»Ich habe immer SPD gewählt, aber …«
Ich habe immer die SPD gewählt, aber …“, so begannen viele Dialoge, die ich im Sommer 2017 als Bundestagskandidat in Erfurt und Weimar geführt habe. Wahrscheinlich haben auch die wahlkämpfenden Genossen in Hamburg, Duisburg oder München diesen Satz während des Wahlkampfs mehr als einmal gehört. Aufschlussreich sind die individuellen Begründungen nach dem „aber“.
Gerade in Ostdeutschland kommt schnell der mehr oder weniger unverblümte Hinweis auf die Flüchtlinge, die „Neubürger“ oder „Fachkräfte“, wie Migranten hier mit kaum verbrämter Verachtung gerne genannt werden. „Ich habe immer SPD gewählt, aber warum muss ich aus meiner Wohnung raus, weil sie fünf Quadratmeter zu groß ist – und gegenüber zieht eine syrische Familie ein und bekommt alles bezahlt?“ Das habe ich während meiner Hausbesuche in Erfurter Plattenbausiedlungen von einer Frau Müller zu hören bekommen. Wie soll die SPD damit umgehen? Soll ich die Lebenswelt von Frau Müller leugnen oder sie als Rassistin beschimpfen und kehrt machen?
Natürlich nicht! Also reden wir: über die sichere Arbeit als Verkäuferin in der ostdeutschen HO-Kaufhalle bis 1990, die schwierige Zeit nach der Wende mit Entlassung, ABM und Arbeitslosigkeit, die Tochter, die in der Nähe von Stuttgart arbeitet und über die zwei Enkelkinder, die sie viel zu selten sieht. Der Große hat sogar studiert. Und immer hat sie gearbeitet, halbtags, später wieder Vollzeit bei Norma und im Kaufland. Es war hart mit den zwei Kindern, aber die sollten es mal besser haben. Das hat geklappt, nur eben weit weg von der Erfurter Heimat im Plattenbau.
Das Zeitfenster hat sich geschlossen
Aber nun redet sie über die Flüchtlinge. Ich versuche zu intervenieren, mit dem Hinweis auf humanitäre Verpflichtungen und das Asylrecht, auf den Mindestlohn und die abschlagsfreie Rente mit 63. Aber das Zeitfenster für argumentativen Austausch hat sich bereits geschlossen. Jetzt hallen mir die schon gewohnten Echowellen der AfD in Form von immer wiederkehrenden Themen entgegen: die jungen arabischen Männer, die hier abends herum lungerten und die ängstlichen Nachbarn, die sich deshalb nicht mehr auf die Straße trauten, die teuren Klamotten der Ausländer, die neuesten Handys – und arbeiten wolle doch ohnehin keiner von denen.
Und schließlich, nachdem sie sich all dies von der Seele geredet hat, stimmt sie zu, dass die AfD ja auch keine Lösungen biete. Ich lasse ein Wahlprogramm da, einen Kugelschreiber und eine Visitenkarte. Bei Problemen oder Fragen möge sie mich jederzeit anzurufen. Die Frau lächelt zaghaft, bedankt sich und schließt rasch die Tür, als ich bei ihren neuen Nachbarn klingeln möchte.
Es sind diese Gespräche, die am Abend bei der Sitzung des Ortsvereins in einer Kneipe nachhallen. Die Jusos kritisieren Abschiebungen nach Afghanistan, mobilisieren für die kommende Anti-AfD-Demo, fordern ein klares Bekenntnis zum Familiennachzug und streiten leidenschaftlich für digitale Grundrechte. „Ich habe immer SPD gewählt, aber das mit der Online-Überwachung kotzt mich echt an.“ Und warum sich die Partei immer so bei den bürgerlichen Spießern anbiedern müsse, von wegen Einbruchsicherung und Strafverschärfungen. Das sei doch alles bloß Symbolpolitik.
Klugscheißer und Verwaltungsheinis
Ich stimme den Jusos nicht in allen Punkten zu, aber die Diskussionen über die Zukunft Europas, über nachhaltiges Wachstum und die Unwägbarkeiten plebiszitärer Demokratie machen großen Spaß. Am Ende können wir uns darauf einigen, dass die SPD sozialen Fortschritt durch demokratische Institutionen und gesellschaftliche Teilhabe erreichen sollte und nicht durch revolutionäre Akte. Das ist das historische Versprechen der SPD.
Beim Bezahlen treffen wir am Tresen auf Rolf, seit 1990 SPD-Mitglied und mittlerweile Rentner. Früher war er Feinmechaniker im VEB Mikroelektronik, immer war er beim Ortsverein und hat kräftig mitdebattiert, auch über die da oben, die Klugscheißer von drüben und die Verwaltungsheinis. Aber seit einigen Jahren kommt er nicht mehr zu den Sitzungen: zu viele Studenten, zu viel Träumerei und intellektuelle Selbstdarstellung. Da trinkt er lieber einen Schnaps am Tresen und spricht über die jungen Araber im Nachbarhaus, die abends immer Lärm machen. Gestern hat er bei denen mal geklopft und sie waren eigentlich ganz in Ordnung. Jetzt ist wieder Ruhe und er überlegt, ob er den Kindern nicht eine kleine Freude machen soll.
Nach einem Absacker mit Rolf verspricht er mir, demnächst mal wieder zur Ortsvereinssitzung zu kommen. Auf dem Heimweg denke ich wieder an Frau Müller. „Ich habe immer SPD gewählt, aber ich finde darin kaum noch statt.“ In diesem Wahlkampf ist mir bewusst geworden, wie sich die gesellschaftlichen Milieus auch in der SPD gespalten und voneinander entfernt haben. Insofern spiegeln sich innerhalb der Partei vielleicht auch die gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen mehr wider, als uns lieb sein kann. Wir sind sozusagen die Volkspartei eines fragmentierten Volkes. Wenn wir die Bevölkerung aber solidarisch einen und zusammenführen wollen, dann müssen wir zunächst in unserer eigenen Partei wieder zu einem tragfähigen gemeinsamen Diskurs finden, in dem die postmateriellen, sozialliberalen Zukunftsvorstellungen linker Studenten ebenso ihren Platz haben wie die konservativ-sozialdemokratischen Lebensweltsorgen von Rolf und Frau Müller.
Ansprechpartner auf Augenhöhe
Für die kommunikative und die strategische Ausrichtung der SPD nach außen kann nichts anderes gelten: Wir müssen Ansprechpartner auf Augenhöhe für die Sorgen und auch die Wut der zunehmend politisch volatilen Bevölkerungsmehrheit sein, ohne ihr nach dem Mund zu reden. Und wir müssen zugleich die akademischen und intellektuellen Debatten mutig und fortschrittsorientiert von links führen, ohne in abgehobene Selbstgespräche zu verfallen.
Die AfD steht sowohl dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft als auch dem sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt in Deutschland und Europa entgegen. Die SPD sollte sich davor hüten, die AfD-Wähler pauschal als dumm, rassistisch oder gar als „Nazis“ zu beschimpfen. Aber den Parolen und Hetzreden von Gauland, Höcke und Co. müssen wir mit aller Entschlossenheit entgegentreten und sie als das entlarven, was sie sind: narzisstische politische Marktschreier in einer Zeit, in der es gerade auf einen Ethos des gegenseitigen Zuhörens und des Respekts ankommt – und zwar im Osten wie im Westen.