»Jetzt kommt Europas Reifeprüfung«
Ende Februar sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel vor beiden Kammern des britischen Parlaments. Premierminister David Cameron hoffte, Merkel würde ihm entgegenkommen im Hinblick auf seine Forderung nach einer grundlegenden EU-Reform. Er wurde enttäuscht. Waren die Erwartungen an Merkel falsch? Oder ist sie tatsächlich „unbeugsam wie ein Paar Lederhosen“, wie die Daily Mail schrieb?
Merkel hat doch nur die Wahrheit gesagt: Bei 28 Mitgliedsstaaten ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein einzelner Staat mal eben Vertragsänderungen durchsetzt. Zugleich hat sie angekündigt, nach gemeinsamen Anliegen zu suchen, die beide Länder auch ohne Vertragsänderungen verfolgen können. Ich fand ihre Rede klug. Dass die britische Presse Europa kritisch sieht und Camerons Kurs tendenziell gutheißt, ist ja nichts Neues. In Deutschland muss man verstehen, dass die Europapolitik der Tories hauptsächlich innenpolitisch motiviert ist und ihre Ursache in der Angst vor der populistischen United Kingdom Independence Party UKIP hat.
Cameron hat angekündigt, im Falle eines Siegs bei der Parlamentswahl 2015 ein Referendum über den Verbleib in der EU abzuhalten. Werden die Konservativen dann für oder gegen die EU mobilisieren?
Die Tories sagen, sie werden für den Verbleib in der EU werben, sofern die europäischen Partner zu Konzessionen bereit sind. Als Mitglied des House of Lords habe ich konservative Minister im Parlament wiederholt gefragt, was passiert, wenn die gewünschten Zugeständnisse ausbleiben. Natürlich habe ich darauf nie eine Antwort erhalten. Wenn die Tories 2015 gewinnen, werden sie ganz schön in der Zwickmühle stecken. Cameron wird händeringend nach irgendwelchen Äußerungen von Angela Merkel suchen, die wie Zugeständnisse aussehen, damit er sein Gesicht wahren kann.
Welchen europapolitischen Kurs wird die Labour Party einschlagen, sollte sie die Parlamentswahlen gewinnen?
Ed Miliband hat verkündet, nur dann ein Referendum abzuhalten, wenn auf Wunsch anderer Staaten die Verträge geändert werden sollen. Ich halte das für einen cleveren Schachzug, weil eine Vertragsänderung in den nächsten fünf Jahren eher unwahrscheinlich ist. Was mich aber an unserer Parteiführung stört: Labour betrachtet die EU ausschließlich als ökonomisches Instrument. Frei nach dem Motto, die Europäische Union ist gut, weil unsere Unternehmen von ihr profitieren. Besser wäre es, Labour würde eine ganzheitlichere Sicht einnehmen, wenn es um die Bedeutung der EU geht.
In Ihrem neuen Buch „Turbulent and Mighty Continent“ bezeichnen Sie die diesjährigen Wahlen zum Europäischen Parlament als möglichen Wendepunkt, weil erstmals europäische statt nationale Themen im Fokus stehen. Man kann das auch anders sehen: Noch nie ging von europäischen Wahlen eine derart große populistische Gefahr aus.
In der Tat glaube ich, dass bei den Europawahlen zum ersten Mal ein richtiger politischer Raum in Europa geschaffen wird. Zum einen aufgrund des Ausmaßes der Krise, zum anderen, weil anders als früher in allen Mitgliedsstaaten jeden Tag europäische Fragen in den Nachrichten vorkommen. Sogar die britische Presse hat detailliert über die deutschen Bundestagswahlen oder den jüngsten Besuch von Kanzlerin Merkel berichtet. Es ist paradox: Die antieuropäischen Parteien tragen dazu bei, diesen politischen Raum zu schaffen – und helfen damit in gewisser Weise den Pro-Europäern. Über nationale Grenzen hinweg haben wir mittlerweile fast so etwas wie ein normales politisches System mit zwei ideologischen Lagern – einer eher föderalen Position auf der einen Seite versus einer Tea-Party-ähnlichen, nationalistischen Position auf der anderen Seite. Wenn man so will, wird hier partiell die amerikanische Politik nachgeahmt. Aus dieser Sicht hat die Krise zwar enorme Probleme geschaffen, aber auch Chancen kreiert, die es vorher nicht gab.
Selbst eher linke Autoren wie der britische Publizist David Goodhart wenden sich gegen das „Europa der Eliten“. Die Bündelung von Souveränität sei zum Selbstzweck geworden. Laut Goodhart können die Bürger in Zeiten der Globalisierung nur durch einen funktionierenden und demokratischen Nationalstaat über ihr eigenes Schicksal bestimmen.
Ich schätze Goodhart sehr, aber es gibt kein Zurück zum traditionellen Nationalstaat. Dazu wird es schon deshalb nicht kommen, weil die Menschen in Bezug auf die Nation heute vollkommen widersprüchliche Gefühle haben. Die Unabhängigkeitsbestrebungen vieler europäischer Regionen sind das beste Beispiel. Außerdem leben wir nun einmal in einer Welt mit wachsender Interdependenz zwischen den Staaten. Und wer glaubt, man könne die Eurozone einfach wieder auflösen, der irrt. Im Gegenteil: Die Eurozone führt quasi automatisch zu weiteren Integrationsschritten. Der ökonomische Föderalismus zwingt uns, einen politischen Föderalismus zu entwickeln. Nur so stabilisieren wir die Eurozone. Und nur so können wir die Probleme lösen, die den Populisten in die Hände spielen: den Mangel an Demokratie und fehlende politische Führung.
Der Begriff des Föderalismus ist bei vielen eher negativ besetzt und weckt Assoziationen von einem Superstaat.
Dabei beschreibt der Begriff das exakte Gegenteil: Föderalismus zeichnet sich ja gerade durch dezentrale politische Strukturen aus. Es handelt sich um eine äußerst pragmatische, anpassungsfähige und flexible Regierungsform. Außer China sind alle großen Staaten der Welt föderal organisiert. Allerdings kann es nicht darum gehen, einen existierenden föderalen Staat zu kopieren. Europa muss eine eigene Balance finden zwischen politischer Führung, Demokratie und Dezentralisierung. In den nächsten Jahren müssen wir ein fluides, dynamisches System schaffen. Viel Zeit bleibt nicht: Die Welt verändert sich rasant und Europa bewegt sich viel zu langsam.
Deutschland ist in eine verzwickte Lage geraten: Wir können es in Europa niemandem Recht machen. Die einen wollen, dass wir dem Rückbau der EU zustimmen, die anderen fordern die vertiefte Integration. Die einen plädieren für eine stärkere Rolle Deutschlands, die anderen werfen uns eine falsche Krisenpolitik vor. Auch deshalb hat unser Bild in Europa gelitten. Was würden Sie den Deutschen empfehlen?
Im Prinzip ist Europa derzeit deutsch: Deutschland ist der Spielmacher. Angela Merkel ist so etwas wie die inoffizielle Präsidentin von Europa, auch weil sie im Rest der Welt mit Europa in Verbindung gebracht wird. Sie ist die Person, an die sich die Leute in letzter Instanz wenden. Diese Position ist aber aus mehreren Gründen nicht gut für Deutschland und die EU. Erstens gibt es keine Legimitation dafür. Zweitens ist Deutschland in die Rolle aufgrund der Krise unvorbereitet reingerutscht. Und drittens ist die Situation instabil. Aus meiner Sicht muss Deutschland seine weitreichende Verantwortung anerkennen, besonders gegenüber den südeuropäischen Ländern. Es muss den Versuch unternehmen, die Spaltung zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten zu überwinden. Das ist Europas Reifeprüfung: Können wir eine effektive Nord-Süd-Solidarität schaffen? Irgendwann wird es eine Form der Vergemeinschaftung von Schulden geben müssen. Gerade wenn dies ihre letzte Wahlperiode ist, muss Merkel entschiedener handeln und die deutsche Öffentlichkeit vor unbequeme Wahrheiten stellen, um ein übergeordnetes Wohl zu erzielen.
Zugleich müssen wir dafür sorgen, dass in allen europäischen Ländern die Wirtschaft wieder wächst.
Zunächst: Die deutsche Wirtschaft wirkt derzeit stark, aber aus meiner Sicht ist sie das nicht. Ihre Schwäche wird durch die Situation in der Eurozone bloß verdeckt. Insgesamt ist mir der wirtschaftspolitische Diskurs in der EU zu binnenfixiert. Immer geht es nur um den Euro und um institutionelle Reformen wie die Bankenunion – so wichtig diese sind. Das fehlende Wachstum ist ja nicht nur das Ergebnis interner europäischer Probleme. Vielmehr haben alle Industrieländer derzeit Wachstumsprobleme, auch einige der aufstrebenden Staaten. Was wir verstehen müssen: Neue Arbeitsplätze entstehen nicht durch eine einzelne Maßnahme, sondern wir müssen uns ständig auf verschiedenen Gebieten an Strukturveränderungen und den Wandel anpassen. Zum Beispiel findet gerade ein enormer technologischer Wandel statt, der unsere Produktions- und Arbeitsweise radikal verändert: Die Welt wird digital. Wenn wir Wachstum fördern wollen, müssen wir immer unterschiedliche Politikfelder mitdenken. So wird es ohne ein modernisiertes europäisches Sozialmodell keine zukunftsfähige europäische Wirtschaft geben. Auch die Energieversorgung wird von zentraler Bedeutung sein für Europas Wachstumspotenzial und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Es muss uns gelingen, die Energiepreise zu senken und zugleich die Kohlendioxid-Emissionen effektiver zu kontrollieren. Klar ist jedenfalls: Die Herausforderungen bewältigen wir nur mit einer stärkeren Koordinierung auf der Ebene der EU.
Bei Ihren Überlegungen spielt ein aktiver Staat eine wichtige Rolle, um Wachstum zu schaffen. Entfernen Sie sich damit nicht von Ihrem Konzept des Dritten Weges aus den neunziger Jahren?
Der Dritte Weg ist doch längst vorbei. Nein, wir brauchen einen vollkommen neuen Ansatz: Wie schaffen wir es, in die globale Wirtschaft zu intervenieren? Das fängt an beim Kampf gegen Steueroasen oder zumindest gegen die allzu losen Bewegungen von Investitionen und Kapital auf der ganzen Welt. Die Ungleichheiten in unseren Ländern haben auch etwas mit den extremen Ungleichheiten zu tun, die im globalen System entstanden sind. Deshalb muss die EU ein zentraler Akteur im internationalen System sein. Übrigens habe ich schon in meinem Buch Der Dritte Weg darauf hingewiesen, dass das Weltfinanzsystem zu dereguliert ist und wir auf diesem Feld mehr staatliche Eingriffe brauchen. Es waren die sozialdemokratischen Regierungen des Dritten Weges, die das globale Wirtschaftssystem einfach so hinnahmen und mit Samthandschuhen anfassten. Das war zu wenig. Heute müssen wir die Weltwirtschaft wieder stabilisieren. Aus diesem Grund bin ich für das Freihandelsabkommen zwischen Europa und den USA. Wenn es gut verhandelt wird, könnte es einen positiven Effekt auch auf den Rest der Weltwirtschaft haben.
Dann ist der Dritte Weg also immer falsch verstanden worden?
Es ist oft schwierig, wenn Akademiker enger mit der Politik zusammenarbeiten. Die politische Welt greift deine Ideen nicht immer so auf, wie du es für richtig hältst. Das Konzept galt schnell als eine Art gedämpfte Form des Marktfundamentalismus. In Wirklichkeit war ja aber ein Dritter Weg zwischen traditionellem Sozialismus und Marktfundamentalismus gemeint. Zu diesem Grundprinzip stehe ich immer noch.
Kommen wir noch einmal zum europäischen Sozialmodell. Sollten wir der EU mehr sozialpolitische Kompetenzen übertragen?
Kurzfristig wird das nicht passieren, aber in den nächsten 10 oder 15 Jahren bestimmt. Wichtig ist, dass wir unsere Sozialsysteme mehr und mehr zu Sozialinvestitionsstaaten umbauen. Nur so können wir ökonomisch leistungsfähig bleiben und mehr soziale Gerechtigkeit schaffen. Dabei muss zunächst jedes Land selbst seine Hausaufgaben machen. Deutschland beispielsweise hat das große Problem, eine stark alternde Gesellschaft zu sein. Auch die wachsende Zuwanderung wird es nicht lösen. Ihr müsst es schaffen, dass die positiven Aspekte der Alterung überwiegen – übrigens auch mithilfe neuer Technologien. Nötig sind dezentralisierte, effektivere Wohlfahrtsinstitutionen. Das ist so ähnlich wie beim Klimawandel: Wenn wir nichts unternehmen, werden die Risiken und Probleme in der Zukunft umso größer werden.
Eine der größten Herausforderungen ist die Integration von Einwanderern in die europäischen Gesellschaften. Zugleich nehmen xenophobe Tendenzen zu. Das Thema Freizügigkeit spielt im Europawahlkampf eine wichtige Rolle. Wie sollte die Politik reagieren?
Ich finde den Ansatz des „Interkulturalismus“ in unserer hyperdiversen Welt plausibel. Beim Interkulturalismus geht es unter anderem darum, nicht nur Minderheiten in bereits existierende Strukturen einzubeziehen, sondern auch über die Implikationen für diese Strukturen nachzudenken. Die Migranten müssen sich in demokratische Institutionen integrieren, aber diese Institutionen müssen sich auch selbst ändern.
Die Wähler von UKIP und anderen populistischen Parteien dürfte das Konzept nicht überzeugen.
Natürlich müssen wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen, etwa wenn viele Einwanderer in einen Ort ziehen und das Gesicht der gesamten Gemeinde verändern. Trotzdem bin ich für die Freizügigkeit in Europa. Die vielen polnischen Handwerker in Großbritannien haben unserer Wirtschaft und Gesellschaft extrem gut getan. Ich betrachte Zuwanderung nicht als unproblematisch, aber sie ist unausweichlicher Bestandteil einer interdependenten Welt. Und die Freizügigkeit ist ein hohes Gut. Ich bin froh, dass die meisten politischen Anführer in Europa es auch im Europawahlkampf verteidigen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Im Oktober 2013 erschien Anthony Giddens´ Buch „Turbulent and Mighty Continent: What Future for Europe?“. Es hat 224 Seiten und kostet 22,95 Euro.