Zwänge und Chancen
Der Wechsel an der Parteispitze in dieser prekären Situation legt einen Rückblick auf den Weg in die Krise ebenso nahe wie die Suche nach Möglichkeiten, aus der Defensive herauszukommen. Dabei sollte man zunächst von der Einsicht ausgehen, dass die Preisgabe der Mehrheitsorientierung für keine Partei eine akzeptable Option ist. Auch wenn es Leitartikler und Wirtschaftsprofessoren anders sehen: Recht hat in der Demokratie grundsätzlich der, der auch Mehrheiten hinter sich versammeln kann - und das ist gut so. In dieser einfachen Regel verbindet sich die Suche nach ökonomisch und sozialtechnologisch praktikablen Problemlösungen mit dem Zwang, diese mit den kulturellen Kontexten und Interessen der Wähler zur Deckung zu bringen. Dies heißt aber auch: Wenn man reihenweise Wahlen verliert, hat man etwas falsch gemacht. Die Informationsfunktion der Wahlen für die politischen Eliten kann und soll dann zu Neubesinnung und Neubestimmung führen.
Mit seinem Rückzug vom Parteivorsitz im Februar reagierte Gerhard Schröder auf die anhaltend schlechten Umfragewerte auch über die Jahreswende hinaus. Hatte die SPD gehofft, durch den Bochumer Parteitag im November oder die Einigungen im Vermittlungsausschuss kurz vor der Weihnachtspause einen Stimmungswechsel herbeiführen zu können, so sah sie sich durch das Abrutschen der Partei bei der Wahlabsichtsfrage auf Werte um die 25 Prozent gründlich getäuscht. Dieser stark abgeschmolzene Rückhalt in der Wählerschaft, der seit dem Spätjahr 2002 immer bedrohlichere Züge angenommen hat, verheißt für die zahlreichen Wahlen dieses Jahres nichts Gutes.
Entsprechend war schon zum Jahresbeginn die Unruhe und Verbitterung vor allem in den Reihen der sozialdemokratischen Wahlkämpfer und in ihren Landesverbänden angewachsen. Schließlich weisen alle Umfragen seit geraumer Zeit darauf hin, dass die Aussichten von Sozialdemokraten auf regionaler Ebene durch das schlechte Ansehen der Bundesregierung beeinträchtigt werden. In Schröders Doppelrolle als Bundeskanzler und Parteivorsitzender begann sich ein Konfliktpotenzial aufzubauen, bei dem die Frustration der Parteibasis die Spielräume des Regierungschefs einzuengen drohte.
Zweifellos zieht der Übergang des Parteivorsitzes auf Franz Müntefering zunächst eine Brandmauer zwischen den Kanzler und den parteiinternen Unmut über die sozialen Unausgewogenheiten der Politik im Gefolge der Agenda 2010 ein. Indizien belegen, dass Müntefering einen unmittelbaren Zugang zu dem sozialdemokratischen Mainstream der Delegierten und Aktivisten hat, unmittelbarer jedenfalls als Gerhard Schröder. Insofern erscheint die Übernahme des Parteivorsitzes durch Müntefering schon jetzt als Belebung der angeknacksten Parteimoral. Aber die Freude über den Ruck, der durch die Reihen der SPD geht, sollte nicht aus dem Blick geraten lassen, dass auch mit einem neuen Parteivorsitzenden die Ursachen für das anhaltende Stimmungstief für die Sozialdemokraten unvermindert fortbestehen. Das entscheidende Problem der SPD bleibt ungelöst: Wie lässt sich die Kluft zwischen den Werthaltungen und Erwartungen eines wesentlichen Teils der SPD-Anhängerschaft und dem gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Angebot der Bundesregierung verringern oder gar schließen?
Diese Kluft zu überwinden wird sich vor allem deshalb als schwierig erweisen, weil der neue Parteivorsitzende eine Änderung des Schröderschen Kurses kategorisch ausgeschlossen hat. Mit dem Bekenntnis zur Politik des Bundeskanzlers kann jedoch auch Franz Müntefering sehr schnell genau in die Schwierigkeiten geraten, die Gerhard Schröder gerade zur Aufgabe des Parteivorsitzes gezwungen haben. Diese Schwierigkeiten resultieren nicht in erster Linie aus Kommunikationspannen oder handwerklichen Unzulänglichkeiten im Regierungsalltag, sondern sie gehen auf die Auswirkungen eines von den Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung selbst inszenierten und dramatisch unterschätzten Kulturbruchs ihrer Politik zurück. Die SPD ist im Begriff, ihre Position im deutschen Parteienspektrum zu räumen - mit unabschätzbaren Folgen für die Partei selbst und ihre Anhänger.
Schon ein kurzer Blick auf die Art und Weise, wie Wahlentscheidungen zustande kommen, offenbart die unerbittliche Mechanik hinter diesen Schwierigkeiten und kann die massenhaften Verluste der SPD bei den Wahlen und Umfragen der letzten Jahre erklären. Fast alle Wahlforscher in Deutschland greifen bei ihren Erklärungen und Prognosen des Wählerverhaltens auf das so genannte Ann-Arbor-Modell zurück. Benannt nach der Forschergruppe um Angus Campbell an der Ann-Arbor-Universität in Michigan, legt dieses Erklärungsmodell - in aller Vereinfachung - das Zusammenwirken dreier Faktoren bei der Entstehung der Wahlabsicht und Wahlentscheidung zu Grunde: Parteiidentifikation, Kandidaten und Sachfragen.
It′s values and convictions, stupid!
Da ist zunächst die langfristig stabile emotionale Bindung an eine Partei, die Parteiidentifikation. In ihr bündeln sich lebensgeschichtliche Faktoren wie der Einfluss des Elternhauses oder die politischen Einstellungen eines gewerkschaftlich geprägten Arbeitsumfeldes und schaffen zugleich einen Wahrnehmungsfilter für die aktuellen politischen Verhältnisse. Wähler mit einer Parteiidentifikation - und das sind derzeit rund 60 Prozent der deutschen Wählerschaft - nehmen in der Regel die Kandidaten und die politischen Positionen ihrer Partei signifikant positiver wahr als Wähler ohne diese Identifikation oder als Wähler, die sich mit einer anderen Partei identifizieren. Es entsteht über die Zeit eine Art politischen Urvertrauens, das nicht so leicht erschüttert wird.
Auch die Wähler, die keine feste Bindung an eine Partei besitzen, weil ihre Lebensumstände durch Mobilität und durch widersprüchliche Gruppenzugehörigkeiten und kulturelle Affinitäten gekennzeichnet sind, fällen ihre Wahlentscheidung nicht aus dem hohlen Bauch. Auch sie - und ihr Anteil ist in den letzten Jahren größer geworden - beurteilen die aktuelle Politik vor dem Hintergrund allgemeiner Werte und Grundüberzeugungen sowie ganz handfester sozialer und wirtschaftlicher Interessen. Erst vor diesem prägenden Hintergrund langfristiger Bestimmungsgründe kommen - so die Kernthese des Ann-Arbor-Modells - die beiden kurzfristigen Faktoren ins Spiel: die in der Regel durch die Medien vermittelten Eindrücke und Informationen zu Kandidaten und Sachfragen.
Den Wählern beider Gruppen, sofern sie eine Nähe zur Sozialdemokratie aufweisen, ist nun gemeinsam, dass in ihrem politischen Bezugsrahmen Werte wie "soziale Sicherheit" und "Gerechtigkeit", aber auch die ausgleichende Tätigkeit eines aktiven Sozialstaates eine hervorragende Position einnehmen. Für sie kommt es deshalb bei jeder Wahl, aber auch bei der Beurteilung einer öffentlich debattierten politischen Maßnahme wie etwa der Gesundheits- oder Steuerreform oder bei der Bewertung eines Spitzenpolitikers darauf an, ob und wie sich diese aktuelle politische Konstellation mit diesen Grundüberzeugungen vereinbaren lässt. Befinden sich die Kandidaten und die politischen Maßnahmen im Einklang mit den historisch gewachsenen belief systems der Wähler, dann erzeugen und stärken sie die Bereitschaft zur Stimmabgabe für die SPD; stehen sie dazu im Widerspruch, dann stiften sie Verwirrung und innere Distanz - und die Bereitschaft zur SPD-Wahl sinkt.
Das seit 1999 fortlaufende Drama der SPD am Wählermarkt besteht nun darin, dass sie mit ihrem wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kurs in beiden Segmenten ihres Wählerpotenzials in diesem Sinne systematisch Verwirrung stiftet und Akzeptanzprobleme aufwirft. Für die Wähler mit einer sozialdemokratischen Parteiidentifikation bedeuten die Politikangebote der SPD Gerhard Schröders einen Bruch mit den Traditionen sozialstaatlich verbriefter Gerechtigkeit. Diese Politik der Bundesregierung ist sozusagen nicht anschlussfähig. Viele Wähler reagieren auf die Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen und dem politischen Angebot mit dem klassischen Verhaltensmuster zur Bewältigung kognitiver Dissonanzen: Sie begeben sich in eine skeptische Wahlenthaltung - Attentismus als massenhafte Reaktion, die sich seit 1999 in allen Wahlen zu Lasten der SPD ausgewirkt hat. Aber auch ein erheblicher Teil der nicht langfristig an die SPD gebundenen Wähler erkennt in der Agenda 2010 durchaus eine Bedrohung ihrer sozio-ökonomischen Interessen und einen Verstoß gegen ihren Wertekanon. Eine Forsa-Umfrage aus dem März 2004 illustriert die vernichtende Einschätzung der Wirtschafts- und Sozialpolitik Gerhard Schröders in der Breite der Wählerschaft: 64 Prozent halten die Agenda-Politik für falsch, 76 Prozent halten sie für sozial ungerecht, 85 Prozent gar bezweifeln, dass im Gefolge dieser Politik neue Arbeitsplätze entstehen werden.
Bislang hat die Abkehr beträchtlicher Wählersegmente von der SPD Gerhard Schröders noch nicht zu massenhafter Konversion zur CDU geführt. Die Union hat ihre Wahlsiege in den Ländern im Wesentlichen durch die Mobilisierung eigener Potenziale errungen. Allerdings haben die dramatischen Zuwächse der CDU in Hamburg unter Arbeitern und Arbeitslosen einen ersten Eindruck davon vermittelt, dass unter für die Union günstigen, vor allem günstigen medialen Umständen (wie der Springer-Dominanz in Hamburg) durchaus beträchtliche Schwenks dieses Wählersegments erfolgen können.
Von der Enthaltung zur politischen Neuorientierung
Diese derzeit noch vorherrschende Neigung vieler vormaliger sozialdemokratischer Wähler zur Wahlenthaltung verheißt nicht zwangsläufig, dass sie schnell und umstandslos wieder für die SPD zurückzugewinnen sind. Zum einen kann sich Wahlenthaltung zu dauerhafter politischer Apathie verfestigen, vor allem wenn für die Anhänger einer sozialstaats- und gerechtigkeitsorientierten Politik keine attraktive Option im Parteienwettbewerb mehr besteht. Die anhaltende Wahlabstinenz vieler Wähler aus der unteren Hälfte der amerikanischen Gesellschaft bietet dafür seit Jahrzehnten ein anschauliches Beispiel. Zum anderen ist Wahlenthaltung oft eine Zwischenstation auf dem Weg zu einer anderen parteipolitischen Orientierung - gleichsam eine selbst verordnete Schamfrist, um in der eigenen Wählerbiografie nicht als allzu eifriger Überläufer zu gelten. Diese Neigung zum Wechsel wird vor allem bei den Wählern sichtbar werden, die unter dem medialen Trommelfeuer der Segensverheißungen der schönen neuen Leistungsgesellschaft ihre sozialstaatlichen Werthaltungen relativieren und die Reize der bürgerlichen Parteien - auch in der Gestalt sympathischer und noch unverbrauchter Kandidaten wie Ole von Beust - als the real thing entdecken.
Die Wahl von Hamburg hat diese Zusammenhänge - bei allen Eigenheiten des Lokalkolorits - einmal mehr illustriert, vor allem wenn man nicht nur die Wählerbewegungen am 29. Februar selbst betrachtet, sondern die Vertreibung der Sozialdemokraten aus ihren Hochburgen und Traditionsrevieren in den letzten fünf Jahren verfolgt.
Der Exkurs zur Mechanik der Wahlentscheidungen erklärt die jetzt schon sichtbaren Auswirkungen der Inkompatibilität zwischen Werthaltungen und Erwartungen der SPD-Klientel einerseits und dem aktuellen Kandidaten- und Politikangebot andererseits. Franz Müntefering, der neue Parteivorsitzende, wird diese negative Kausalitätskette kurzfristig kaum durchbrechen können. Zunächst schon deshalb nicht, weil er als Parteivorsitzender in den Augen der Wählerschaft nur ein Teil des öffentlich wahrgenommenen Akteursspektrums ist. Im Vergleich zum Bundeskanzler und der Regierung, die das politische Handeln sichtbar und verantwortlich gestalten, dürfte der unmittelbare Einfluss Münteferings auf die Einstellungen der Wähler zur Regierungspolitik deutlich geringer zu veranschlagen sein als seine Wirkung in den Reihen der SPD-Mitglieder und -Aktivisten. Vor allem aber wenn er seinem Vorsatz treu bleibt, die bisherige Politik des Kanzlers ohne Wenn und Aber weiter zu unterstützen, oder in den Begriffen des Ann-Arbor-Modells: Wenn er an dem Vorsatz festhält, an den Kurzfristimpulsen des politischen Personals oder der politischen Angebote nichts zu ändern, wird sich gemäß der Mechanik des Modells der Unmut einer frustrierten Wählerschaft auch weiterhin ungebremst gegen die SPD richten und Wahlniederlagen hervorrufen.
Damit werden die bislang gegen den Parteivorsitzenden Gerhard Schröder gerichteten Frustrationen, Sorgen und Ängste auf den neuen Vorsitzenden umgelenkt. Mitgliederschwund, Stimmenverluste und die damit verbundenen finanziellen Einbußen sowie die Erosion der sozialdemokratischen Präsenz in den Ländern und Gemeinden erzeugen nach den Gesetzen des Parteienwettbewerbs eine innerparteiliche Überlebenslogik, deren Dynamik man nicht unterschätzen sollte.
Was der Vorsitzende vom Kanzler verlangen wird
Wenn kein ökonomisches Wunder der SPD zu Hilfe kommt oder eine politische Bombe vom Format des Kohlschen Spendenskandals die Union nochmals lahm legt, wird diese Überlebenslogik den Parteivorsitzenden unweigerlich über kurz oder lang dazu zwingen, dem Kanzler Modifikationen im Bereich des Personal- und Politikangebots abzuverlangen, um so der Partei, ihren Mitgliedern und Anhängern den Eindruck zu vermitteln, ein überzeugenderes, anschlussfähiges sozialdemokratisches Zukunftsprojekt auf den Weg zu bringen. Es wird sich in ironischer Verkehrung der These von den "politics within markets" (Anthony Giddens) herausstellen, dass nicht nur die vom Bundeskanzler so oft zitierten globalisierten Märkte für Produkte und Dienstleistungen unerbittliche Zwänge ausüben können, sondern eben auch die Wählermärkte.
Mit welchem gesellschaftspolitischen Projekt wird sich die angeschlagene SPD unter der Führung ihres neuen Parteivorsitzenden aus der Defensive befreien können? Die Konturen eines derartigen Projekts zeichnen sich in den auf europäischer, aber durchaus auch auf deutscher Ebene geführten Diskussionen um die zukünftige Rolle der Bildungspolitik als Kernstück einer umfassenden gesellschaftspolitischen Offensive ab. Mit den Weimarer Leitlinien, die von der SPD zu Jahresbeginn vorgelegt wurden und eine breite öffentliche Debatte über Bildung, Innovation und Eliteuniversitäten auslösten, ist auch schon eine erste thematische Schneise in dieser Hinsicht geschlagen worden.
Allerdings zeigen der Verlauf der Debatte vor allem in den Reihen der SPD selbst und die Schwerpunkte, die dabei von führenden Sprechern gesetzt wurden, dass die Intonierung eines zentralen Themas allein nicht zu einer sorgfältig erzeugten "Anschlussfähigkeit" bei seiner Behandlung führt. Im Gegenteil. Obschon der Text der Leitlinien selbst durchaus bemerkenswerte Passagen zur zentralen gesellschaftspolitischen Funktion von Bildung enthält, haben sich die öffentlichen Beiträge führender Sozialdemokraten bislang fast ausschließlich und reflexartig auf die ökonomische Instrumentalisierung von Bildung konzentriert. Sie verengten das Innovationsverständnis auf den naturwissenschaftlich-technischen Bereich und bugsierten mit dem unseligen Thema der Elitehochschulen die bildungspolitische Initiative genau in den Interpretationsrahmen einer kalten Ökonomisierungs- und Leistungsideologie, aus dem für die große Mehrzahl potenzieller sozialdemokratischer Anhänger allenfalls die Aufmunterung erschallt, man solle sich eben am Riemen reißen.
Man muss nicht mit dem Soziologen Oskar Negt Elite unbedingt für einen "entehrten Begriff" halten, aber man kann angesichts dieser Debatte schon zu der Auffassung neigen, dass hier wieder einmal ein zentrales Zukunftsthema von der Sozialdemokratie selbst in einer Weise diskutiert und in die gesellschaftspolitische Kulisse eines sozialdarwinistischen Überlebenskampfes gerückt wurde, die einen vernünftigen Anschluss an die sozialdemokratische Traditionen der Gerechtigkeit und Verheißung für die schwächeren Teile der Gesellschaft unnötig erschwert.
Bildung und Innovation als sozialdemokratisches Projekt
Dass dann im weiteren Verlauf der Debatte die sozialdemokratischen Beiträge von den Hardcore-Elitisten jeweils spielend im Blick auf den ökonomistischen Rigorismus überboten und als zaghafte Stümperei kritisiert wurden, belegt einmal mehr die betrübliche Tatsache, dass die SPD im Wettlauf um die führende Position in diesem ideologischen Universum immer auf verlorenem Posten stehen wird.
Ein aus sozialdemokratischer Sicht anschlussfähiges gesellschaftspolitisches Projekt "Bildung und Innovation" könnte aus der Entwicklung von drei Leitgedanken entstehen. Zum ersten gilt es, Bildung und Innovation systematisch in Bezug zu den wichtigen anderen gesellschaftspolitischen Feldern zu setzen; zweitens kommt es darauf an, Bildung und Innovation und ihre Verankerung an Schulen und Universitäten breiter als nur in ihrer ökonomischen Instrumentalisierbarkeit zu verstehen und zu organisieren; drittens schließlich sollte der Bildungsbereich in Beziehung zu dem vielgestaltigen Feld des bürgerschaftlichen Engagements gebracht und Schule als community school und Sphäre partizipatorischen Lernens entwickelt werden. In diesen drei Themenbereichen gibt es - gerade auch im sozialdemokratischen Bildungsdiskurs - bereits hoffnungsvolle Ansätze und Erfahrungen, die sich zu einem gesellschaftspolitischen Nachfolgeprojekt für das klassische Verteilungs- und Transferparadigma ausbauen und verdichten lassen.
Erfolg und Akzeptanz von Bildungspolitik als Gesellschaftspolitik werden in entscheidendem Maße davon abhängen, ob es gelingt, die Zugänge und Bildungschancen gerecht und auch für diejenigen sozialen Gruppen zu organisieren, die bisher systematisch zu den Verlierern im deutschen Bildungswesen gehören. Hier können die Ergebnisse der PISA-Studie und anderer bildungssoziologischer Untersuchungen als Leitfaden dienen. Kinder und Jugendliche aus den unteren sozialen Schichten und aus Einwandererfamilien sind in ihren Bildungschancen hierzulande in skandalöser Weise benachteiligt. Dies zu ändern erfordert nicht nur schulische Reformen im engeren Sinne. Vielmehr wird sich diese Bildungsmisere nur durch ein umfassendes sozialpolitisches Repertoire der Familien-, Frauen- und Arbeitsmarktpolitik beheben lassen, das sich an dem von Gøsta Esping-Andersen entwickelten Modell einer children- and family-centered society orientiert - ein Gesellschaftsmodell, das auch im Blick auf die sich langfristig abzeichnenden Probleme des demografischen Wandels vorrangige Beachtung verdient.
Bildung in all ihren Formen wird auf diese Weise zu einem magnetischen Nordpol der öffentlichen Verteilungs- und Transfermaßnahmen, die dadurch von vornherein auch die Komponente des persönlichen Ansporns und Leistungsanreizes erhalten. Dies gilt neben dem klassischen Schulbereich natürlich auch für die Hochschulen, die berufliche Bildung und die Weiterbildung, ganz im Sinne des viel zitierten, aber nur unzureichend verwirklichten Postulats vom lebenslangen Lernen. Es liegt auf der Hand, dass diese Weiterentwicklung des Verteilungsparadigmas zugunsten einer auf Bildung und ihre Voraussetzungen ausgerichteten Sozialpolitik, die in einer Wissensgesellschaft immer auch als Investitionspolitik zu begreifen ist, weit reichende Umschichtungen in den öffentlichen Haushalten hervorrufen wird. Aber das ist ein unvermeidlicher Begleitumstand historischer Zäsuren - und um eine solche Zäsur handelt es sich bei dem Übergang in diese neue Phase der Moderne zweifellos.
Begabung und Talente sind nicht nach Schubladen sortiert
In seiner Binnenstruktur wird der Bildungs- und Innovationsbereich die Verengung auf möglichst unmittelbar ökonomisch nutzbare Wissens- und Forschungsdisziplinen überwinden müssen. Ein Lernen und Forschen, das nicht von vornherein die geistes- und sozialwissenschaftlichen und nicht zuletzt auch die musischen Disziplinen einbezieht, wird nicht weit kommen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Begabungen und Talente sind nicht säuberlich nach Schubladen sortiert; originelle und innovative Fähigkeiten, das kann man den Lebensläufen innovativer Wissenschaftler entnehmen, erwachsen oftmals im Grenz- und Spannungsfeld zwischen den Disziplinen.
Auch sind Innovationen nicht beliebig und auf einer "tabula rasa" produzierbar; sie setzen eine lebendige "Innovationskultur", eine breit gestreute geistige und kulturelle Attitüde der Zuwendung zu Neuem voraus, die sich nicht auf den naturwissenschaftlichen oder technischen Bereich beschränken lässt. Hier kommt in modernen Gesellschaften ins Spiel, was der Philosoph Odo Marquard schon in den achtziger Jahren hellsichtig die "Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften" genannt hat. Die von der Wirtschaft unter Mitwirkung der Politik vorangetriebene Modernisierung verursacht Verwerfungen und Verluste in der Lebenswelt der Menschen, die wiederum nur durch die Interpretationsleistungen der Kultur- und Humanwissenschaften kompensatorisch in einen sinnstiftenden Kontext gerückt und "eingefangen" werden können. Naturwissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Innovationen müssen durch die Geistes- und Kulturwissenschaften in einen begründbaren Rahmen gestellt werden, der sie legitimiert, in der Alltagswelt erträglich macht und die Menschen mit ihnen versöhnt. Über Jahrzehnte hinweg hat die Sozialdemokratie eine wesentliche Aufgabe darin gesehen, ihren Anhängern im weiten Sinne eine durch die Geistes- und Kulturwissenschaften gestützte Interpretation wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen anzubieten. Mitbestimmung, Sozialpolitik, aber auch Umweltpolitik und anderes mehr waren so immer auch mit einem innovativen wissenschaftlichen Diskurs verbunden.
Zur Bildung und Innovation gehört übrigens auch - Wolf Lepenies hat zu Recht darauf hingewiesen - der Mut und die Bereitschaft, Freiräume für eine vom unmittelbaren Nutzen und von der schnellen Verwertbarkeit abgekoppelte Wissenschaft und ein "nutzloses" Lernen einzuräumen und aufrechtzuerhalten. Schließlich ist ein über die naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen hinausweisendes, umfassendes Verständnis von Innovation auch schon aus dem pragmatischen Grunde zu empfehlen, weil sich etwa Innovationsstrategien und -bündnisse an den meisten Universitäten und Hochschulen bei den gegebenen Selbstverwaltungs- und Gremienstrukturen nur durch die aktive Mitwirkung auch der juristischen, philosophischen, sozialwissenschaftlichen und anderen Fakultäten verwirklichen lassen.
Eine neue Politik für die Enkel der ermatteten Parteibasis
Eine Verbindung zwischen dem Bereich der Bildung, besonders den Schulen, und dem Feld bürgerschaftlichen Engagements zu schaffen, ist die dritte wichtige Säule des gesellschaftspolitischen Projekts "Bildung". Damit knüpft die Sozialdemokratie an ihre Tradition der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe an. Die SPD hat hierzu in der Enquete-Kommission "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements" des Deutschen Bundestags wichtige Vorarbeiten geleistet, die ein Kongress der Bundestagsfraktion über die Idee und Praxis von community schools zum Jahresbeginn weiter entwickelt hat. Auch hier zeichnet sich ein Thema ab, bei dem wichtige Impulse gesetzt werden können für die Überwindung schicht- und statusbezogener Ungleichheiten bei den political skills, auf die etwa die letzte Shell-Studie in aller Deutlichkeit hingewiesen hat. Dass Franz Müntefering und auch der Bundeskanzler bei diesem Kongress mit Engagement beteiligt waren, mag Mut zur weiteren Exploration dieses Sujets machen.
Ein so umfassendes gesellschaftspolitisches Projekt in Anknüpfung an das klassische Verteilungsparadigma böte durchaus Chancen, im politischen Diskurs wieder Boden unter die Füße zu bekommen und die Gefechtsfelder verlassen zu können, auf denen die politischen Gegner nicht zu schlagen sein werden. Das Projekt hätte obendrein den Vorteil, dass es nicht primär um die fruchtlose, derzeit zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften strittige Prestigefrage geht, diesen oder jenen Aspekt der jetzt gerade verabschiedeten Maßnahmen wieder einzusammeln und dadurch einen politischen Gesichtsverlust in Kauf zu nehmen. Ein Projekt "Bildung" wäre - um im militärischen Jargon zu bleiben - eine Offensive an einem anderen Frontabschnitt.
Gerade auf dem Feld der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen trägt eine so breit angelegte Bildungspolitik auch zur Wiederbelebung einer mehrheitlich desillusionierten und ermatteten Parteibasis bei, wie sie der Göttinger Parteienforscher Franz Walter kürzlich in einem beinahe anrührenden Essay an einem Beispiel aus Nordhessen beschrieben hat. Bildungspolitik auch als Familienpolitik, als Politik für die Enkelkinder alternder Parteimitglieder - hier könnte eine SPD unter Franz Müntefering die klassische sozialdemokratische Verheißung, dass es den kommenden Generationen besser gehen solle, in einer zeitgemäßen Form präsentieren, die im Übrigen die Chance böte, alte Bündnisse, etwa mit den Gewerkschaften, mit neuem Leben zu erfüllen und neue Allianzen, etwa mit den zweiten und dritten Zuwanderergenerationen, zu schmieden.
Bei alledem wird es ganz wesentlich auf den strategischen Blick des neuen Parteivorsitzenden ankommen. Es sollte nicht nur darum gehen, der angeschlagenen Partei weiter Durchhaltewillen in einer nahezu aussichtslosen Gefechtslage einzuhämmern, sondern eine Politik zu formulieren, die der historischen Funktion der Sozialdemokratie als Partei der Korrektur gesellschaftlicher Verwerfungen und der Eröffnung emanzipatorischer Lebenschancen für breite Teile der Gesellschaft unter modernen Bedingungen gerecht wird.