»Geniale« Operateure?
So ein Titel geht gar nicht! „Mythos und Wirklichkeit“ – so heißen heutzutage Bücher über Geheimbünde, die Documenta, Lenin oder über Waldorfpädagogik. Aber für die „Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d. Ä. bis Heusinger“ klingt dieser Buchtitel wie der peinliche Versuch, ein eigentlich langweiliges Thema etwas reißerischer erscheinen zu lassen. Dabei geht es um nichts weniger als jene verhängnisvolle Militärdoktrin, die mehr als jede andere die Weltgeschichte zwischen 1866 und 1945 geprägt hat.
Mehrfach fasst der Autor dieser vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebenen Studie, Gerhard P. Groß, die Parameter der preußischen Lehre des schnellen Krieges zusammen; und die Zusammenfassung der Zentralbegriffe demonstriert eigentümlicherweise schon das Stakkato ihrer Anwendung: „Bewegung, Angriff, Schnelligkeit, Initiative, Freiheit des Handelns, Schwerpunkt, Umfassung, Überraschung und Vernichtung.“
Das »Freie Operieren« als höchste Kunst
So siegten die Preußen in der größten Schlacht des 19. Jahrhunderts 1866 bei Königgrätz (gegen die Österreicher) und 1870 die Deutschen bei Sedan (gegen die Franzosen). So war der Schlieffenplan als Uroperation des Ersten Weltkrieges gemeint, und so funktionierten die Blitzkriege der Wehrmacht gegen Polen und Frankreich. Und erst recht entsprachen die ungeheuren Kesselschlachten 1941 nach Deutschlands Überfall auf die Sowjetunion dem Lehrbuch.
Als eine der herausragendsten Operationen dieser Kriegslehre, die im „Freien Operieren“ des selbständigen, genialischen Befehlshabers die höchste „Kunst“ sieht, gilt immer noch, so schreibt Groß, Erich von Mansteins „Gegenschlag am Donez“ im Februar und März 1943 nach dem Untergang der 6. Armee in Stalingrad: Durch eine überraschende, schnelle „Rochade“ eigener bedrohter, gerade noch bewegungsfähiger Großverbände fängt er die sowjetische Offensive durch Flankenangriff und Umfassung auf, gewinnt die Initiative zurück, rettet damit den Südflügel der Ostfront – und verlängert auf diese Weise vielleicht den Zweiten Weltkrieg um weitere Millionen Tote. Ein Jahr später wird Manstein von Hitler entlassen: Die Zeit des freien Operierens sei vorbei, sagt der Diktator.
Die preußisch-deutsche Generalstabsschule des „operativen Denkens“ ist konzipiert als Erfolgsrezept des armen Mannes, als Kriegsführungsmethode des zahlenmäßig Unterlegenen. Und wegen der deutschen Mittellage: als einzige Chance, einen Zweifrontenkrieg, wenn er denn nicht vermieden werden kann, zu gewinnen. Was dann allerdings beide Male – 14/18, 39/45 – doch nicht gelang.
Moltke der Ältere formulierte als Chef des preußischen Generalstabs erstmals 1859 die Prinzipien eines Aufmarsches für diesen Zweifrontenkrieg (gegen Frankreich und Österreich oder gegen Frankreich und Russland), nämlich „mit möglichst Wenigem Front nach der einen Seite zu machen, möglichst stark und schnell den Krieg nach der anderen Seite zu führen und dann zurückzuerobern, was inzwischen in der ersten Richtung verloren sein wird“. Entsprechende Kriegspläne arbeitete er nach der Reichseinigung 1871 (gleichzeitig Russland und Frankreich), 1877 (erst Frankreich), 1879 (erst Russland) und 1888 (erst Russland) immer wieder neu aus.
Schnelligkeit und Beweglichkeit
Schnelligkeit und Beweglichkeit wurden hier zur Existenzbedingung eines erfolgversprechenden Einsatzes der Streitkräfte überhaupt. Mit den modernen technischen Möglichkeiten von Eisenbahn und Telegraf konnten große Truppenmassen ja neuerdings über große Entfernung von einer Front an die andere – „auf der inneren Linie“ – verschoben und zentral geführt werden, präzise, minutiös: „generalstabsmäßig“.
Für Moltke bedeutete „Operation“ zunächst Bewegung, getrennt marschieren, vereint schlagen. Das erforderte exakt ausgebildete Soldaten, sorgfältige Planung und überlegene Führung. Wer die Initiative hat, bestimmt Zeit und Ort: Zahlenmäßig überlegen sein muss er nur dort, wo er den Schwerpunkt setzt, wo er – möglichst überraschend – angreift. Wer beweglich und schnell ist, wird den Gegner nicht frontal angehen, sondern zu umfassen suchen, ihn von seinen rückwärtigen Verbindungen, von Nachschub und höherer Führung abschneiden.
Das größte Prestige kam den Befehlshabern und ihren Gehilfen im Generalstab, den Leitern der Operationsabteilungen („Ia“), den „Operateuren“ zu. Der erste Generalinspekteur der Bundeswehr, Adolf Heusinger, war zuletzt Chef der Operationsabteilung im Oberkommando des Heeres, ein militärtaktischer Planer in einem verbrecherischen Krieg.
Den Begriff der „Operation“ siedelt Groß zwischen Taktik und Strategie an. Hervorgegangen aus der Taktiklehre bezeichnet „Operation“ ein langfristiges, weiträumiges planmäßiges Vorgehen. Das schnelle Operieren aus der zahlenmäßigen Unterlegenheit, aus der deutschen Mittellage heraus war zur Zeit Bismarcks und Moltkes d. Ä. kein Konzept der Welteroberung. Die Schlachten gegen den ersten Gegner im Zweifrontenkrieg waren möglichst grenznah zu schlagen, nah am eigenen Nachschub und an den Transportmitteln für das baldige Hinüberwerfen zur bedrohten Front auf der anderen Seite. Das Ziel der Operation war stets die Zerschlagung der Hauptstreitmacht des Gegners, nicht die Eroberung und Behauptung von Raum.
Was Russland anging, so stand Moltke noch die Katastrophe von 1812 vor Augen, als ein französisch-europäisches Heer bis Moskau marschierte. Abgeschnitten von gesicherten Nachschubbasen trat dann die Grande Armee kämpfend den Rückzug an – und erfror im russischen Winter. Der Anfang vom Ende Napoleons.
Und die Geschichte wiederholte sich: Bereits wenige Wochen nach Beginn von Hitlers Russlandfeldzug meldete die Heeresgruppe Mitte einen Bedarf von täglich 30 Eisenbahnzügen für die Versorgung ihrer Armeen, genehmigt wurden 24, durchgeführt 18. Statt erwarteter 724 kamen bei der Heeresgruppe Süd im ganzen Oktober 1941 nur 195 Züge an. Und die weit vorgestoßene Truppe lag bis zu 750 Kilometer vor den Entladestationen der Eisenbahn. Ein Versorgungsdesaster. So nachzulesen in einem verdienstvollen Standardwerk des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, der zehnbändigen Geschichte Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (Band 4).
»Ihr könnt das doch so gut!«
Das deutsche Heer wird bis heute fast überall im Ausland von den Militärcommunities für seine historischen Operationserfolge bewundert. Zuweilen geht das so weit, dass etwa angelsächsische Gesprächspartner die heutige militärische Zurückhaltung des vereinten Deutschlands nicht verstehen wollen, Tenor: „Ihr könnt das doch so gut!“. Die gute alte deutsche Generalstabsschule: „Bewegung, Angriff, Schnelligkeit, Initiative, Freiheit des Handelns, Schwerpunkt, Umfassung, Überraschung und Vernichtung.“ Aber für die Zurückhaltung unseres Landes gibt es heute gute Gründe.
Sehr richtig arbeitet Gerhard P. Groß in seiner Geschichte des operativen Denkens ein fatales Doppelmissverständnis heraus, dem Staatsführung und Generalstab in Deutschland nach Bismarck und Moltke mit den allerschlimmsten Folgen erlegen sind. Für das Kaiserreich auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg wie für das Nazi-Reich auf dem Weg in den Zweiten war die erwiesene operative Überlegenheit des Heeres (Doktrin, Ausbildung, Führung) Anlass zu nationaler Hybris und Eroberungswahn. Die Heeresleitungen selbst dagegen hatten sich in ihrer Konzentration auf das operative Geschäft vom strategischen Denken sträflich verabschiedet.
Von Operateuren und Ingenieuren
Deutschland war, egal in welchen Bündniskonstellationen, nach Bevölkerungszahl und materiellen Ressourcen den Allianzen der potenziellen Kriegsgegner, spätestens wenn Amerika hinzutrat, eindeutig unterlegen. Krieg war zu vermeiden, nicht anzustreben. Nach Hitlers Machtergreifung haben die Generalstabschefs Hammerstein (1933) und Beck (1938) erwogen, die Kriegsgefahr durch Militärputsch zu beseitigen, taten dann aber nichts.
Ohne dies besonders zu thematisieren, legt Groß in seinem Buch eine Parallele zur heutigen Zeit nahe, die ebenfalls die Bedeutung des Operationsdenkens relativiert: Schon 1870 war der Krieg in Frankreich mit der „entscheidenden“ Sedanschlacht nämlich nicht vorbei. Was folgte, war ein Volkskrieg, der für den deutschen Generalstab nur schwer zu beherrschen war. Das gilt im 21. Jahrhundert auch für Partisanen-, Guerilla- und Terrortaktiken möglicher Gegner. Sie lassen sich militärisch kaum ausmanövrieren. Vom anderen Ende des Intensitätskontinuums, dem Atomkrieg, gar nicht zu reden.
Welcher Doktrin die Briten, die bekanntlich auch Rommels „Freiem Operieren“ viel abgewinnen konnten, selbst folgten, beschreibt der Literaturnobelpreisträger Winston Churchill nicht erst in seiner Weltkriegsgeschichte, die von Geleitzügen und Ressourcenmobilisierungskonferenzen geprägt ist, sondern schon in einem seiner ersten Kriegsbücher: Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi, 1899.
Wäre die Rückeroberung des Sudan damals ein deutsches Problem gewesen, hätten vielleicht vier brandenburgische Infanterieregimenter geschwinde beiderseits des Nil vorgehend unter größten Strapazen überraschend Omdurman erreicht, die Hauptstadt eingekesselt und die Mahdi-Streitmacht zerschlagen. Dann hätte man sich Gedanken über die Sicherung des Gewonnenen und den Rückweg durch die Wüste gemacht.
Die Briten taten etwas anderes. Sie bauten eine Eisenbahn. „An dem Tag, als der erste Zug voller Truppen im befestigten Lager am Zusammenfluss von Nil und Atbara einrollte, war das Schicksal der Derwische besiegelt. … Die Schlacht war noch nicht geschlagen, aber der Sieg bereits errungen“, schreibt Churchill. Nicht Operateure, sondern Ingenieure hatten ihn möglich gemacht.
Gerhard P. Groß, Mythos und Wirklichkeit: Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moldtke d. Ä. bis Heusinger, Paderborn: Schöningh 2012, 361 Seiten