»Mehr Gleichheit ist für alle besser«

In ihrem Buch »The Spirit Level« belegen die beiden britischen Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett empirisch, dass die sozialen Probleme einer Gesellschaft desto stärker zunehmen, je mehr die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Ihr eindringliches Plädoyer für mehr Gleichheit ist in Europa und den USA auf enorme Resonanz gestoßen. Sogar der konservative britische Premierminister David Cameron bezog sich in einer Wahlkampfrede auf das Buch, das jetzt im Verlag Zweitausendeins unter dem Titel »Gleichheit ist Glück« auch auf Deutsch erschienen ist. »Berliner Republik«-Redakteur Michael Miebach hat mit Co-Autor Richard Wilkinson gesprochen

Die Forderung nach mehr gesellschaftlicher Gleichheit ist ja ziemlich aus der Mode geraten. Wie kommen Sie darauf, dass gleichere Gesellschaften funktionaler sind?

Wir haben 23 wohlhabende Industrieländer miteinander verglichen, dazu noch die 50 amerikanischen Bundesstaaten untereinander. Die Statistiken sprechen eine klare Sprache: Vergleicht man die reichsten 20 Prozent mit den ärmsten 20 Prozent einer Bevölkerung, fallen die gesundheitlichen und sozialen Probleme umso stärker aus, je größer die Einkommensunterschiede sind. Ob es nun um Lebenserwartung, Säuglingssterblichkeit, Fettleibigkeit, Drogensucht, Teenager-Schwangerschaften, Selbstmorde oder soziale Mobilität geht – die ungleicheren Länder schneiden erheblich schlechter ab. Und zwar unabhängig davon, wie arm oder reich ein Land insgesamt ist. Das Ausmaß der Einkommensunterschiede innerhalb unserer eigenen Gesellschaft betrifft uns also viel stärker als die Höhe des Durchschnittseinkommens im Land.


Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich?

Was Ungleichheit und soziale Probleme angeht, befindet sich Deutschland etwas oberhalb der Mitte. Die Klassenbesten sind Japan und die skandinavischen Länder. Hinten liegen die Vereinigten Staaten, Singapur, Portugal, Großbritannien und Australien.  

Nehmen wir einmal das Beispiel Fettsucht. Ihr epidemologischer Befund lautet: Je größer die Einkommensungleichheit, umso mehr Fettsüchtige gibt es. Spielt die jeweilige Esskultur eines Landes gar keine Rolle?

Dann dürften sich die 50 amerikanischen Bundesstaaten ja nicht voneinander unterscheiden. Das tun sie aber: In Colorado sind rund 22 Prozent der Erwachsenen fettleibig, in Texas fast 34 Prozent. Fettsucht geht klar auf Stress zurück. Gestresste Menschen essen mehr, um sich gut zu fühlen, und sie verarbeiten ihre Nahrung anders als ihre ungestressten Mitmenschen: Fettgewebe bauen sie vor allem im Bauchbereich auf, weniger an den Hüften und Schenkeln. Auch weiß man, dass Stress und Ängste in der Kindheit das Gewicht als Erwachsene beeinflussen. Im Verlaufe der Evolution war es wohl rational, in Zeiten von Unsicherheit und Konflikten Vorräte anzulegen. Beispielsweise nahm die Zahl der Fettleibigen in Ostdeutschland in den Jahren nach der Wende signifikant zu – nicht weil sich die Menschen mehr leisten konnten, sondern weil die Einkommen ungleicher wurden und es viele Wendeverlierer gab.

Wie hängen Ungleichheit und Stress genau zusammen?

Man kann sich materielle Unterschiede wie ein Gerüst vorstellen, an dem kulturelle und klassenspezifische Differenzierungen befestigt sind: Kleidung, Geschmack, Bildung, Selbstbewusstsein. Selbst sehr reiche Menschen drücken mit Geld immer auch den eigenen Status aus. Der Grad der Einkommensgleichheit zeigt also an, wie hierarchisch es in einer Gesellschaft zugeht. Deshalb reagieren Menschen sehr sensibel darauf. Ungleichheit verschärft den Statuswettbewerb, verschlechtert die Qualität unserer sozialen Beziehungen und erzeugt sozialen Stress. Umgekehrt vertrauen sich die Menschen in egalitäreren Gesellschaften mehr, sie nehmen mehr am gemeinschaftlichen Leben teil und sind sozial engagierter.

Die Mittel- und Oberschicht dürfte gesellschaftliche Ungleichheit nicht besonders stören.

Dann liegen sie falsch. Natürlich kommen soziale und gesundheitliche Probleme in den ärmeren Schichten häufiger vor. Aber Ungleichheit wirkt sich auch auf die übrige Bevölkerung negativ aus. In ungleicheren Gesellschaften spielt die wechselseitige Einschätzung des sozialen Status und Statuskonkurrenz eine größere Rolle – und zwar in allen Schichten. Dadurch entstehen soziale Ängste. So beschäftigen sich Menschen in ungleicheren Gesellschaften mehr mit ihrem eigenen Vorankommen. Schließlich ist der Einsatz höher, den sie dafür erbringen müssen.

In seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ argumentiert der Philosoph John Rawls, Ungleichheit sei gerechtfertigt, solange sie zu einer besseren Lebenssituation der Ärmeren führt. Dazu passt ein Zitat des ehemaligen britischen Wirtschaftsministers Peter Mandelson: „Wir sind äußerst entspannt, wenn manche Leute stinkreich werden.“ Dahinter steht die auch unter progressiven Sozialdemokraten verbreitete Hoffnung, der Reichtum werde in die unteren Schichten durchsickern. Widersprechen Sie Rawls und Mandelson?

Definitiv. Die Theorie der Gerechtigkeit geht von der falschen Annahme aus, das Wichtigste seien die absoluten materiellen Maßstäbe. Kate Pickett und ich weisen dagegen auf die negativen psychosozialen Effekte von Ungleichheit hin. Fast alle unsere Befunde haben mit dem menschlichen Verhalten zu tun. Es geht um Gefühle von Überlegenheit und Minderwertigkeit durch Ungleichheit. Es geht um relative, nicht um absolute Schlechterstellung. Im Mittelpunkt unseres Denkens steht nicht der individuelle Wohlstand, sondern die zwischenmenschliche Beziehung – und diese wird eben häufig durch materielle Standards definiert. Zum Beispiel leben in den Vereinigten Staaten etwa 12 Prozent der Bevölkerung unterhalb der absoluten Armutsgrenze. Aber 80 Prozent der Armen haben eine Klimaanlage, die Hälfte besitzt ein Auto, ein Drittel eine Spülmaschine und einen Computer. Materiell geht es ihnen also gar nicht so übel, und dennoch gibt es in dieser Bevölkerungsgruppe mehr Gewalt, mehr Drogenmissbrauch, mehr Teenager-Schwangerschaften. Der Grund sind die negativen psychosozialen Auswirkungen von relativer Armut.

Sie haben auch untersucht, wie sich Gleichheit auf die soziale Mobilität auswirkt. Eigentlich müsste es in ungleichen Ländern mehr Anreize geben, durch Arbeit und Leistung aufzusteigen.

Das Gegenteil ist der Fall. Ungleichheit macht Gesellschaften weniger durchlässig, führt zu mehr sozialräumlicher Segregation und zu mehr Vorurteilen gegenüber den sozial Schwächeren – was die Statusunterschiede wiederum manifestiert.

Ist es nicht etwas einseitig, soziale Mobilität nur auf den Grad an Einkommensgleichheit zurückzuführen? Zum Beispiel beeinflussen doch auch die Bildungssysteme die Aufstiegschancen der Kinder.

Bildung spielt eine Rolle, aber der Statuseffekt ist viel wichtiger. Ungleichheit wirkt sich stark auf die familiären Beziehungen aus. Häusliche Konflikte oder fehlende Zeit für den Nachwuchs beeinflussen die kindliche Entwicklung negativ. Wenn Eltern große persönliche Sorgen und Ängste haben, geben sie diese häufig unbewusst an ihre Kinder weiter – und beeinträchtigen damit deren emotionales und kognitives Wachstum. Nach neuesten Erkenntnissen aus der Primatenforschung kann es sogar sein, dass sich frühkindliche Prägungen direkt auf die Gene auswirken. Hinzu kommt: Kinder aus ärmeren Elternhäusern passen sich automatisch ihrem niedrigen sozialen Status an und fühlen sich häufig minderwertig. Studien der neurologischen Forschung zeigen, dass Lernfähigkeit viel mit Gefühlen zu tun hat. Wer zuversichtlich und glücklich ist, hat eine höhere Gehirnleistung als jemand, der sich hilf- und chancenlos fühlt.

Die von Ihnen verwendeten Statistiken beziehen sich allesamt auf das Hier und Jetzt. Längerfristige Entwicklungen haben Sie nicht untersucht. Dabei ist die durchschnittliche Lebenserwartung in den meisten wohlhabenden Ländern gestiegen, die Bildungschancen haben sich verbessert und die Kriminalität ist zurückgegangen – obwohl die Ungleichheit seit den achtziger Jahren angewachsen ist.

An genau dieser Stelle wollen wir jetzt weiterforschen. Es gibt bereits Studien über längere Zeiträume, die unsere Thesen stützen. Zum Beispiel erhöhte sich in den osteuropäischen Staaten nach der kommunistischen Zeit die Sterberate nicht in den ärmsten Ländern am meisten, sondern in den ungleichsten. Und was die steigende Lebenserwartung angeht: Das ist eins der großen Rätsel der Gesundheitsforschung. Wir sagen ja nicht, dass Gleichheit der einzige relevante Faktor ist, aber sie ist bei allen von uns untersuchten Kategorien ein entscheidender Faktor.   

Darüber hinaus blenden Sie vollkommen aus, dass das Armutsrisiko in bestimmten Bevölkerungsgruppen besonders hoch ist – zum Beispiel unter Einwanderern oder Alleinerziehenden. Sollte sich die Politik nicht zunächst um diese Menschen kümmern?

In der Vergangenheit hat die Politik doch schon für jede Problemgruppe und für jeden sozialen Missstand eigene Programme und spezialisierte soziale Dienste eingerichtet. Jedes einzelne Problem wird für sich behandelt, anstatt die gemeinsame Ursache der Probleme zu bekämpfen: Ungleichheit, relative Armut und so weiter.

Auch die Debatte um unterschiedliche Typologien von Wirtschafts- und Sozialmodellen kommt in Ihrem Buch  überhaupt nicht vor. Dabei ist doch unbestritten, dass es besser und schlechter organisierte Wohlfahrtsmodelle gibt.

Aber unsere Empirie zeigt, dass es vollkommen irrelevant ist, auf welchem Weg ein Land mehr Einkommensgleichheit erreicht. Nur das Ergebnis zählt. Weder die Höhe der Sozialleistungen noch die Steuerquote korrelieren mit den sozialen Problemen. Zum Beispiel steht der amerikanische Bundesstaat New Hampshire bei Einkommensgleichheit, Gesundheit und sozialen Indikatoren weit besser da als viele andere Staaten, aber er hat nach Alaska die niedrigste Steuerquote. Dafür sind in New Hampshire die Lohnunterschiede gering, weil die Gewerkschaften dort sehr stark sind.

Viele glauben, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in den westlichen Gesellschaften sei aufgrund der Globalisierung und des technologischen Wandels unvermeidbar. Ist die Politik überhaupt in der Lage, für mehr Gleichheit zu sorgen?

Der berühmte Ökonom Paul Krugman geht davon aus, dass die wachsende Ungleichheit seit den achtziger Jahren in erster Linie auf politische Entscheidungen zurückgeht. Denn während die Einkommensdifferenzen in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sehr hoch waren, wurden die Gesellschaften nach der Großen Depression und im Zuge des amerikanischen New Deal bis in die sechziger Jahre immer gleicher. In den Siebzigern stagnierte die Ungleichheit, erst seit den achtziger Jahren steigt sie wieder. Ein zentraler Grund dafür war die Liberalisierungspolitik Ronald Reagans und Margret Thatchers: Steuersenkungen, Schwächung der Gewerkschaften, Privatisierungen. Ihnen ging es in erster Linie um Wirtschaftswachstum; die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich haben sie billigend in Kauf genommen. Die Politik hat folglich durchaus großen Einfluss auf den Grad der Ungleichheit.

Führen ungleiche Gesellschaften überhaupt zu mehr Wachstum?

Im Gegenteil: Die meisten empirischen Studien zeigen, dass Gleichheit das Wirtschaftswachstum positiv beeinflusst. Denn gesellschaftlicher Zusammenhalt, soziales Kapital und Vertrauen senken die Transaktionskosten für die Unternehmen und schaffen ein gutes Geschäftsumfeld. Interessant ist auch, dass in gleicheren Ländern mehr Patente pro Kopf angemeldet werden, wohl weil die Bevölkerung in ungleicheren Gesellschaften einen schlechteren Bildungsstand hat und weniger Menschen sozial aufsteigen können. Ungleiche Gesellschaften verschwenden einfach zu viele ihrer Talente. Aber davon einmal abgesehen sollte unser Ziel gar nicht zusätzliches Wachstum sein, sondern mehr Lebensqualität, bessere soziale Beziehungen und eine saubere Umwelt – durch mehr Gleichheit.   

Was hat Ökologie mit Einkommensgleichheit zu tun?

Zum einen gibt es in gleicheren Gesellschaften ein stärkeres Bewusstsein für das Allgemeinwohl. Um ein Beispiel zu nennen: In gleicheren Gesellschaften wird mehr Müll recycelt als in ungleicheren. Dieses Bewusstsein ist auch beim Klimaschutz essenziell. Zum anderen spielt in ungleicheren Gesellschaften der Konsum eine größere Rolle. Konsum hat viel mit Statuswettbewerb zu tun, Ungleichheit heizt ihn an. Kate Pickett und ich sind davon überzeugt, dass Menschen in ungleicheren Gesellschaften deshalb im Durchschnitt länger arbeiten, weil Geld wichtiger ist. Um dem Konsumismus entgegenzuwirken, brauchen wir mehr Gleichheit.

Welche politischen Maßnahmen schlagen Sie vor, um dieses Ziel zu erreichen?

Wir sind keine Politikexperten, deshalb sprechen wir auch keine konkreten politischen Empfehlungen aus. Und wie gesagt: Auf welchem Weg das Gleichheitsziel erreicht wird, spielt keine Rolle. Eine Variante sind natürlich höhere Steuern und Abgaben, aber Steuererhöhungen sind unpopulär und können von späteren Regierungen leicht wieder rückgängig gemacht werden. Deshalb sollten wir Gleichheit tiefer in unserer Kultur verankern und unser Wirtschaftssystem demokratisieren. Damit meine ich nicht nur mehr Mitbestimmung und starke Betriebsräte, sondern die Förderung von Genossenschaften, mehr Möglichkeiten zur Beteiligung der Arbeitnehmer an den Unternehmensgewinnen – bis hin zu arbeitnehmergeführten Unternehmen. Weitere wichtige Felder für die Frage der Gleichheit sind gesetzliche Mindestlöhne, Bildung, Weiterbildung, der Arbeitsmarkt, öffentliche Dienstleistungen, Renten und die Familienpolitik.

Geht die demokratische Beteiligung der Mitarbeiter nicht auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit?

Ich habe mir mehrere umfangreiche und gut abgesicherte Studien zur Anteilseignerschaft von Arbeitnehmern und zu partizipatorischen Managementmethoden angesehen. In Unternehmen, in denen es diese beiden Elemente auf intelligente Weise gibt, ist die Produktivität deutlich angestiegen. Wer über seine Arbeit mitbestimmen kann, lebt auf, engagiert sich stärker, übernimmt mehr Verantwortung. Anders herum hat das Gefühl, am Arbeitsplatz ungerecht behandelt zu werden, erwiesenermaßen negativen Einfluss auf die Gesundheit des Arbeitnehmers. Und noch etwas ist wichtig für unser Thema: In diesen Unternehmen gerät die Einkommensschere unter demokratische Kontrolle.

Wie verträgt sich Gleichheit mit persönlicher Freiheit und Eigenverantwortung?

Das Beispiel Wirtschaftsdemokratie zeigt es doch: Mehr Gleichheit kann mehr Freiheit bedeuten – in diesem Fall mehr Freiheit für Arbeitnehmer. Der Kommunismus hat den Begriff der Gleichheit über Jahrzehnte diskreditiert. Seit dem Kalten Krieg wird Gleichheit mit Freiheitsverlust gleichgesetzt, also mit weniger Meinungsfreiheit, weniger Pressefreiheit, weniger Reisefreiheit. Wenn man nun aber Gleichheit mit einer Ausweitung von Demokratie und Freiheit in Verbindung bringt, dürfte sie bei den Menschen größere Akzeptanz erfahren. «

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