Die Zukunft beginnt an der Haustür
Seit Jahrzehnten reisen Wahlkampfexperten aus aller Welt durch die Vereinigten Staaten, um dort neue Anregungen für die Wahlkämpfe daheim zu sammeln. Auch die SPD hat seit den siebziger Jahren eine imposante Tradition der Wahlkampfbeobachtung entwickelt. Dabei wurden neue Techniken auch zunehmend für die Wahlkämpfe auf der Landes- und Kommunalebene übernommen.
Unter diesen rangiert das so genannte canvassing, der Haustürwahlkampf, ganz vorne. Nachdem lange Zeit vor allem Varianten des Medienwahlkampfes nach Europa importiert worden waren, kam es mit den Wahlkämpfen von Bill Clinton und später mit den Kampagnen von Barack Obama zur Renaissance eines systematischen und massenhaften canvassing. Clinton und Obama konnten damit zwei wichtige Gruppen der demokratischen Anhängerschaft mobilisieren, die Latinos und die Afro-Amerikaner, die mittels der üblichen Medienwahlkämpfe schon als unerreichbar galten. Beide demokratischen Präsidenten verdankten ihre Wahlsiege also dem Haustürwahlkampf, der auf den ersten Blick etwas altbacken wirkt.
Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass es in Bezug auf die alte Form des canvassing eine revolutionäre Erneuerung gab: Heute werden mit sozialwissenschaftlichen Methoden diejenigen Zielgruppen ermittelt, in denen Mobilisierungsreserven schlummern. Systematisch geschulte Wahlkampfhelfer suchen diese gezielt auf, sprechen sie mit eigens auf sie zugeschnittenen Botschaften an und halten dann bis zum Wahltag den Kontakt. So wird der Medienwahlkampf (air war) durch einen präzise gesteuerten Haustürwahlkampf (ground war) ergänzt.
Man kann diese Kampagnenstruktur aus zwei Gründen nicht auf deutsche Verhältnisse übertragen: Zum einen übersteigen die Kosten des amerikanischen ground war jedes denkbare deutsche Wahlkampfbudget um ein Vielfaches, zum anderen schränkt der Datenschutz den Zugang zu eventuellen Zielgruppen hierzulande beträchtlich ein. Aber das ist nicht schlimm. Im Gegenteil: Gerade in seiner abgespeckten Form und mit einer Zielgruppenansprache, die sich im Wesentlichen auf Angaben zu Wohnquartieren stützt, ist das neue canvassing ein Instrument, das sich einfügen lässt in die Traditionen sozial-demokratischer Milieuorientierung und Wahlkampfführung durch örtliche Parteigliederungen. Zudem schließen die von der SPD in den Fokus genommenen Zielgruppen und ihre Wohnquartiere genau jene Milieus ein, die in ihren prekären Lagen als politisch unterrepräsentiert gelten. Der Haustürwahlkampf mit seinen Mobilisierungseffekten ist somit quasi auf die Bedürfnisse der SPD zugeschnitten.
Vor diesem Hintergrund lag es für die rheinland-pfälzische SPD nahe, bei der Landtagswahl 2016 den „neuen“ Haustürwahlkampf als zentrales Element einzusetzen.
Die Entscheidung für den Haustürwahlkampf als zentrales Kampagnenelement fiel rund zwei Jahre vorher. Sie ging zunächst von den erwähnten Beobachtungen amerikanischer Wahlkämpfe aus und wurde gestützt von den Befunden eines Forschungsprojekts an der Universität Mainz zu den Mobilisierungseffekten von Hausbesuchen bei der Kommunalwahl 2014. Daraufhin suchte man nach Beispielen für datengestützte Wohnquartier- und Haustürwahlkämpfe während der vergangenen Jahrzehnte, und knüpfte dabei Kontakte zu Sozialwissenschaftlern, die ihre Forschungen bereits in handfeste Kampagnenentwürfe eingebracht hatten.
Neues Leben in einer alten Partei
In einem nächsten Schritt wurden die Tipps der Forscher auf die rheinland-pfälzischen Gegebenheiten zugeschnitten. Es galt, die Zielareale zu ermitteln, in denen der Haustürwahlkampf mutmaßlich die höchsten Stimmengewinne für die SPD bringen würde. Dabei schätzten Empiriker für die einzelnen Stimmbezirke das Potenzial der SPD mit einem objektivierbaren „Stärkeindex“ auf Grundlage der vergangenen Wahlergebnisse ab. Die Stimmbezirke mit den höchsten Indexwerten wurden daraufhin als Ziele für den Haustürwahlkampf festgelegt.
Nun mussten Unterstützer und Mitglieder rekrutiert und geschult werden. Die Landesgeschäftsstelle führte dabei zwar Regie, aber in jedem Wahlkreis standen Koordinierungspartner bereit, um von vornherein den Eindruck einer „von oben“ gesteuerten Kampagne zu vermeiden. Zusätzlich zu den Haustürwahlkämpfern aus den Wahlkreisen wurde eine „fliegende Reserve“ zusammengestellt, die im Bedarfsfall nach Absprache vor Ort zum Einsatz kam.
Diese auf den ersten Blick eher organisatorischen Maßnahmen erfüllten die traditionelle Mitgliederpartei bereits mit neuem Leben. Dies hing auch mit der allgemeinen politischen Mobilisierung durch die Flüchtlingsfrage im Spätsommer 2015 zusammen. Darüber hinaus entsprach das Projekt Haustürwahlkampf dem Bedürfnis zahlreicher Parteigliederungen, in diesen polarisierten Zeiten die sozialdemokratischen Errungenschaften der vergangenen Legislaturperioden offensiv in die Stimmbezirke zu tragen. Diese Motivation wuchs in dem Maße, in dem durch den Aufstieg der AfD der Wahlausgang unkalkulierbarer wurde. Der Haustürwahlkampf wurde für die SPD somit unversehens zur Frischzellenkur.
Der direkte Kontakt führt zu messbarem Erfolg
Die Resultate können sich sehen lassen. Ohne hier eine detaillierte Analyse präsentieren zu können, liegt das SPD-Ergebnis in den Wahlkreisen mit dokumentiertem Haustürwahlkampf 0,9 Prozent über dem Ergebnis der Wahlkreise ohne Haustürwahlkampf. Besonders eindrucksvoll waren die Effekte in den städtischen Gebieten, wie das Beispiel Mainz illustriert. Dort stieg die Wahlbeteiligung um 10,2 Prozentpunkte an, der städtische Zweitstimmenanteil der SPD wuchs um 10,1 Prozentpunkte. In den Zielarealen mit knapp 3 000 Hausbesuchen nahm der SPD-Stimmenanteil sogar bis zu 16 Prozentpunkte zu. Diese Befunde lassen die Haustürbesuche als sehr erfolgreiches Instrument im Wahlkampf erscheinen; und sie decken sich mit den einschlägigen internationalen Forschungsergebnissen.
In den zwei Jahren, in denen sich die rheinland-pfälzische Landespartei mit dem Haustürwahlkampf befasste, wuchs bei allen Beteiligten die Überzeugung, ein Mobilisierungs-instrument mit langfristiger strategischer Bedeutung für die Kampagnengestaltung zu verwenden. Der Haustürwahlkampf wird zudem die Fortentwicklung der Parteiaktivitäten entscheidend prägen, weil er gegen die Ursachen der Entfremdung der SPD von wichtigen Wählersegmenten gerichtet ist. Denn um ihn erfolgreich in Kampagnen einsetzen zu können, muss die SPD Voraussetzungen erbringen, die immer auch eine Neubelebung der aktivierten Parteigliederungen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zur Folge haben. Basierend auf den Erfahrungen der vergangenen beiden Jahre möchten wir deshalb acht Thesen zu den Potenzialen des Haustürwahlkampfs formulieren.
Erstens: Haustürwahlkämpfe sind auf allen politischen Ebenen und bei allen Wahlen möglich und sinnvoll. Egal ob Bundestags-, Europa-, Landtags- oder Kommunalwahlen – der Haustürwahlkampf kann stets zu einer wertvollen Mobilisierungsbasis mit unmittelbarem Kontakt zum Bürger verhelfen. Dabei kann er auch nur in Teilen eines Wahlkreises eingesetzt werden, wenn die Parteiressourcen nicht für einen flächendeckenden Einsatz ausreichen.
Zweitens: Haustürwahlkampf stärkt den Dialog mit den Bürgern. Im Sinne des permanent campaigning erzeugen Kampagnen im Stil von Haustürwahlkämpfen auch außerhalb von Wahlkampfzeiten Zugang zu den anvisierten Zielgruppen. Besuche an der Haustür schaffen Dialogmöglichkeiten mit Bürgern, die sonst kaum Kontakt zu ihren politischen Repräsentanten haben. Außerhalb von Wahlkampfzeiten kommen auf diese Weise Themen zum Vorschein, die die eigenen Zielgruppen bewegen. In Wahlkampfzeiten lassen sich diese Themen dann über multiple Kommunikationskanäle besetzen und erhöhen so die Reichweite der Mobilisierungsmaßnahme.
Drittens: Haustürwahlkampf wirkt auch ohne Kandidaten und Mandatsträger. Bei deutschen Mobilisierungskampagnen herrscht bislang die Auffassung vor, dass Haustürbesuche vor allem wegen der zur Wahl stehenden politischen Akteure erfolgreich sind. Dies mag bei kommunalen Wahlen plausibel erscheinen, wissenschaftliche Befunde gibt es dafür allerdings nicht. Viel entscheidender für einen wirkungsvollen Haustürwahlkampf ist schlicht die Anzahl der hergestellten Kontakte. Diese lassen sich vor allem über die Masse der geklopften Haustüren erreichen. Die Loslösung der Haustürbesuche von den zumeist ohnehin überbeanspruchten Kandidaten ist dafür unerlässlich. An deren Stelle tritt die spürbare Motivation der Haustürwahlkämpfer, für die Kandidaten oder ein aktuelles Thema im Einsatz zu sein.
»Gewohnheitskenntnisse« genügen nicht
Viertens: Haustürwahlkampf erfordert sozialwissenschaftliches Know-how. Die Festlegung und Lokalisierung der Zielgruppen sollte unbedingt von den betroffenen Parteigliederungen im Austausch mit sozialwissenschaftlicher Expertise erfolgen. Die Kooperation zwischen SPD und Sozialwissenschaft kann Fehleinschätzungen verhindern und veraltete „Gewohnheitskenntnisse“ korrigieren. Ein solcher Austausch sollte in den betroffenen Gliederungen verlässlich organisiert und verstetigt werden. Dadurch kann die wertvolle Ressource der Haustürwahlkämpfer so effektiv und wertschätzend eingesetzt werden, wie diese es verdienen.
Fünftens: Haustürwahlkampf verschafft besonderen Zugang zur sozialdemokratischen Klientel. Bei der Auswahl der Zielareale rücken in Zeiten sinkender Wahlbeteiligung in prekären Milieus diejenigen Wählergruppen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die potenzielle Bindungen an die Sozialdemokratie aufweisen. Gerade diese Bürger besuchen selten oder nie politische Informationsveranstaltungen. Die Haustürwahlkämpfer jedoch gehen auf sie zu und bieten ihnen Gespräche über Politik an. Dadurch lassen sich schon nach kurzer Zeit Interessen und Sichtweisen dieser Zielgruppen erkennen.
Sechstens: Haustürwahlkampf öffnet die Partei ins Umfeld. Das Training der Aktivisten sollte rechtzeitig und immer wieder fortlaufend erfolgen. Diese Maßnahme hat sowohl eine praktisch-kommunikative als auch eine inhaltlich-programmatische Seite. Die Suche nach Aktivisten kann eine wichtige Vorstufe der Mitgliedergewinnung werden oder Parteigliederungen durch aktive Nicht-Mitglieder neu beleben. „SPD plus aktive Sympathisanten“ bezeichnet wahrscheinlich die realistische Zukunft der sozialdemokratischen Mitgliederpartei.
Gegengift gegen die Entpolitisierung
Siebtens: Haustürwahlkampf fördert die responsive Partei. Der Haustürwahlkampf bedarf regelmäßiger Evaluationen. Auf diese Weise erfahren die Haustürwahlkämpfer der SPD nicht nur, wo im Stadtteil „der Schuh drückt“, sondern sie werden selbst zu Interpreten und Moderatoren der Probleme.
Achtens: Haustürwahlkampf schafft Potenziale der Politisierung. Auf dem derzeitigen Wissensstand lassen sich die wahren Potenziale für die Mobilisierung durch Haustürbesuche noch gar nicht abschätzen. Ein kontinuierlicher Einsatz dieses Instruments wird die Effekte in künftigen Kampagnen steigern, weil die Bedeutung massenmedialer Wahlkampfbeschallung in Zukunft weiter abnehmen wird. Denn im Internet, das den traditionellen Massenmedien zunehmend den Rang abläuft, stellt man sich seine medialen Menüs selbst zusammen, wodurch der Trend zur aktiven Vermeidung politischer Inhalte durch die Mehrheit der Bürger weiter begünstigt wird. Damit schwindet tendenziell die Grundvoraussetzung für politische Mobilisierung, nämlich überhaupt politischen Botschaften ausgesetzt zu sein. Systematisch durchgeführte Haustürbesuche sind deshalb ein wirksames Gegengift gegen die steigende Entpolitisierung.
Etabliert man die „neuen“ Haustürwahlkämpfe im Sinne dieser acht Thesen über einen längeren Zeitraum, kommt es mutmaßlich zu weitreichenden Veränderungen der Parteiaktivitäten, zumindest deuten die Erfahrungen aus Rheinland-Pfalz darauf hin. Politisch-inhaltliche Fehlanpassungen und die in allen großen Organisationen angelegte Tendenz zur Beschäftigung mit sich selbst werden zumindest teilweise durch die Öffnung ins gesellschaftliche Umfeld ausgeglichen. Es kann zu einer beträchtlichen innerparteilichen Mobilisierung und einer offensiven Bereitschaft zur Konfrontation mit dem politischen Gegner kommen.
Diese ermutigenden Erfahrungen mit dem „neuen“, wissenschaftsbasierten Haustürwahlkampf in Rheinland-Pfalz lassen uns, mit nur ganz leichter Ironie, schon jetzt einen Vorschlag für die Präambel des nächsten SPD-Grundsatzprogramms formulieren: „Die SPD des 21. Jahrhunderts ist eine Haustürwahlkampf-Partei.“