Die Lösung heißt Europa
Ich muss gestehen, dass ich früher eine eher europaskeptische Haltung hatte. Als Haushaltspolitiker war mir die Vorstellung ein Graus, Brüsseler Bürokraten könnten uns demokratisch legitimierten nationalen Abgeordneten ins Handwerk pfuschen und Vorgaben diktieren. Immerhin ist das Budgetrecht das Königsrecht des Parlaments. Doch aufgrund der dramatischen Ereignisse im vergangenen Jahr habe ich meine Meinung geändert, was die europäische Integration angeht. Der Grund ist die Staatsschuldenkrise, die den Euro-Raum auseinanderzureißen droht und massive politische wie ökonomische Instabilitäten nach sich ziehen könnte. Unter den Folgen würde nicht nur die exportabhängige deutsche Wirtschaft leiden. Auch drohte Europa langfristig international marginalisiert zu werden. Deshalb müssen wir alles tun, um die aktuelle Schuldenkrise zu bewältigen und künftigen vorzubeugen. Die Lösung heißt Europa!
Derzeit erhält die EU die Quittung dafür, nach der Währungsunion im Jahr 2002 den Integrationsprozess in der Haushalts- und Finanzpolitik, aber auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht deutlich gestärkt zu haben. Nun rächt sich, dass die Mitgliedsstaaten der EU ihre Haushalte seit Jahrzehnten ungehindert auf Pump bewirtschaftet haben. Dass mächtige Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen entstanden sind. Und dass der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht hinreichend für finanzpolitische Stabilität gesorgt hat. Kurz gesagt, die Schuldenkrise offenbart die schweren Konstruktionsfehler des Euro. Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hat dabei lediglich wie ein Brandbeschleuniger gewirkt: Die milliardenschweren Rettungsmaßnahmen für marode Banken und Konjunkturpakete haben die sowieso schon hohen staatlichen Defizite in kurzer Zeit weit über die Grenze eines erträglichen Maßes katapultiert. Selbst die Bruttokreditverschuldung des Musterschülers Deutschland liegt heute deutlich über dem gültigen Maastricht-Kriterium von 60 Prozent.
Die Schuldenstände der Euro-Länder sowie die mächtigen Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen machen eine intensiv abgestimmte Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik in Europa unverzichtbar. Doch bis zum heutigen Tage haben die europäischen Staats- und Regierungschefs auf die Staatsschuldenkrise nur kurzfristige Antworten gegeben, um die Symptome zu lindern und Zeit zu gewinnen – sei es mit dem Euro-Rettungsschirm oder dem Ankaufprogramm für Staatsanleihen der Europäischen Zentralbank. Viel zu wenig wird über eine nachhaltige Lösung diskutiert, die auf die Ursachen der Staatsschuldenkrise zielt. Vor allem auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble sind aus Angst vor dem Koalitionspartner und den Wählern in kurzfristigem Denken gefangen. „Weil wir die verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Grenzen respektieren, vor allem aber, weil die politischen Widerstände gegen eine weitere Vergemeinschaftung beim demokratischen Souverän in den allermeisten Mitgliedsstaaten … unübersehbar ist, werden wir auf absehbare Zeit nur begrenzte institutionelle Fortschritte machen“, schreibt Wolfgang Schäuble in der Frankfurter Allgemeinen. Bei dieser defensiven Haltung nimmt es nicht wunder, dass die konzeptionellen Überlegungen in Brüssel mittlerweile ohne das größte Mitgliedsland der EU stattfinden.
Bisher wurde nur mit heißer Nadel gestrickt
Jetzt oder nie: Europa muss rasch von einer Getriebenen zu einer Gestalterin der Krise werden. Der gültige Krisenmechanismus, der im vergangenen Mai mit heißer Nadel gestrickt worden war, ist bis zum Jahr 2013 befristet. Er muss in einen langfristigen Stabilitätsmechanismus überführt werden, der die Abhängigkeit der Staaten von den Schwankungen des Kapitalmarktes dauerhaft reduziert und zugleich künftige Schuldenkrisen verhindert. Auf dem Europäischen Rat im März müssen die Staats- und Regierungschefs in dieser Angelegenheit dringend Fortschritte erzielen.
Mein Vorschlag lautet, den existierenden Rettungsschirm für die Euro-Staaten als so genannte Verbundhaftung nach dem Motto „alle für einen“ zu institutionalisieren – und parallel die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union deutlich zu verstärken. Beides gehört zwingend zusammen: Verbundhaftung und zusätzliche europäische Kompetenzen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.
So wäre eine Verbundhaftung nur denkbar, wenn jeder Staat für eine hinreichende Einnahmebasis sorgt. Dazu muss der Steuersenkungswettbewerb in der EU endlich beendet werden: Wir brauchen einheitliche Bemessungsgrößen und klare Mindeststandards. Und um die Ungleichgewichte in den Leistungs- und Außenhandelsbilanzen abzubauen, muss Europa einen neuen europäischen Wachstumspakt beschließen. Bei Defiziten in der wirtschaftlichen Entwicklung sollte ein Staat entwickelt, nicht abgewickelt werden! Diese Aufgaben übernehmen derzeit zwar schon die europäischen Strukturfonds, doch brauchen wir deutlich mehr nachhaltige Förderung mit noch mehr Geld. Eine europaweite Wachstumsstrategie muss ein Umverteilungsmechanismus sein: mehr Bildung, mehr Infrastruktur, mehr Investitionen, mehr Innovationen.
Die Staaten werden in die Pflicht genommen
All diese Maßnahmen könnten aus den Einnahmen einer europaweiten Finanztransaktionsteuer bezahlt werden, die exklusiv der EU zur Verfügung stünden – mit festgeschriebenem Verwendungszweck. Auf diese Weise würde der Finanzsektor nicht nur an den Kosten möglicher künftiger Krisen, sondern auch stärker an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben beteiligt. Und das in seinem ureigenen Interesse, denn vom direkten Rückfluss der Steuer in wirtschaftliche Entwicklung würde der Finanzsektor profitieren.
Darüber hinaus ist die Verbundhaftung eng an ein europäisches Konsolidierungsprogramm zu knüpfen: Gibt ein Staat in der Verbundhaftung eine Anleihe aus, muss er einen obligatorischen Plan zur Rückführung der Defizite einhalten, verbindlicher als jeder Stabilitätspakt. Bei Verstößen drohen drastische Strafen. Beispielsweise wäre es eine sinnvolle Sanktion, dass ein Staat automatisch seine Steuereinnahmen erhöhen muss, sobald er der Konsolidierungspflicht nicht nachkommt. In einem solchen Fall hätte der Verbund selbstverständlich die Kompetenz zu kontrollieren, ob sich alle an die Verträge halten. Denn das europäische Konsolidierungsprogramm definiert nur Rahmenregelungen, die durch die souveränen Mitgliedsstaaten auszufüllen sind. Ob und an welcher Stelle Ausgaben gekürzt oder welche Einnahmen erhöht werden, bleibt ihnen selbst überlassen. Deshalb müssen die Haushaltspläne der Mitgliedsstaaten über das Europäische Semester hinaus vorgestellt und im Zweifel angepasst werden, wenn sie bestimmte Vorgaben – beispielsweise beim strukturellen Defizit – nicht erfüllen. Das bedeutet einen klaren Einschnitt in die Budgethoheit der jeweiligen nationalen Parlamente. Die Rahmenvorgaben durch Europa werden jedoch im Laufe der Jahre umso geringer, je besser ein Land seinen Haushalt in den Griff bekommt. Bewegt sich das nationale Budget wieder im vereinbarten Rahmen, erlischt der europäische Einfluss.
Um einen derart großen finanzpolitischen Integrationsschritt zu verwirklichen, ist ein passender institutioneller Rahmen notwendig. Weder die Kommission noch der Rat sind hierfür geeignet. Wir brauchen einen Quasi-Stabilitätsrat, beraten von der Europäischen Zentralbank und den europäischen Finanzaufsichtsbehörden – eine „Stabilitätsagentur“. Dieser legt nach demokratisch vereinbarten Regeln Kennziffern für alle Haushalte fest und überwacht deren Einhaltung. Verstöße berichtet er einer politisch verantwortlichen Ebene, zum Beispiel dem Rat und dem Parlament. Sanktionen werden dann aber automatisch verhängt.
Diese drei europäischen Handlungsfelder – steuerliche Mindeststandards, europäischer Wachstumspakt und ein strenges Konsolidierungsprogramm – sind die zwingend notwendigen Bedingungen, um eine Verbundhaftung für die Staatsanleihen der Euro-Staaten einführen zu können. Was genau ist damit gemeint? Eine solche Verbundhaftung würde zeitlich unbegrenzt gelten, aber unter den oben beschriebenen klaren Bedingungen – sonst entfällt die Haftung. Konkret handelt es sich um Bürgschaften für jede neue Anleihe, die ein Euro-Land zu einem angemessenen Zinssatz ausgibt (der Verbund garantiert also keine unangemessenen Gewinne für Investoren, die aufgrund der Garantie kein Risiko eingehen). Dafür muss die No-bailout-Klausel in den europäischen Verträgen gestrichen werden, die besagt, dass kein Euro-Mitgliedsland für die Schulden anderer Euro-Länder haftet oder aufkommt.
Das Grundprinzip heisst: Gegenseitige Solidarität
Natürlich sind neue Krisen nie auszuschließen, gerade gezielte Angriffe raffgieriger Finanzmarkt-Akteure bleiben unvorhersehbar. Im Falle eines solchen Angriffs auf einen Euro-Staat muss die Stabilitätsagentur für Notfälle auch die Befugnis erhalten, kurzfristig selbst Geld auf dem Markt aufzunehmen, um solche Spitzen abzufedern. Dies kann etwa mittels einer Euro-Anleihe geschehen, die an dieser Stelle – und nur hier – Sinn machen würde, oder durch den Aufkauf der Anleihen. Allerdings, und das ist besonders wichtig: Für die Kosten haften alle Gläubiger des jeweiligen Staates nach klaren Regeln mit, schließlich bekommen sie dafür auch ihre Zinszahlungen garantiert. Ein automatischer „Haircut“, also eine Reduzierung der Kreditsumme nach Rasenmähermethode, wäre falsch, denn kein Investor wäre etwa für fünf Prozent Rendite bereit, den Kapitalerhalt zu riskieren. Sinnvoller ist daher der „Zinscut“: Muss ein Staat den Ausgleichsmechanismus in Anspruch nehmen, wird der Zins für alle Anleihen dieses Staates zum Beispiel auf drei oder vier Prozent gesenkt.
Das Konzept der Verbundhaftung folgt dem Grundsatz gegenseitiger Solidarität, um dem Druck anonymer Marktkräfte als Gemeinschaft standzuhalten. Diese notwendige Solidarität muss nach klaren Regeln und mit veränderten, teilweise neuen Institutionen politisch gestaltet werden. Wenn das gelingt, könnte die Staatsschuldenkrise zu einer historischen Wegmarke werden in Richtung einer ever closer union.
Dies ist allerdings nur möglich, wenn europäische Politik gleichzeitig stärker demokratisch legitimiert wird. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel verfolgt genau die entgegengesetzte Strategie, wenn sie eine europäische Wirtschaftsregierung vorschlägt, die der Europäische Rat bilden soll. So lange maßgebliche Entscheidungen weiter von Regierungsräten in Brüssel getroffen werden, sollte sich niemand über die wachsenden europaskeptischen Einstellungen in der Bevölkerung wundern. «