Auf Zickzack-Kurs zum EU-Konjunkturpaket
Unsere europäischen Partner reiben sich verwundert die Augen. Noch auf dem EU-Gipfel Mitte Dezember 2008 war Deutschland konjunkturpolitischer Bremser. Nicht nur wollte die Bundesregierung selbst kein größeres Konjunkturprogramm auflegen. Großbritannien musste sich für sein vergleichsweise großzügig dimensioniertes Konjunkturprogramm auch noch rüde Kritik aus Berlin anhören. Und nun, kaum vier Wochen später, beschließt Deutschland im Alleingang ein Konjunkturpaket II, das die konjunkturpolitischen Anstrengungen der übrigen EU-Mitgliedsländer in den Schatten stellt.
Das Konjunkturpaket II ist ein bemerkenswerter politischer Kraftakt der Großen Koalition und beweist ihre Handlungsfähigkeit in der Krise. Aber europapolitisch war der Zickzack-Kurs auf dem Weg dorthin keine Glanzleistung, und der aktuelle konjunkturpolitische Alleingang ist eine vertane Chance für die gebeutelte deutsche Exportwirtschaft. Wenn Deutschland schon auf dem Gipfel im Dezember ein Konjunkturpaket II in Aussicht gestellt hätte, wären vermutlich eine ganze Reihe anderer Länder im Gegenzug bereit gewesen, sich ihrerzeits auf größere Konjunkturpakete festzulegen. Dies hätte die Binnennachfrage in den betroffenen Ländern und damit auch die Nachfrage nach deutschen Exportprodukten gestärkt – ohne zusätzliche Kosten für den deutschen Steuerzahler.
Doch Deutschland hat diese Chance verpasst, weil der deutsche Konjunkturdiskurs im November und Dezember 2008 noch nicht weit genug war. Warum entwickelte sich die öffentliche Diskussion über Konjunkturhilfen in Ländern wie Großbritannien und Frankreich schneller als in Deutschland? Besonders zwei Faktoren sind hier zu nennen.
Erstens fehlte im Kabinett ein früher Befürworter eines substanziellen Konjunkturprogramms. Der starke Finanzminister Peer Steinbrück stand einer Ausweitung der Staatsverschuldung von Amts wegen skeptisch gegenüber. Wirtschaftsminister Michael Glos fehlte es vermutlich nicht zuletzt an wirtschaftspolitischer Durchschlagskraft. Kanzlerin Angela Merkel widerstrebte es wahrscheinlich aufgrund ihres Naturells, auf einem ideologisch derart vermienten Gelände alleine vorzuspreschen. Und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier hätte zwar mit Blick auf den Wahlkampf ein starkes Motiv gehabt, sich der Sache anzunehmen. Vermutlich sah er jedoch sein Ressort, das Außenministerium, als wirtschaftpolitisch nicht hinreichend kompetent an, um sich in einer so wichtigen Frage mit dem Finanzmininister – immerhin einem seiner engsten politischen Verbündeten – überwerfen zu können.
Warum Deutschland hinterherhinkte
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Sachverständigenrat ein deutsches Konjunkturprogramm in seinem Jahresgutachten recht früh befürwortet hat. Diese Tatsache schwächt die mancherorts verbreitete These, Deutschland sei vor allem deshalb zu keiner ordentlichen Konjunkturpolitik in der Lage, weil die hiesige Ökonomenzunft jegliches keynesianisches Gedankengut prinzipiell ablehne und unterdrücke.
Der zweite wichtige Grund dafür, dass die Diskussion in Deutschland jener in Frankreich und Großbritannien hinterherhinkte, waren die Wirtschaftsprognosen, die für Deutschland damals noch deutlich optimistischer waren als für andere Länder. Im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich befand sich die Bundesrepublik unmittelbar vor der Krise auf dem Höhepunkt eines Konjunkturzyklus. Deshalb ging man noch im Oktober 2008 für das Jahr 2009 von einem deutlich positiven Wirtschaftswachstum und einem Exportwachstum in Höhe von einem Prozent aus. Diese Erwartungen änderten sich erst nach dem dramatischen Einbruch der Exportaussichten in den vergangenen Wochen schlagartig. Inzwischen prognostizieren die Wirtschaftsinstitute, dass die deutschen Exporte in diesem Jahr um mehr als sechs Prozent schrumpfen werden. Der dramatische Exporteinbruch ist der Hauptgrund dafür, dass sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) den Prognosen zufolge um mehr als zwei Prozent verringern wird.
Inzwischen ist die Krise also auch in Deutschland angekommen, und die Bundesregierung plant für 2009 das größte Konjunkturpaket in der EU – eine gute Ausgangsbasis, um sich nun konstruktiv in die europäische Konjunkturdebatte einzumischen.
Dabei müssen wir aber berücksichtigen, dass sich die europäische Diskussion seit dem Gipfel im Dezember weiterentwickelt hat. Im Mittelpunkt steht nicht mehr primär die Frage nach der Höhe der Konjunkturpakete und nach ihrer Zusammensetzung. Vielmehr geht es zunehmend darum, wie die hohen fiskalischen Belastungen der Krise zu schultern sind, ohne die fiskalische Nachaltigkeit zu gefährden. Von den 13 größten Volkswirtschaften der Europäischen Union, die zusammen immerhin mehr als 90 Prozent der Wirtschaftskraft der EU auf sich vereinen, drohen nach aktuellen Berechnungen im Jahr 2009 mindestens acht die Drei-Prozent-Defizitgrenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu verletzen, einige dieser Länder sogar sehr deutlich. Fiskalisch noch düsterer könnte das Jahr 2010 werden, sollte das Wirtschaftswachstum erst allmählich wieder zurückkehren. Nach einer überzeugenden Antwort, wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt in dieser Ausnahmesituation genau angewendet werden sollte, wird noch händeringend gesucht.
Die Finanzmärkte jedenfalls haben auf die verschlechterte fiskalische Lage bereits reagiert. Um ihre Staatsanleihen zu verkaufen, müssen einige Länder der Eurozone wie Griechenland oder Irland schon jetzt um mehr als zwei Prozentpunkte höhere Zinsen zahlen, als Deutschland den Anlegern für deutsche Staatsanleihen zahlen muss. Vor der Krise war der Zinsabstand zu Deutschland nur etwa ein Viertel so hoch.
Optionen europäischer Konjunkturpolitik
Aus dieser Defizitproblematik resultieren für eine gemeinsame europäische Konjunkturpolitik im Wesentlichen drei Optionen: Erstens könnte man fordern, dass nur jene Länder ihre Konjunkturprogramme aufstocken sollten, die hierfür unterhalb der Drei-Prozent-Grenze noch fiskalische Möglichkeiten haben. Dies würde für Länder wie die Niederlande oder Schweden gelten, die – ähnlich wie Deutschland – in guten Zeiten ihre fiskalischen Hausaufgaben gemacht haben. Ein solcher Ansatz wäre jedoch nicht im deutschen Interesse, weil solide Haushaltsführung auf diese Weise tendenziell bestraft würde. Außerdem wäre bei dieser Variante der Spielraum für eine Aufstockung des europäischen Konjunkturpakets vergleichsweise klein.
Eine zweite Möglichkeit besteht darin, unter Missachtung des Stabilitäts- und Wachstumspakts von jedem Land denselben Konjunkturbeitrag in Prozent des jeweiligen BIP zu verlangen. Eine solche Vereinbarung wäre aber ebenfalls nicht im deutschen Interesse, weil sie einige Mitgliedsstaaten in eine Schuldenfalle zu treiben drohte, der sie aus eigener Kraft nicht mehr entkommen könnten. Diese Länder müssten dann irgendwie gerettet werden – und zwangsläufig hätten die reicheren EU-Staaten einschließlich Deutschland zumindest einen Teil der anfallenden Kosten zu schultern.
Strukturreformen und Konjunkturpakete
Drittens könnten die Konjunkturpakete aber auch mit Maßnahmen verknüpft werden, die die fiskalische Nachhaltigkeit stärken. Auf diese Weise wäre fast jedes Land der EU in der Lage, einen konjunkturellen Beitrag zu leisten: Hoch verschuldete Staaten müssten schlicht parallel eine größere Reformanstrengung unternehmen, um die Nachhaltigkeit ihrer Finanzen nicht aufs Spiel zu setzen. Beispielsweise könnte ein Land mit einem großen Schuldenberg wie Italien sein Konjunkturpaket mit einer Rentenreform verbinden, bei der das Renteneintrittsalter schrittweise angehoben wird. Damit würde die fiskalische Nachhaltigkeit verbessert – sowohl aufgrund der Einsparungen bei den Rentenzahlungen als auch aufgrund der zusätzlichen Steuereinnahmen durch die verlängerte Lebensarbeitszeit. Erforderlich wäre lediglich eine unabhängige Einzelfallprüfung (zum Beispiel durch die EU-Kommission), ob die geplante Strukturreform tatsächlich ausreicht, um die zusätzlichen finanziellen Belastungen mittelfristig zu kompensieren.
Eine solche Verknüpfung von Strukturreformen und Konjunkturpaketen wäre für Deutschland in vieler Hinsicht attraktiv. Sollte es die wirtschaftliche Entwicklung erfordern, könnten die Mitgliedsstaaten ihre nationalen Konjunkturprogramme deutlich ausweiten, ohne die fiskalische Nachhaltigkeit in der EU zu gefährden. Und mit den eingeforderten Strukturreformen würden ganz nebenbei die wirtschaftlichen Zukunftsausichten Europas gestärkt.