Hartz ist unschuldig, es war McKinsey

Der Fernsehjournalist Thomas Leif beleuchtet Einfluss und Praktiken, Auswirkungen und Auswüchse der deutschen Beraterlandschaft

Der von Gerhard Schröder geführten rot-grünen Bundesregierung ist oft vorgeworfen worden, sie verlagere zentrale politische Fragen aus dem parlamentarischen Raum immer mehr in Expertenkommissionen und Sachverständigenräte. Dies führe zu einem schleichenden Kontrollverlust des Parlaments und auf Dauer zu einem Niedergang des Politischen an sich. Aus der Rückschau mutet es merkwürdig an, dass die Rolle der Unternehmensberatungen in dieser Diskussion Niemandem eine Erwähnung wert war. Denn Vertreter der wichtigsten deutschen Beratungsfirmen wie McKinsey oder Roland Berger waren nicht nur in zahlreichen der von der Bundesregierung eingesetzten Kommissionen präsent, sondern gehören schon seit Jahren auf allen Ebenen der Ministerialbürokratie quasi zur Grundausstattung. Egal, ob der Bau einer Müllverbrennungsanlage oder die Reform des Arbeitsmarktes auf der Agenda steht: Ohne Einbeziehung von externen Beratern wird in der deutschen Politik kaum noch eine mit komplexen Planungsfragen und hohen Realisierungskosten verbundene Entscheidung getroffen.

Berater wohin man nur blickt

Aus dieser Nachfrage ist ein neuer Berufsstand entstanden, den es vor zwanzig Jahren in dieser Form noch nicht gegeben hat. Ein Netzwerk von Unternehmensberatungen, auf Beratung ausgerichteten Stiftungen und Think Tanks berät längst nicht mehr nur die Wirtschaftsführer der Republik, sondern hat Zuständigkeit auf fast allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen reklamiert.

Der Fernsehjournalist Thomas Leif hat in seinem Buch Beraten & Verkauft: McKinsey & Co. – der große Bluff der Unternehmensberater die Strukturen des deutschen Beratungsgeschäfts, die Berater, die Beratenen und die Felder der Beratung systematisch analysiert. Ganz offenbar hat er damit einen Nerv getroffen. Das Buch, seit seinem ersten Erscheinen im Mai 2006 mittlerweile in der zehnten Auflage, verknüpft investigative journalistische Recherche mit der Auswertung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse und langen, lesenswerten Interviews mit Insidern der Branche. Entstanden ist so eine Topografie der Beraterlandschaft, die es dem breiten Publikum überhaupt erst ermöglicht, den Einfluss und die Geschäftspraktiken einer Branche, in der Diskretion zu den wichtigsten Tugenden zählt, in ihren ganzen Auswirkungen zu verstehen. Wer hätte beispielsweise gewusst, dass weite Teile der Arbeitsmarktpolitik sowohl der rot-grünen wie der jetzigen Regierung von den beiden Beratungsfirmen McKinsey und Roland Berger geplant wurden? Und wer weiß schon, dass die Privatisierung des Beschaffungswesens der Bundeswehr von Beratern generalstabsmäßig erdacht, dann von den politisch Verantwortlichen gemäß den Beraterplänen in die Tat umgesetzt – und schließlich Mitte 2006 nach einer Fehlinvestition von vielen hundert Millionen Euro gestoppt wurde? Der zuletzt genannte Fall ist übrigens besonders prekär, denn er steht für eine im Beratungsgeschäft übliche Verkehrung des Prinzips von Angebot und Nachfrage: Am Anfang stand nicht der Wunsch der Politik nach einer Professionalisierung des Beschaffungswesens der Bundeswehr, sondern es waren die Berater, die dieses Vorhaben offensiv an die Politik herantrugen, in dem sie es als zeitgerechte, ökonomisch effiziente und letztlich alternativlose Reform anpriesen.

Und übrig bleibt ein Scherbenhaufen

Leif liefert in seinem mit großem Aufwand recherchierten Buch nicht nur zahlreiche derartige Beispiele, sondern gibt auch einen Überblick über die wesentlichen Akteure des Beratungsgeschäfts – also vor allem die Marktführer McKinsey, Roland Berger und Boston Consulting –, ihre Methoden der Kundenakquisition und Personalrekrutierung, ihre Arbeitsweise und die spezifische Stilistik dieser Branche, die sich trefflich darauf versteht, jedes Problem, ganz gleich ob politischer, ökonomischer oder gesellschaftlicher Natur, mit der gleichen Mischung von analytischen Diagrammen, PowerPoint-Präsentationen und knappen executive summaries handhabbar zu machen.

Dabei wendet sich Leif, der im Hauptberuf Chefreporter beim SWR-Fernsehen in Mainz ist, nicht gegen das Beratungsgeschäft an sich. Im Gegenteil: Unumwunden gesteht er zu, dass die Komplexität gesellschaftlicher Probleme und Handlungszwänge die Verantwortlichen so sehr verwirren kann, dass analytische Kompetenz von außen, die ordnet und sortiert, hilfreich sein kann. Auch sieht er in der Professionalität der Beratungsbranche und ihren internationalen Branchenkenntnissen durchaus Vorteile, die sich nützlich einsetzen lassen.

Vehement wendet sich Leif allerdings gegen den von den – sonst äußerst öffentlichkeitsscheuen – Beratern sorgsam kultivierten Habitus, sie seien die einzigen, die nachhaltige Reformen in Unternehmen oder öffentlichen Institutionen sinnvoll und effizient entwickeln und verwirklichen könnten. Liest man Leifs Buch, kommt man zu dem Schluss, dass oft das Gegenteil der Fall ist: Da reitet ein Heer von Beratern in eine Organisation ein, wirbelt alles durcheinander und hinterlässt nach seinem Abzug einen Scherbenhaufen, den aufzukehren Monate dauern kann. Ob dieses Vorgehen mit der einst von Joseph Schumpeter geforderten schöpferischen Zerstörung verglichen werden kann, muss bezweifelt werden. Hier wird Macht ausgeübt, aber nicht die damit verbundene Verantwortung akzeptiert. Denn wenn es schief läuft, sind die Berater schnell über alle Berge.

„Sie arbeiten wohl bei McKinsey?“

Doch auch dort, wo Beratung aus Sicht von Beratern und Kunden Erfolge erzielt, ist weniger Magie im Spiel als ein relativ einfacher Trick, mit dem die Berater arbeiten. Folgt man Thomas Leif, besteht der wesentliche Effekt des Berater-Einsatzes darin, dass diese das in Institutionen vorhandene Wissen wie ein Schwamm aufsaugen, die Erkenntnisse im Sinne ihres Auftrags und ihrer standardisierten Arbeitsweise funktional neu aufbereiten und dann mit der typischen Beraterstilistik als Geheimwissenschaft in sorgsam choreografierten Präsentationen an ihre Auftraggeber zurückspielen. Hier fühlt man sich an den bekannten Beraterwitz erinnert: Ein Schäfer trifft mit seiner Herde auf einen teuer gekleideten jungen Mann. Der fragt ihn: „Was kriege ich, wenn ich Ihnen sage, wie groß Ihre Herde ist?“ Der Schäfer antwortet: „Dann können Sie sich ein Schaf aussuchen.“ Der Berater rechnet und sagt: „Ihre Herde hat 386 Schafe und ich nehme mir dieses dort drüben als Lohn.“ Der Schäfer zuckt mit den Schultern und fragt: „Sie arbeiten wohl bei McKinsey?“ Der junge Mann guckt erstaunt: „Woher wissen Sie das?“ Darauf der Schäfer: „Sie haben mir etwas gesagt, was ich schon wusste, und im Übrigen hätte ich gerne meinen Schäferhund zurück.“

Berater als Legitimationsbeschaffer

Das kann man lustig finden, doch dieser Witz illustriert, dass Berater mehr und mehr in Bereichen unterwegs sind und dort Einfluss ausüben, deren Komplexität sie nicht einmal im Ansatz überblicken. Berater haben in den vergangenen Jahren nicht nur Theater- und Opernhäuser heimgesucht und diesen betriebswirtschaftliche Rosskuren verordnet, die zwar die Bilanzen hübscher machten, den künstlerischen Betrieb aber beinahe zum Erliegen brachten. Sie haben auch die Schließung jedes vierten deutschen Krankenhauses gefordert, ohne nur einen Gedanken auf die Bedeutung einer wohlüberlegten regionalen Gesundheitsversorgung zu verschwenden. Sie haben für Ministerien und Behörden gegen üppige Honorare (ein Berater kann bis zu 4.500 Euro am Tag kosten) Aufgaben erledigt, die zu den ureigenen und zum Teil hoheitlichen Kompetenzen dieser Institutionen gehören.

Dies ist auch deswegen möglich, weil in vielen öffentlichen Einrichtungen nach Beratergutachten der Personalbestand so sehr reduziert wurde, dass diese selbst ihre Kernaufgaben nur noch mit Mühe wahrnehmen können. Der Rechnungshof Baden-Württemberg stellte fest: „Die Notwendigkeit zum Einsatz externer Berater wird in rund 94 Prozent aller Fälle von den Ministerien mit fehlendem Personal und mangelnden Fachkenntnissen begründet. Wenn dies im genanten Umfang wirklich zuträfe, käme es einem fachlichen Offenbarungseid gleich.“

Und tatsächlich ist der extensive Beratereinsatz Leif zufolge nur teilweise an einem konkreten Problemlösungsbedarf orientiert. Die Hauptfunktion der alerten und kompetent auftretenden Berater scheint vielmehr darin zu bestehen, Entscheidungsträger so zu coachen, dass diese auch unangenehme Entscheidungen durchzusetzen bereit sind. Gleichzeitig fungieren ihre Gutachten als Legitimation für diese Entscheidungen, die mit schöner Regelmäßigkeit als alternativlos präsentiert und nicht mehr hinterfragt werden.

Um es noch einmal klar zu sagen: Thomas Leif wendet sich nicht gegen Beratung als solche. Es geht ihm darum, für den wachsenden Einfluss des Beratungsgeschäfts, vor allem im öffentlichen Bereich, klare Spielregeln und Verantwortlichkeiten zu definieren, die sowohl persönliche Mauscheleien als auch sinnfreie Beratungsprojekte unterbinden. Hierfür legt er einen umfangreichen Kriterienkatalog vor, in dem er – gestützt auf Empfehlungen des Bundesrechnungshofs – Vorschläge dafür unterbreitet, wie Beratung produktiv eingesetzt werden kann und sich Missbrauch unterbinden lässt.

Politik als öffentliche Angelegenheit

Wer dieses Buch liest, merkt vor allem, wie sehr die Politik sich von eigenen Vorstellungen und strategischen Überlegungen gelöst hat und diese ihren zeitweiligen und nicht verantwortlich zu machenden Partnern überlässt. So kann man die Arbeit von Thomas Leif als ein vehementes Plädoyer dafür verstehen, dass öffentliche Angelegenheiten künftig auch wieder öffentlich verhandelt und von den zuständigen Institutionen verantwortet werden, statt sie in die Hinterzimmer zu delegieren. Dies könnte auch zu einem Vertrauenszuwachs für die Politik führen, weil der Entwurf und die Gestaltung neuer Politikkonzepte nicht mehr ausgelagert, sondern im Sinne der res publica von den dafür Gewählten wahrgenommen würden. Wer Thomas Leifs Buch gelesen hat, weiß, wie notwendig dieser Schritt wäre.


Thomas Leif, Beraten & Verkauft: McKinsey & Co. – der große Bluff der Unternehmensberater, München: C. Bertelsmann Verlag 2006, 447 Seiten, 19,95 Euro

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