Im Dilemma der Großen Koalition
Ist das nicht wunderbar? Die SPD darf wieder regieren, unterstützt von einem erstaunlich positiven Votum ihrer Mitglieder. Sie hat es geschafft, wichtige und symbolträchtige Programmpunkte in den Koalitionsvertrag zu schreiben: Mindestlohn, Rente, doppelte Staatsbürgerschaft. Die Partei ist ziemlich glücklich über den Start der Großen Koalition, auch wenn es noch ein wenig schmerzt, dass sie nicht den Kanzler stellt.
Das Glück sei der SPD gegönnt – doch es wird wohl nicht von Dauer sein. Was vor dem Hintergrund des traurigen Wahlergebnisses aussieht wie ein Erfolg, könnte sich strategisch als Fehlgriff erweisen. Die Idee, aus dieser Juniorpartnerschaft heraus wieder Meinungsführerschaft und Mehrheitsfähigkeit zu erreichen, trägt Züge einer Illusion. Schlechter denn je stehen die Chancen, der im Wahlkampf auch von der SPD überzeugend angeprangerten Stillstands-Politik à la Merkel eine Reform-Alternative entgegenzustellen.
Was hätte Guido Westerwelle gesagt?
Zur Erläuterung zwei Beispiele: Stellen wir uns zunächst vor, die FDP hätte es wieder in den Bundestag geschafft und Guido Westerwelle wäre Außenminister geblieben. Was hätte er bei einem Besuch in Athen gesagt? In etwa dies: „Wir respektieren den Weg, den Griechenland bei den harten Reformen gegangen ist, und wir wissen um die Opfer, die gebracht werden mussten.“ Oder: Er ermutige die Regierung in Athen, „den Weg, der jetzt gegangen worden ist, weiterzugehen“. Wohlgemerkt: Opfer, die gebracht werden „mussten“. Und ein Weg, der trotz seiner verheerenden sozialen Folgen „weiterzugehen“ ist.
Das ist die Rhetorik der Alternativlosigkeit, wie wir sie aus vier schwarz-gelben Jahren kennen. Aber die Zitate stammen nicht von Guido Westerwelle, sondern von Frank-Walter Steinmeier. Er gehört bekanntlich derjenigen Partei an, die vor kaum einem halben Jahr in ihr Wahlprogramm schrieb: „Die Europäische Union droht weiter an Vertrauen zu verlieren, wenn es nicht gelingt, ihre Politik demokratischer und sozial gerechter auszugestalten. Die SPD-geführte Bundesregierung wird dies tun, indem sie einen Reformprozess initiiert, der die EU demokratischer, transparenter, gerechter und effizienter macht.“
Zweites Beispiel: Kaum war Andrea Nahles Arbeits- und Sozialministerin, präsentierte sie die Gesetzentwürfe zur Rente. Mit dem Ruhestand für 63-Jährige nach 45 Beitragsjahren löste sie immerhin ein Wahlversprechen ein – allerdings ein derart umstrittenes, dass es sich politisch kaum auszahlen wird. Man lese nur, was keineswegs nur Wirtschaftslobbyisten, sondern auch Wohlfahrtsverbände wie der „Paritätische“ dazu sagen: „verteilungspolitisch verfehlt“. Die zweite Neuerung (neben den begrüßenswerten Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente) war die Besserstellung älterer Mütter. Dieser Punkt fand sich sowohl bei der Union als auch bei der SPD im Wahlprogramm, allerdings mit einem erheblichen Unterschied: Die Sozialdemokraten wollten sie durch Steuererhöhungen finanzieren: „Zur Solidarrente zählt auch, familienbedingte Erwerbsverläufe in der Alterssicherung besser abzubilden. Wir wollen in angemessenem Umfang Berücksichtigungszeiten auch auf Eltern ausdehnen, deren Kinder vor 1992 geboren wurden. Die Kosten der Solidarrente finanzieren wir aus Steuermitteln.“
Das war ein entscheidendes Argument: Gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie diese aus Steuern zu finanzieren, ist gerecht, weil dann nicht nur Arbeitseinkommen herangezogen werden, sondern alle Einkunftsarten. Nicht zuletzt auch für solche Zwecke forderte die SPD im Wahlkampf Steuererhöhungen auf Spitzeneinkommen und große Vermögen. Nun wird die Mütterrente aus Beiträgen finanziert. Und von einem gerechteren Steuersystem ist nichts mehr zu hören.
Was also wird am Ende bleiben von Steinmeiers Auftritt und Nahles’ Anfangsspurt? Die Antwort führt direkt ins gefährliche Dilemma dieser Großen Koalition: Die SPD droht erneut ihr im Wahlkampf mühsam erworbenes Profil als politische Alternative zu Merkels umverteilungsfeindlicher Politik zu verlieren. Der Spagat zwischen realer Regierungsbeteiligung und künftiger Regierungsalternative hat alle Aussicht zu misslingen. Und so alternativlos, wie es jetzt dargestellt wird, war es nicht.
Natürlich, ein frisch (wieder)ernannter Außenminister kann nicht sofort Europa neu erfinden, schon gar nicht in einer Großen Koalition. Und ja, Steuererhöhungen waren mit dem größeren Partner schlicht nicht zu machen. Man kann auch hoffen, dass Frank-Walter Steinmeier in der Lage sein wird, hier und da sozialdemokratische Elemente in seine Alltagsarbeit zu schmuggeln oder dass die Zeit für einen umverteilenden Umbau des Steuersystems wenigstens 2017 gekommen sein dürfte.
Allerdings ist ein solcher Optimismus mehr als gewagt. Nach aller Erfahrung ist wahrscheinlicher, dass sich die SPD auch in dieser Großen Koalition nicht als Alternative zur falschen Politik Angela Merkels profilieren kann. In zentralen und für Deutschland entscheidenden Punkten hat sich die SPD an diejenigen gefesselt, die in die falsche Richtung marschieren. Sie wird vielleicht hier und da bremsen, gelegentlich sogar einen Abstecher in die richtige Richtung durchsetzen können. Doch weder ein solidarisches Europa (wie war das noch mit Schuldentilgungsfonds, härterer Bankenregulierung, sozialer Offensive?), noch die notwendige Umverteilung im Innern (Steuern) sind auf diesem Weg glaubwürdig zu propagieren. Ein weitgehend auf 2017 verschobener gesetzlicher Mindestlohn wird an diesem Bild nichts Entscheidendes ändern. Mit dem von der SPD im Wahlkampf formulierten Reformkurs, der an vielen Punkten inhaltlich mit den Grünen und der Linkspartei übereinstimmte, hat die Wirklichkeit dieser Regierung wenig zu tun. Das alles wäre leichter zu akzeptieren, wenn der Behauptung, die nicht zuletzt dem Mitgliedervotum zugrunde lag, so einfach zuzustimmen wäre: dass es zu Schwarz-Rot keine Alternative gab.
Anspruch und Verantwortung der SPD
Unbestreitbar wäre angesichts der politisch-medialen Stimmung im Land Rot-Grün-Rot ein waghalsiges Unterfangen gewesen. Ehrlicherweise ist hinzuzufügen: Die vier Oppositionsjahre von 2009 bis 2013 wurden nicht zu dem entschlossenen Versuch genutzt, die politischen und emotionalen Unverträglichkeiten abzubauen und für die politische Alternative zu werben. Die öffentliche Stimmung ist auch in dieser Hinsicht nicht aus dem Nichts entstanden, sondern sie hat viel mit dem zu tun, was die politischen Akteure zur Debatte stellten – oder auch nicht.
Fast noch reizvoller hätte es werden können, Angela Merkel in eine Minderheitsregierung zu zwingen. Ja, so etwas gilt in Deutschland als instabil und bedrohlich. Aber hätte es dem Wählerwillen nicht am ehesten entsprochen, die Kandidatin der stärksten Fraktion zu einer Kanzlerin zu wählen, die sich ihre Mehrheiten Gesetz für Gesetz erarbeiten muss? Wer so etwas fordert, gilt geradezu als naiv. Legt man aber die inhaltlichen Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den Parteien im Bundestag zugrunde, dann wären Rot-Grün-Rot oder Minderheitsregierungen die nächstliegenden Varianten gewesen.
Diese rückblickenden Anmerkungen haben nicht das Ziel, über vergossene Milch zu lamentieren. Vielmehr sollen sie die SPD an ihren Anspruch und ihre Verantwortung erinnern, der Merkelschen Status-quo-Verwaltung eine zukunftsfeste Reformpolitik entgegenzustellen.
Wenn nun Olaf Scholz und andere in der Berliner Republik (Heft 6/2013) wieder die „Anschlussfähigkeit in der gesellschaftlichen Mitte“ fordern, dann sei an Sätze von Sigmar Gabriel aus dem Jahr 2009 erinnert: „Die politische Mitte in Deutschland war nie ein fester Ort, sondern sie war die Deutungshoheit in der Gesellschaft. Die politische Mitte in einem Land hat der gewonnen, der in den Augen der Mehrheit der Menschen die richtigen Fragen und die richtigen Antworten bereithält.“
Es ist keineswegs leichter geworden, diese Deutungshoheit bis 2017 zu gewinnen. Im Gegenteil: Die Öffentlichkeit von echten Alternativen zu weiten Teilen einer Politik zu überzeugen, für die man als Juniorpartner Mitverantwortung trägt, ist schon an sich ein höchst kompliziertes Unterfangen. Und es wird nicht einfacher dadurch, dass die Grünen sich – zunächst nur in Hessen – als zweiter Mehrheitsbeschaffer für die Union positionieren. Die SPD sollte nicht vergessen: Die strategische Siegerin des Wahlherbstes 2013 ist und bleibt die Union. Und zwar nicht nur wegen der Stimmenzahlen in Bayern, Hessen und im Bund, sondern auch wegen der Konstellationen, die daraus mithilfe von SPD und Grünen hervorgegangen sind.
Wer auf 2017 blickt, muss sich diese Lage schonungslos vor Augen führen. Nicht um zu resignieren, sondern um ab sofort die verbliebenen, vergleichsweise geringen Spielräume, zu nutzen. Und das kann nur heißen: Ab sofort ist an einer überzeugenden und mehrheitsfähigen Reform-Alternative zu arbeiten, auch wenn das in der Großen Koalition zu Konflikten führt. Und ab sofort muss die Überzeugungsarbeit beginnen, dass es niemanden schrecken muss, wenn mögliche Mehrheiten für diese Alternative endlich einmal zu dem genutzt werden, was die SPD so gerne möchte: regieren – und zwar mit eigenem Kanzler.