Die Zeit drängt
Seit einem halben Jahrzehnt hält uns die Eurokrise in Atem. Noch immer ist der Zusammenhalt der Eurozone bedroht. Seit dem Ausbruch der Finanzmarkt- und später der Refinanzierungskrise einiger Staaten wurde Zeit gekauft – durch die Rettungsschirme und die Zentralbanken. Aber diese Zeit ist nicht ausreichend genutzt worden. Die Europäische Zentralbank (EZB) spielt noch immer die Rolle der „Feuerwehr“, gleichzeitig nimmt die Bereitschaft für neue Rettungspakete in Ländern wie Deutschland ab. Noch hält der über Jahrzehnte gewachsene pro-europäische Grundkonsens den Euro zusammen. Jedoch: Wie lange kann das noch gut gehen?
Das Sein bestimmt das Bewusstsein, und kaum etwas bestimmt das derzeitige politische Bewusstsein so stark wie die Arbeitslosenquote und die wirtschaftliche Entwicklung. Aus Gründen der europäischen Vergleichbarkeit nennen wir hier die Zahlen von Eurostat: Die Arbeitslosenquote beträgt in der Eurozone durchschnittlich etwa 11 Prozent. Dies entspricht der Arbeitslosenquote in Deutschland vor zehn Jahren, als die deutsche Sozialdemokratie in einem existenziellen Kraftakt notwendige Reformen auf den Weg brachte. Heute liegt die Arbeitslosigkeit in Deutschland bei unter fünf Prozent. In Spanien beträgt sie 22 Prozent, in Griechenland sogar 25 Prozent. Was das gesellschaftlich bedeutet, wissen wir in Deutschland nur zu gut – und zwar aus Ostdeutschland in der Nachwendezeit.
Was passiert, wenn die Nullzinsgrenze erreicht ist?
Unser Werben für etwas mehr Verständnis und Geduld unter den Mitgliedern der Eurozone darf nicht als Versuch missverstanden werden, das Prinzip der Eigenverantwortung außer Kraft zu setzen. Immer noch gilt, dass die Probleme eines jeden Landes der Eurozone in erster Linie hausgemacht sind und deshalb in erster Linie vor Ort gelöst werden müssen. Eine Alternative dazu gibt es nicht.
Allerdings müssen wir eine wichtige Einschränkung beachten, die trotz ihrer Dramatik leider noch immer kein Allgemeingut ist: Die klassische makroökonomische Aufgabenverteilung im Euro-Raum sieht vor, dass alle Länder ihre eigenen Hausaufgaben zu machen und sich insbesondere an die Defizitregeln zu halten haben. Falls dies in der Summe dazu führen sollte, dass die gesamtwirtschaftliche Aktivität zu stark abgebremst wird, schreitet die Geldpolitik ein und senkt die Zinsen. Damit sichert sie das Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent und stabilisiert gleichzeitig die Gesamtnachfrage.
In normalen Zeiten funktioniert diese Aufgabenverteilung zwischen Geld- und Fiskalpolitik. In einer Währungsunion, die keine Fiskalunion ist, stößt sie in Krisenzeiten jedoch an ihre Grenzen. Wirklich dramatisch wird das Problem dann, wenn die Nullzinsgrenze erreicht ist – eine Situation, die von den Architekten des Euro schlechterdings nicht voraussehbar war. Bereits im September 2014 hat die EZB die Zinsen auf null Prozent gesenkt. Zinsen wesentlich unterhalb der Nullgrenze sind technisch nicht möglich, weil die Sparer sich dann entschließen würden, Bargeld zu horten.
Ein »japanisches Jahrzehnt« hält Europa nicht aus
Wenn nun an der Nullzinsgrenze die Inflationserwartungen weiter fallen – und wir sprechen hier nicht über die aktuell gesunkenen Ölpreise, sondern über eine fallende Inflationserwartung im Fünfjahreshorizont –, dann ist die klassische Architektur der Eurozone überfordert.
In Deutschland haben wir in dieser Situation reflexartig dreimal „Nein“ gesagt: Erstens zu einer unkonventionellen Geldpolitik an der Nullzinsschranke, zweitens zu einer Aufweichung der europäischen Defizitregeln an der Nullzinsgrenze und drittens zur Schaffung eines makroökonomisch relevanten europäischen Investitionsfonds.
Doch das war falsch. Die geringe Gesamtnachfrage und eine zu niedrige Inflationsrate haben in Japan viel Schaden angerichtet – allerdings ohne dabei Japan oder den Yen in ihrer Existenz zu bedrohen. Die noch junge Eurozone, wo der gesellschaftliche und politische Zusammenhalt nicht so stark ist, würde jedoch an einem „japanischen Jahrzehnt“ zerbrechen.
Das liegt besonders daran, dass es in einem Umfeld mit Nullinflation sehr lange dauert, bis die Krisenländer über die Anpassung der relativen Preise und Löhne wieder wettbewerbsfähig werden. Ebenso schwierig ist es, unter der Bedingung von Nullinflation die Überschuldung und die leider noch immer nicht ausgestandenen Probleme der Banken zu bewältigen. Deshalb besteht auf der ökonomischen Ebene die akute Gefahr einer verlorenen Generation, während auf der politischen Ebene eine dramatische Radikalisierung droht, deren Vorboten wir in einigen Ländern der Eurozone schon heute beobachten – und die in letzter Konsequenz den Euro und das europäische Projekt zerstören würden.
Deshalb müssen wir deutlich strategischer als in den vergangen Monaten darüber nachdenken, wo in Zeiten der Nullzinspolitik Deutschlands und Europas Interessen liegen – und dementsprechend handeln. Es ist wichtig, auch in dieser schwierigen Phase die Glaubwürdigkeit der europäischen Defizitregeln zu bewahren, und trotzdem die Perspektive eines fiskalischen Investitionsschubs zu entwickeln. Daher müssen wir den bisher unseriös gehebelten europäischen Investitionsfonds mit Beiträgen aus den nationalen Haushalten soweit aufstocken, dass ein substanzieller makroökonomischer Impuls möglich ist bei gleichzeitiger strenger Qualitätskontrolle der zu genehmigenden Projekte. Darüber hinaus müssen wir darüber entscheiden, welche sinnvollen Zukunftsinvestitionen in Deutschland in den kommenden Jahren zusätzlich getätigt werden könnten. Das würde, im Sinne einer Win-win-Situation, Deutschland voranbringen und gleichzeitig die Anpassungs-prozesse in der Eurozone erleichtern.
Diese fiskalischen Maßnahmen wären – zusammen mit den in einigen Ländern weiterhin dringend erforderlichen wachstumsorientierten Strukturreformen – dazu geeignet, die Europäische Zentralbank an der Nullzinsgrenze zu entlasten. Genau dies hatte übrigens Mario Draghi bereits in seiner Rede im amerikanischen Jackson Hole im Sommer 2014 völlig zu Recht gefordert. Deshalb ist die öffentliche Diskussion in Deutschland – insbesondere in konservativen Kreisen – fadenscheinig. Wir sehen mit Sorge, wie ein wichtiger Teil der Politik einerseits genau weiß, dass die EZB keine überzeugenden Alternativen zur Erreichung ihres Inflationsziels hat, dieselben Politiker andererseits aber die quantitative Lockerung mit Freude kritisieren, nur weil das in ihren Wahlkreisen unglaublich populär ist. So wird das Vertrauen in die Durchsetzungsfähigkeit der EZB unterminiert. Angesichts der tatsächlich auch vorhandenen Gefahren einer Politik der quantitativen Lockerung – vor allem die Gefahr der Blasenbildung – würden wachstumsorientierte Reformen und ein ernstzunehmend dimensionierter europäischer fiskalischer Impuls dazu beitragen, das erforderliche Ausmaß und die Dauer der quantitativen Lockerung zu begrenzen.
Gerade jetzt brauchen wir mehr Integration
Die Bewältigung der unmittelbaren Herausforderung an der Nullzinsgrenze ist allerdings keine hinreichende Bedingung für den langfristigen Erfolg der Eurozone, sondern die kurzfristig notwendige Bedingung für ihr Überleben.
Um den Euro langfristig erfolgreich zu machen, brauchen wir einen weiteren Integrationsschub. Wir müssen die Bankenunion vollenden und einen Versicherungsmechanismus zur Abfederung von länderspezifischen Schocks einführen, zum Beispiel in Form einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Außerdem ist es notwendig, europäische öffentliche Güter auch europäisch zu finanzieren, etwa den humanitären Umgang mit Flüchtlingen. Und schließlich müssen wir die Krisenmechanismen europäisieren, um den dysfunktionalen Antagonismus zwischen Athen und Berlin durch ordentliche, legitimierte Entscheidungen einer Euroregierung zu ersetzen, die selbstverständlich durch ein Europarlament kontrolliert werden müsste. Damit wären – wie von der Glienicker Gruppe dargelegt – auch die Voraussetzungen für eine geordnete Insolvenz von Staaten in der Eurozone geschaffen, die im Vertrag von Maastricht nur gefordert, aber nicht hinreichend operationalisiert wurde.
Europa als Tauziehen – das geht nicht mehr gut
Vor diesen Veränderungen scheuen manche noch zurück, weil schwierige Vertragsveränderungen erforderlich wären. Doch es ist keine Staatskunst, nur auf Sicht zu fahren und auf Zeit zu spielen. Übersehen wird dabei, dass die unzureichende institutionelle Architektur der heutigen Eurozone anti-europäische Kräfte stärken kann.
Ein guter und tragfähiger politischer Kompromiss zur Lösung der Probleme in der Eurozone würde bedeuten, dass alle Länder der Eurozone davon profitieren. Erschwert wurde dies in den vergangenen Jahren dadurch, dass die politische Auseinandersetzung auf einen eindimensionalen Verteilungskonflikt zwischen Krisenländern und finanzstarken Ländern verengt wurde. Europapolitik wurde als ein Tauziehen inszeniert, mit der allseits weit verbreiteten Sorge, über den Tisch gezogen zu werden. Europapolitik lebt aber davon, dass sie kein Nullsummenspiel ist, bei dem man über den Tisch zieht oder gezogen wird, sondern dass sie den zu verteilenden Kuchen für alle vergrößert.
Damit das gelingt, braucht die europäische Politik mehrere Verhandlungsdimensionen – genauso wie durch internationalen Handel nur dann Wohlstand geschaffen wird, wenn es mehrere Güter gibt. So paradox es auch klingen mag: Um die Eurokrise erfolgreich zu überwinden, müssen wir alle einen Schritt zurücktreten und den Blick für die gemeinsamen Interessen jenseits der Eurokrise weiten – in der Nachbarschaftspolitik, im Zusammenspiel mit den Vereinigten Staaten und China, in der Entwicklungspolitik, in der Einwanderungspolitik und in der Energiepolitik. Anschließend müssen wir versuchen, über diese Politikdimensionen hinweg nach tragfähigen Kompromissen zu suchen, die die Eurozone und Europa insgesamt auch institutionell weiterentwickeln. Die Zeit drängt.