle Probleme auf und stellt sich grundsätzlichen Herausforderungen.

Verteidigen Gewerkschaften nur das Gestern?

Mitgliederentwicklung und Mitgliederstruktur zählen zu den schwersten Hypotheken, die die Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften belasten. Der Mitgliederrückgang hat sich zwar verlangsamt, aber ein Aufwärtstrend ist noch nicht abzusehen. Der tief greifende Wandel in der Arbeitswelt (Frauenerwerbstätigkeit, Dienstleistungsbranchen, Angestelltentätigkeiten) und das Durchschnittsalter der Belegschaften spiegeln sich in der Mitgliederstruktur der IG Metall nicht wider: Arbeiter, traditionelle Branchen und Großbetriebe sind nach wie vor recht gut organisiert - Jugendliche, Frauen, Angestellte und Beschäftigte der neuen Sektoren oder aus Klein- und mittleren Betrieben bleiben unterrepräsentiert.

Die Reichweite der Tarifverträge nimmt ab. Für Unternehmen, besonders bei Neu- und Ausgründungen, ist es keineswegs selbstverständlich, Mitglied eines Arbeitgeberverbandes zu werden. Für die Belegschaften bleibt die indirekte Normierung der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge und Gesetze wirksam, so dass eine Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht notwendig scheint. In Klein- und Mittelbetrieben ist es noch schwieriger geworden, Mitglieder zu organisieren und Tarifverträge durchzusetzen.

Der politische Einfluss der Gewerkschaften geht zurück. Der tradierte Sozialstaat wird in Frage gestellt. Der Neoliberalismus bestimmt nicht nur die Politik der konservativen und liberalen Parteien, sondern beeinflusst auch sozialdemokratische Politikkonzepte. Der Nationalstaat verliert durch die Europäisierung der Politik und die Globalisierung der Wirtschaft an Bedeutung. Damit wird der nationale Lebens- und Wirtschaftsraum, das Aktionsfeld erfolgreicher Gewerkschaftspolitik, in Frage gestellt.

Erscheinungsbild und Image bringen die Gewerkschaften ins Zwielicht. Sie gelten einerseits als mächtig - und geraten andererseits in den Verdacht, nur das Frühere als das Bessere zu verteidigen und den Wandel als Verfall zu begreifen. Damit laufen sie Gefahr, ihre Möglichkeiten gesellschaftlicher Gestaltung und politischer Beeinflussung einzuschränken und auch in ihren Kernbereichen der Tarif- und Betriebspolitik schwächer zu werden.

Ohne fertige Antworten in die Zukunftsdebatte

Die ökonomische Globalisierung verschärft die Konkurrenzbeziehungen in der Wirtschaft. Weltweite Produktionsverbünde und Produktionsverlagerungen sind an der Tagesordnung. Deutlich geringere Produktionskosten bei gleichzeitiger Verfügbarkeit von qualifizierten Fachkräften sind Ursachen für Produktionsverlagerungen, etwa in mittel- und osteuropäische Länder.

Der technische Wandel hat auf Grundlage der Digitalisierung die Informations-, Kommunikations- und Steuerungsmöglichkeiten erweitert und beschleunigt. Er ermöglicht neue Produktionskonzepte, schafft neue Produktionsverbünde und verändert die Leistungssteuerung. Es entstehen neue und höhere Anforderungen an die Qualifikation - und einmal erworbene Qualfikationen verfallen schneller als je zuvor. "Virtuelle Unternehmen" ohne festen Firmensitz oder stabile Belegschaft sind keine irrealen Zukunftsbilder, sondern Realität.

Der gesellschaftliche Strukturwandel hat das Individuum gestärkt. Befreit von den Fesseln einer strikten Milieuzugehörigkeit sind einerseits neue Entfaltungs-, Freiheits- und Aufstiegschancen gegeben, andererseits aber alte Solidaritätserfahrungen weggebrochen. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist in neu strukturierten und differenzierten Arbeitnehmerbereichen heute alles andere als selbstverständlich.

Das ist die Ausgangslage. In Zielsetzung und Verlauf der Zukunftsdebatte zeigen sich die Erneuerungsbereitschaft und die Fähigkeit der IG Metall, "neue Wege zu wagen". Die IG Metall orientiert sich am Leitbild des mündigen Arbeitnehmers. Deshalb wurde die Zukunftsdebatte nicht mit "fertigen" Antworten gestartet. Von Anfang an zielte sie auf breite Beteiligung der Mitglieder und die aktive Mitwirkung von Nichtorganisierten. Grundlage bilden die Ergebnisse verschiedener empirischer Untersuchungen und Erhebungen sowie die Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Diskursen und gesellschaftlichen Diskussionen. An dieser ersten Phase (Motto: "Mehr erkennen") haben sich fast 120.000 Menschen beteiligt. Die wichtigsten Befunde aller drei Erkundungsstränge sind Anfang 2002 als "IG Metall-Zukunftsreport" erschienen.

Wie viel verändern? Und was bewahren?

Die Zukunftsdebatte ist ein Weg, gesellschafts- und betriebspolitische Konzepte zu überprüfen. Kriterien sind die Vorstellungen der Mitglieder, die Erwartungen der Nichtorganisierten, die Ratschläge der Wissenschaft und die Forderungen aus gesellschaftlichen Debatten. Es geht darum, die Dimensionen des sozialen Wandels, die Reichweite der ökonomischen Veränderungen und die Realitäten in Politik und Betrieben zur Kenntnis zu nehmen. Wo müssen wir uns verändern? Was gilt es zu bewahren? Die Zukunftsdebatte ist die Organisation dieses Prozesses. Mit dem Zukunftsreport liegt jetzt ein Zwischenbericht vor, der Auskunft über den Stellenwert von Erwerbsarbeit gibt, Aussagen über gesellschaftspolitische Wahrnehmungen zulässt und Erwartungen nennt, die die Befragten an die IG Metall richten.

Arbeitswelt im Wandel. Fragt man nach Themen, mit denen die Menschen die meisten Hoffnungen oder Ängste verbinden, werden mit jeweils großem Abstand Aspekte des Arbeitslebens genannt. Sicherung von Arbeitsplätzen (74 Prozent) und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (70 Prozent) werden als wichtigste Aufgaben der Gewerkschaften bezeichnet. 92 Prozent der Befragten befürworten den Ausbau der Mitbestimmung beim Kündigungsschutz, 77 Prozent fordern von der IG Metall mehr Einsatz bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Für drei Viertel ist die Sicherung der Arbeitsplätze auch das Top-Thema für die betrieblichen Interessenvertretungen.

Arbeit ist wichtig. Die Familie auch

Ein Kennzeichen des Wandels sind die neuen Arbeitsverhältnisse. Zwar hat das so genannte Normalarbeitsverhältnis noch immer große Bedeutung, aber neue Formen und die Zunahme sogenannter prekärer Arbeitsverhältnisse relativieren seinen Stellenwert. Die Teilzeitquote steigt, befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit und andere atypische Beschäftigungsformen nehmen zu. Auch die Frauenerwerbstätigkeit wächst (obwohl sie in den neuen Ländern deutlich gefallen ist). Dieser Wandel der Arbeitsgesellschaft wird wahrgenommen, zum Teil erwartet man seine Beschleunigung. Die Entwicklungen werden allerdings nicht einheitlich bewertet. Die Zunahme von Selbständigkeit und die höhere Frauenerwerbsquote werden mehrheitlich begrüßt. Dagegen werden die Ausweitung von Leiharbeit, gering bezahlter Dienstleistungsarbeit und Mehrfachjobs abgelehnt.

Unsere Befragungen bestätigen, dass der Stellenwert von Arbeit steigt: Die Menschen arbeiten gerne, ihr Beruf bedeutet ihnen viel. Aber die meisten wollen nicht, dass ihr Privatleben unter der Arbeit leidet. Partnerschaft und Familie stehen (neben sicheren Arbeitsplätzen) ganz oben auf der Bedürfnishierarchie. Frauen wollen im Beruf weiterkommen, Männer Zeit für die Familie haben. Erwerbstätigkeit mit Partnerschaft zu vereinbaren - das ist eine zentrale Erwartung, die politischen Handlungsbedarf erkennen lässt und gewerkschaftliche Gestaltungskompetenz erfordert.

Dass eine gute berufliche Aus- und Weiterbildung im Beruf immer wichtiger wird, sagen mehr als zwei Drittel der Befragten. Allerdings ist die Qualifikationsbereitschaft der Menschen geringer als die Bedeutung, die sie Weiterbildung und lebenslangem Lernen zuschreiben. 60 Prozent zeigen sich bereit zur Weiterbildung, 40 Prozent sind eher zurückhaltend. In der IG Metall wird diskutiert, welche Schlüsse aus diesem Ergebnis zu ziehen sind. Reicht es, wenn wir Staat und Unternehmen in die Pflicht nehmen und neue Konzepte fordern? Oder sollen die Gewerkschaften selbst als Qualifikationsakteure auftreten und die Weiterbildung und Beschäftigungsfähigkeit fördern?

Wie hältst Du′s mit dem Flächentarifvertrag?

Stoff für kontroverse Diskussionen liefern auch die Befunde zu Arbeitszeitthemen und Flächentarifvertrag. Arbeitszeitgestaltung ist für die Befragten eine zentrale Aufgabe der Gewerkschaften. Für die Befragten spielen geregelte und familienfreundliche Arbeitszeiten eine wichtige Rolle. Von der IG Metall erwartet man mehr Einsatz für konsequenten Überstundenabbau, die Einhaltung der tariflichen Arbeitszeit und die Förderung der Altersteilzeit. Weniger Einsatz von der IG Metall wird besonders bei weiterer genereller Arbeitszeitverkürzung gefordert. Mehr als die Hälfte rechnet damit, dass die Arbeitszeiten immer mehr den Erfordernissen der Betriebe angepasst werden. Immerhin 43 Prozent begrüßen das auch.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Haltung zum Flächentarifvertrag. Einerseits genießt er einen hohen Stellenwert und großes Vertrauen. Gleichzeitig meint mehr als ein Drittel, dass er zunehmend von betrieblichen Lösungen abgelöst wird. 41 Prozent begrüßen diese Entwicklung. Differenzierung ermöglichen und Vielfalt gestalten - unter diesen Maximen wird die IG Metall die Arbeitszeitpolitik und die Reform des Flächentarifvertrages angehen müssen.

Gesellschaft im Wandel: Mit "Zukunft" verknüpfen sich zu nahezu gleichen Teilen Hoffnungen (39 Prozent) und Ängste (31 Prozent). Im Osten überwiegt der Anteil derer, die mit Zukunft eher Ängste verbinden. Dass die Menschen immer egoistischer werden, hält mit 72 Prozent die übergroße Mehrheit für realistisch. 18 Prozent sind der Meinung, dass die Solidarität zwischen den Arbeitnehmern wachsen wird, 38 Prozent sind sicher, dies werde nicht der Fall sein.

Zwei Drittel wollen den Sozialstaat, wie er ist

Die Entwicklung der Einkommen und Vermögen sowie die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums wird von 60 Prozent der Befragten als ungerecht wahrgenommen. Die rot-grüne Regierung hat nach Meinung einer überwältigender Mehrheit der Befragten nicht mehr Gerechtigkeit geschaffen: Nur fünf Prozent denken, heute gehe es gerechter zu als früher. Auch die Unterschiede zwischen neuen und alten Bundesländern werden nicht als geringer, sondern als größer wahrgenommen.

Seit Jahren wird über die Reform der sozialen Sicherungssysteme gestritten. Nicht zuletzt die Gewerkschaften stehen im Fadenkreuz der Kritik, weil sie sich gegen vermeintliche Reformen sperren und Veränderungen verhindern wollen. Unsere Ergebnisse zeigen die schwierige Gratwanderung, vor der die Gewerkschaften hier stehen. Rund zwei Drittel der Beschäftigten im Organisationsbereich der IG Metall wollen das System der sozialen Sicherung in seiner heutigen Form erhalten wissen. Eine stärke Beteiligung der Beschäftigten an der Finanzierung oder eine Begrenzung der Leistungen lehnen jeweils 53 Prozent ab. Nur jeweils knapp ein Drittel zeigt sich für "Alternativen" aufgeschlossen. Höhere Eigenbeteiligung oder geringe Leistungen erreichen allerdings bei Jüngeren, besser Ausgebildeten und IT-Beschäftigten höhere Zustimmungswerte. Das Gesamtresultat belegt den politischen Willen für eine Reform der Sicherungssysteme, die alle Beschäftigten einschließt.

Gewerkschaft im Wandel: 29 Prozent sagen, dass die Globalisierung die Gewerkschaften schwächt. Bedauert wird dies von 82 Prozent. Nur 16 Prozent sind der Meinung, dass die Macht der Gewerkschaften künftig zunehmen wird, während 43 Prozent diese Entwicklung für unwahrscheinlich halten. 28 Prozent der Befragten sind überzeugt, dass die IG Metall eine wichtige Kraft in unserer Gesellschaft ist. Einem Drittel erscheint sie "angesichts des schnellen wirtschaftlichen Wandels heute wichtiger denn je. 16 Prozent sind "voll und ganz", 43 Prozent "eher" der Meinung, dass die IG Metall "klare Konzepte für die Zukunft" hat. Gut fällt das Urteil zur Arbeit der IG Metall vor Ort aus. 70 Prozent stimmen "voll und ganz" oder "eher" der Aussage zu, dass sie gute Arbeit in den Betrieben leiste.

Protest ist beliebter als Konsens

Eindeutig sind die Ergebnisse bei den Aufgaben, die Gewerkschaften zugeschrieben werden. Die Rangfolge bestätigt, dass die Kompetenzen der Gewerkschaften in erster Linie bei den Themen Arbeit und soziale Gerechtigkeit gesehen werden. Auch dass Service und Dienstleistung "rund um Arbeit" hoch im Kurs stehen, verfestigt diesen Gesamteindruck. Während 48 Prozent der Befragten generell "mehr Leistungen und Service" erwarten, wünschen sich 59 Prozent mehr Dienstleistungen "rund um das Thema Arbeit". Nur jeder Fünfte fordert "mehr Dienstleistung für den Alltag".

Hohe Wertschätzung genießt das "Bündnis für Arbeit". 85 Prozent sagen, es sei wichtig, dass Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften im Bündnis zusammen arbeiten. 73 Prozent sind der Meinung, dass Bündnis sei wichtig zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Fehlende Ergebnisse haben aber dazu geführt, dass die positive Einstellung zum Bündnis schwindet und sich Skepsis breit macht. Deutlich gestiegen ist der Anteil derer, die von den Gewerkschaften mehr Druck und Protest erwarten.

Besonders auf betrieblicher Ebene und in den Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern wird eine "härtere" Gangart der IG Metall gewünscht. 33 Prozent der Befragten zeigen sich eher kompromissbereit, 45 Prozent sind konfliktorientiert. Fragt man, ob die IG Metall ihre Macht deutlicher durch Streiks zeigen oder mehr auf Verhandlungen setzen sollte, findet dieser Trend Bestätigung: 47 Prozent tendieren zu "Machtdemonstrationen" wie Streiks, 35 Prozent fordern "Verhandlungen".

Auch kritische Reflexion könnte helfen

Die Zukunftsdebatte soll nicht bei den Resultaten der Erhebungen verharren. Die - auch kontroverse - Erarbeitung neuer politischer Orientierungen kann nicht durch die Ergebnisse von Meinungsumfragen ersetzt werden. Sie stehen am Anfang eines Prozesses, der auf kritische Reflexion setzt und die produktive Auseinandersetzung sucht. Über den Zukunftsreport ist in den letzten Monaten in der IG Metall diskutiert worden. Gleichzeitig wurden gesellschaftliche Gruppen zu Stellungnahmen aufgefordert sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Kommentare gebeten. Die Ergebnisse dieser zweiten Phase ("Weiter denken") fließen nun in den Entwurf eines Zukunftsmanifestes, das wir auf einem Zukunftskongress im Juni 2002 präsentieren werden.

Wir führen die Zukunftsdebatte, um politische Entscheidungen zu beeinflussen, gesellschaftliche Debatten zu beleben, um Programm und IG Metall zu reformieren. Bei den politischen Entscheidungen zielen wir auf die Beeinflussung der Wahl- und Regierungsprogramme der Parteien, aber auch auf den Verhandlungsprozess des Europäischen Verfassungskonvents. Wie kann durch politisches Handeln dem Vorrang für Beschäftigung Rechnung getragen werden? Wie muss ein wirksames Bündnis für Arbeit konstruiert sein? Politische Forderungen müssen auch aus der als ungerecht empfundenen Verteilung von Einkommen und Vermögen abgeleitet werden. Es geht um die aktive Rolle des Staates, die Zukunft des Sozialstaates und um europäische Modelle sozialstaatlicher Entwicklung. Aber auch um den Aktionsraum der Gewerkschaften: ein europäisches Mitbestimmungs- und Beteiligungsrecht für Arbeitnehmervertretungen und Gewerkschaften, die Garantie sozialer Grundrechte in Europa, die grenzüberschreitende Tarifautonomie und ein entsprechendes Streikrecht gehören auf die Agenda.

Ein besseres Image wäre auch nicht schlecht

Wir wollen gesellschaftliche Debatten beeinflussen. Unsere Themen sind die Zukunft sowie die Gestaltung der Erwerbsarbeit, eine moderne Arbeitszeitpolitik und besonders die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie eine wirksame Gleichstellungspolitik. Eine wichtige Rolle muss die Frage spielen, wie die globale Wirtschaft sozial reguliert und ökologisch gestaltet werden kann. Wir brauchen eine ethische Debatte - nicht nur über die Möglichkeiten und Grenzen der Gentechnik, sondern auch über den Sinn und die Grenzen des Wettlauf um immer höhere Kapital- und Umsatzrenditen. Liegt der Wert eines Unternehmens tatsächlich nur in dem "Mehrwert" für Eigentümer und Kapitalgeber? Oder muss er sich nicht auch in der Qualität seiner Produkte und Dienstleistungen, in der Zahl der Arbeitsplätze und familienfreundlichen Arbeitsbedingungen erweisen?

Für die gewerkschaftliche Arbeit sollen Orientierungen begründet und Optionen eröffnet werden: für die Arbeitszeitpolitik, die Differenzierungen in der Tarifpolitik, die Regulierung von neuen Arbeitsformen und die Gestaltung neuer Arbeitsverhältnisse. Das gleichstellungspolitische Engagement der Gewerkschaften wird sich bei einer anderen Verteilung von Erwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern, in allen Qualifikationsstufen und auf allen Hierarchieebenen zeigen müssen. Aber auch Veränderungen im Image und Auftreten der IG Metall stehen auf der Tagesordnung. Das Ziel lautet, nach innen mehr Vielfalt zu ermöglichen, Differenzierung zu stärken und dies nach außen sichtbar zu machen.

Tradierte Werte und gelebte Zukunft

Die Anstrengungen, Denkhorizonte zu erweitern und in der praktischen Politik andere Pfade zu beschreiten, dürfen mit Zukunftskongress und Zukunftsmanifest nicht beendet sein. Ein wichtiges Ziel der Zukunftsdebatte muss ihre Nachhaltigkeit werden. Darum müssen ihre Ergebnisse in die Vorbereitung des Gewerkschaftstages der IG Metall, der 2003 stattfindet, ebenso einfließen wie in die anstehende Arbeitszeitdebatte.

In der dritten Phase ("Zukunft leben") sollen konkrete Projekte im Mittelpunkt stehen - etwa die Stärkung der europäischen Gewerkschaftsarbeit, die zielgerichtete Ansprache unterrepräsentierter Be-schäftigtengruppen und die Verbesserung von Serviceleistungen. Netzwerke gesellschaftlicher Kooperation sollen enger geknüpft werden, beispielsweise mit Organisationen wie Attac oder Greenpeace. Und der Austausch mit Wissenschaftlern muss ausgebaut und verstetigt werden, etwa über den Arbeitskreis "Zukunft" der Otto-Brenner-Stiftung, der als ständige Einrichtung Beratungsfunktionen für die IG Metall ausfüllen könnte.

Die IG Metall ist vielfältiger, flexibler und reflexiver in ihrer Alltagsarbeit, als es für viele den Anschein hat oder die Rituale der Tarifauseinandersetzung vermuten lassen. Die Zukunftsdebatte ist ein Weg, die tradierte Wertorientierung der IG Metall mit Zukunftsoptionen zu verknüpfen. Es gilt, mit der aktuellen Modernisierung die Erneuerung von Utopien zu verbinden.

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