"Frauenfußball ist ehrlicher und attraktiver"
BERLINER REPUBLIK: Ihre Erfolgsbilanz ist beeindruckend. Seit 35 Jahren führen Sie die Fußballfrauen von Turbine Potsdam von einem Titel zum nächsten. Was ist ihr Rezept?
BERND SCHRÖDER: Helmut Schmidt hat mal gesagt, die Politiker spürten heutzutage die Last der Verantwortung nicht mehr im Nacken. Da ist was dran. Wer den Zweiten Weltkrieg mitgemacht hat, der weiß: Jede Entscheidung hat Konsequenzen. Wer aber nie mit dem Hintern auf der Herdplatte saß, der begreift nicht ganz, dass man sich den Allerwertesten verbrennen kann. Wenn Sie erfolgreich sein wollen, müssen Sie die Verantwortung spüren – ob in der Politik, in der Familie oder im Sport. Außerdem braucht man Leidenschaft, Charisma, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und ein gutes Umfeld.
Früher wurde der Frauenfußball in Deutschland kaum wahrgenommen. Heute ist er richtig populär, die deutsche Frauennationalmannschaft ist amtierender Weltmeister. Laufen die Frauen dem Männerfußball den Rang ab?
SCHRÖDER: Joseph Blatter hat mal behauptet, die Zukunft des Fußballs sei weiblich. Das stimmt nicht. Männer- und Frauenfußball kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen. Frauenfußball hat eine eigene Philosophie, die wir unbedingt erhalten müssen. Wir hätten keine Chance, wenn wir alle Untugenden des Männerfußballs übernehmen würden. Die Gehälter im Profifußball zum Beispiel, die in keinem Verhältnis zur Leistung stehen. Oder das schlechte Benehmen auf dem Platz wie die Rudelbildung bei Entscheidungen des Schiedsrichters, das Spucken bei jeder Aktion, die Theatralik bei Zweikämpfen oder Verletzungen. Frauenfußball muss sympathischer daherkommen als der Männerfußball. Und er muss attraktivere Spiele mit mehr Toren bieten. Deshalb darf es die taktischen Zwänge der Männer bei uns nicht geben. Sonst könnten die Zuschauer ja auch zum Männerfußball gehen.
Das hört sich so an, als wäre der Frauenfußball moralisch überlegen.
SCHRÖDER: Nehmen wir mal Hertha BSC. Die wollen ein Großstadtverein sein, haben aber immer weniger Zuschauer. Warum? Weil die Berliner sich mit dieser Mannschaft nicht identifizieren und umgekehrt: Die Spieler identifizieren sich nicht mit den Berlinern. Fans sind aber sensibel. Die merken, ob eine Mannschaft alles gibt. Wenn man ein Spiel verliert, muss man trotzdem zur Kurve gehen und sich bei den Fans bedanken. Und genau diese Haltung geht beim Männerfußball verloren. Immer mehr bekommt man das Gefühl, dass die Spieler in einer Scheinwelt leben. Michael Ballack hat von Chelsea London angeblich ein Angebot über 170.000 Euro bekommen. Pro Woche! Da kann ich nur lachen. Hertha rate ich: Holt euch junge Leute mit Herz, die die Last der Verantwortung für diesen Verein und diese Stadt tragen.
Zieht das sympathische Image des Frauenfußballs trotzdem dieselben Fans an wie der Männerfußball?
SCHRÖDER: Nein, wir haben ein anderes Zuschauerbild. Zu uns kommen auch Frauen mit kleinen Kindern und Senioren. Weil sie wissen, dass sie bei uns nicht belästigt werden. Und weil sie das Gefühl haben, dass der Frauenfußball ehrlicher ist. Der durchschnittliche Fußballproll kommt nicht zu uns. Der identifiziert sich mit keiner Frau. Der will Männer sehen, die sich die Beine wegsäbeln und rumschreien.
Blicken wir zurück. Noch in den fünfziger Jahren hat der DFB den Frauenfußball verboten, weil das „schwächere Geschlecht“ einen derart harten Sport nicht betreiben sollte. Erst ab 1970 gab es im Westen einen ordentlichen Spielbetrieb für den Frauenfußball, wenn auch mit Auflagen: Eine halbjährige Winterpause war Pflicht, Stollenschuhe waren verboten, die Bälle kleiner und leichter, Spiele dauerten 70 statt 90 Minuten. Wie stand es in der DDR um den Frauenfußball?
SCHRÖDER: Obwohl wir gar nicht wussten, was hinter der Mauer passiert, gab es in den siebziger Jahren auch bei uns einen Frauenfußball-Boom – wie in ganz Europa. Innerhalb kurzer Zeit hatten wir in der DDR 300 Mannschaften. Den DDR-Sportfunktionären machte das Angst, weil Frauenfußball ja noch keine olympische Disziplin war. Die befürchteten, dass dieser populäre Sport anderen Sportarten die weiblichen Talente wegnimmt. Und die DDR hatte ja nur 17 Millionen Einwohner. Deshalb wurde Frauenfußball als „Freizeit- und Erholungssport“ eingestuft. Wir von Turbine Potsdam waren uns aber immer einig: Wir mussten Frauenfußball als Leistungssport betreiben, damit man sich überhaupt für uns interessiert. Weil in der DDR offiziell Gleichberechtigung herrschte, konnten die Funktionäre das politisch auch nicht unterdrücken.
Haben Sie auch gegen westdeutsche Mannschaften gespielt?
SCHRÖDER: Nein. Wir konnten nur ins sozialistische Ausland fahren. Wir hatten zwar gehört von Mannschaften wie Bergisch-Gladbach oder Siegen, die spitze waren. Aber wir haben es nie geschafft, Kontakt aufzunehmen. Wenn wir im sozialistischen Ausland an Turnieren mit Mannschaften aus dem kapitalistischen Ausland teilnahmen, bekamen wir riesigen Ärger. Die Anweisung war: Entweder wir reisen dann ab, oder wir zwingen den Gastgeber, die westliche Mannschaft nach Hause zu schicken. Ein Jahr lang haben die mich international gesperrt, nachdem wir einmal trotzdem gespielt hatten.
Gab es seit den siebziger Jahren bis zur Wende keine Lockerung dieser Restriktionen?
SCHRÖDER: Nein. Der einzige Kontakt, den wir hatten, waren einmal westdeutsche Fernsehjournalisten, die einen Beitrag über uns drehten. Das war für uns der Wahnsinn. Beim Training ist alles abgesperrt worden. Stasi-Leute hingen in den Büschen und überwachten alles. Nach der Wende haben wir natürlich sofort gesamtdeutsche Turniere gespielt. Das erste dieser Turniere haben wir gleich gewonnen. Und hinterher sind vier Spielerinnen von uns in den Westen gegangen. Gelockt mit Job und Auto.
Unsere Fußball-Frauen sind Weltmeister, die Männer stehen wenige Wochen vor der WM überhaupt nicht gut da. Kaum jemand glaubt noch an den WM-Sieg. Woran krankt es?
SCHRÖDER: Wir haben nicht das Potenzial an guten Spielern. Unsere Nachwuchsarbeit war in der Vergangenheit einfach nicht gut genug. Das liegt auch daran, dass die kleinen Vereine keine qualifizierten Übungsleiter haben. Meistens machen das Eltern ehrenamtlich und mehr schlecht als recht. Dabei müssten – wie überall – die Kleinsten eigentlich von Hochqualifizierten betreut werden. In den frühen Jahren werden die Grundsteine gelegt. Bei uns fehlen die guten Leute in der Breite, nicht an der Spitze.
Das war doch in erfolgreicheren Zeiten auch nicht anders.
SCHRÖDER: Aber durch die Kommerzialisierung des Fußballs nutzen andere Länder ihre Möglichkeiten viel besser. In Deutschland arbeiten die kleinen Vereine, wo die Talente ja entdeckt werden müssen, mit den großen Clubs nicht eng genug zusammen. Wir müssen die Zusammenarbeit innerhalb des DFB verbessern. Momentan denkt der DFB auch über die Ausweitung unseres so genannten Potsdamer Modells auf den Männerfußball nach: Jedes Jahr schulen wir zehn talentierte Fußballerinnen aus dem gesamten Bundesgebiet in die siebte Klasse der Eliteschule des Sports „Friedrich-Ludwig-Jahn“ in Potsdam ein. Die Nachteile dieses Modells: Nicht selten sträuben sich Eltern, weil Internate vor allem im Westen als Heime für „Schwererziehbare“ gelten. Außerdem müssen die jungen Sportlerinnen auch schulisch fit sein, was natürlich nicht alle Talente sind. Deshalb brauchen wir in Deutschland eine Mischung verschiedener Modelle der Nachwuchsförderung:
Zurzeit bekommt der Fußball durch die WM ungewöhnlich viel öffentliche Aufmerksamkeit. Räumen wir dem Sport in normalen Zeiten genug Platz ein?
SCHRÖDER: Die gesellschaftliche Funktion des Sports wird unterschätzt. In den letzten 35 Jahren sind die motorischen Fähigkeiten der Bevölkerung um 30 Prozent zurückgegangen. In jedem gesunden Körper steckt ein gesunder Geist, hat Turnvater Jahn gesagt. Recht hat er. Doch Sport fördert nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung der Menschen. Wenn wir die Leute zum Sport bewegen, dann entwickelt sich auch unsere Gesellschaft wieder aufwärts. Dabei geht es gar nicht um Leistungssport. Alle Menschen, besonders die Kinder, müssen sich einfach wieder mehr bewegen. Sonst fällt uns das später auf die Füße: Die Bewegungsarmut hat Auswirkungen auf das Gesundheitssystem, auf das Rentensystem, auf die Wirtschaft und nicht zuletzt auf das Miteinander.
Nachwuchsarbeit ist das Eine, die Anzahl der tatsächlich vorhandenen jungen Talente das Andere. Hat der durchschnittliche deutsche Junge überhaupt noch den Biss, Profi zu werden?
SCHRÖDER: Für die meisten anderen Sportarten akzeptiere ich solche Skepsis. Ruderer oder Kanute wollen heutzutage wesentlich weniger junge Leute werden als früher, schon weil man damit kaum Geld verdienen kann. Aber im Fußball kann man Millionen machen. Glauben Sie mir: Auch heute will jeder Junge Bundesligaspieler werden. Wenn man einem klarmacht, dass er ein Talent ist, dann ist der auch motiviert.
Andere Beobachter sind der Meinung, die Modernisierung der Nationalelf scheitere vor allem, weil Jürgen Klinsmann sich mit seinen innovativen Methoden bei den konservativen Altvorderen des DFB nicht durchsetzen kann. Die New York Times witterte sogar deutschen Anti-Amerikanismus: Es bestehe eine Abneigung gegen Klinsmanns E-Mail-Kultur, seine Powerpoint-Präsentationen und seine amerikanischen Trainingsmethoden.
SCHRÖDER: Ihm steht jeglicher Handlungsspielraum für Neuerungen zur Verfügung. Und seine Methoden sind sicher richtig. Aber auch als Jürgen Klinsmann können Sie aus Ackergäulen keine Rennpferde machen. Er glaubt: Was in den Clubs nicht passiert, müsse er jetzt machen. Das reicht aber nicht. Die durchgängige Linie der Nachwuchsförderung fehlt. Die Innovationen müssten in Zusammenarbeit mit den Clubs laufen. Klinsmann allein kann nicht wettmachen, was in den Clubs versäumt wurde. Dazu kommt: In den Clubs spielen die Nationalspieler ja teilweise gar nicht, weil da die Ausländer dominieren, die einfach besser sind. In den europäischen Mannschaftswettbewerben scheiden die deutschen Mannschaften reihenweise früh aus. Wo sollen eigentlich unsere Leute herkommen?
Klinsmann selbst hat sich nicht weniger als den Titelgewinn zum Ziel gesetzt. War das ein Fehler?
SCHRÖDER: Dieser Anspruch steht in einem krassen Widerspruch zur Realität. Es ist doch kein Zufall, dass wir gegen Italien 1:4 verloren haben. Das Problem ist: Nach dem Confederations Cup haben die Medien die Mannschaft bejubelt. Hier hätte Klinsmann eingreifen und die Lage sachlicher bewerten müssen. Man kann ein Spiel nämlich 5:0 gewinnen, aber trotzdem schlecht spielen. So aber ist die Erwartungshaltung in der Bevölkerung viel zu hoch geschraubt worden.
Der deutsche Männerfußball steckt in einer doppelten Krise: Es wird schlecht gespielt und ein Skandal jagt den nächsten. Ist das nur die Spitze des Eisbergs oder handelt es sich bei den Hoyzers und Calmunds vor allem um Medienphänomene?
SCHRÖDER: Vor der WM ist die Sensibilität sehr hoch. Natürlich bauschen die Medien gerade jetzt vieles auf. Aber die Skandale sind ein Abbild der Gesellschaft, in der es viele Ungereimtheiten gibt. Die Medien bilden unsere zerrissene Gesellschaft nur ab. Ich traue den Leuten alles zu. Diese Gesellschaft ist ein Hort solcher Gestalten wie Rainer Calmund, das meine ich nicht nur im negativen Sinne.
Wie wichtig ist das Abschneiden der deutschen Mannschaft bei der WM für unser Land?
SCHRÖDER: Nach der WM kümmert das niemanden mehr. Das ist wie in der Politik: Die Leute interessieren sich nur für Momentaufnahmen. Der normale Bürger ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er hakt so etwas sofort ab und geht zum Alltag über.
Hat Angela Merkel als deutsche Repräsentantin während der WM eigentlich einen Nachteil, weil sie eine Frau ist?
SCHRÖDER: Nein. Es gibt ja nicht nur schwarz oder weiß.
Wer wird Weltmeister?
SCHRÖDER: Brasilien, Argentinien oder Italien. Wenn Deutschland ins Viertelfinale kommt, wäre das ein Erfolg.
Herr Schröder, wir danken Ihnen für das Gespräch.