"Den deutschen Politikern fehlt Kreativität"
BERLINER REPUBLIK: Die SPD hat der Union mit den vorgezogenen Neuwahlen einen Elfmeter geschenkt. Warum hat ihn die Union nicht verwandelt?
WILLIAM E. PATERSON: Die Union hat im Vergleich zu 2002 Wählerstimmen verloren, weil Angela Merkel eine schwache Kandidatin war. Eine alte Weisheit aus amerikanischen Wahlkämpfen lautet: „You can’t beat a somebody with a nobody.“ Natürlich war es außerdem ein unglaublicher Fehler, Paul Kirchhof zu nominieren. Durch Kirchhof konnte Bundeskanzler Schröder die Union in die Defensive drängen. Das darf einer Oppositionspartei im Wahlkampf einfach nicht passieren. Aber die SPD hat ja auch große Verluste erlitten, allerdings aus einem völlig anderen Grund: Sie hat ihren Reformkurs nicht konsequent durchgehalten.
BERLINER REPUBLIK: Immerhin wollte Schröder mit den vorgezogenen Neuwahlen den Reformprozess neu legitimieren lassen...
PATERSON: ... aber schon vor deren Ankündigung hatte die SPD ihre Heuschrecken-Kampagne betrieben. Das sind doch gegensätzliche Botschaften. Sicher, mit dieser Strategie hat Schröder kurzfristig auf der Linken zusätzliche Wählerstimmen geholt. Aber langfristig hat er Wähler verschreckt, weil er den Reformdiskurs nicht überzeugend genug dominierte. Gerhard Schröder ist ein Pokerspieler, der immer alle Karten verdeckt hält, um dann für eine Überraschung zu sorgen. So kann man Wahlen in letzter Minute wenden, aber nicht die Bevölkerung für langfristige Reformen mobilisieren. Tony Blair macht das viel besser. Der langweilt ganz Großbritannien, weil er seine wichtigsten Anliegen Tag und Nacht in immer denselben Worten wiederholt. Aber irgendwann sagen die Menschen: Blairs Themen sind unsere Themen, die wollen wir anpacken! Die Deutschen müssen ihr spin doctoring stark verbessern. Zum Beispiel wurde die Öffentlichkeit doch gar nicht darauf vorbereitet, dass die geänderte Arbeitslosenstatistik die Grenze von fünf Millionen überschreiten würde. Was für ein schlimmer Fehler! Tony Blair hätte das – wie auch immer – als Riesenerfolg verkauft.
BERLINER REPUBLIK: Die Bundestagswahl hat keine eindeutigen Mehrheiten gebracht. Spiegelt sich für Sie in dem Ergebnis die Unentschlossenheit der Deutschen über den künftigen Weg wider, die deutsche Angst vor Veränderungen?
PATERSON: Nein, die Deutschen sind wie andere Völker auch: Reformen finden sie gut, solange ihre persönlichen Interessen nicht betroffen sind. Nur können diese Interessen in Deutschland aufgrund der politischen Strukturen, aufgrund der spezifischen Anordnung von Interessengruppen und Parteien stärker in das politische System eingespeist werden als anderswo. Die institutionelle Struktur Deutschlands mit ihren vielen Vetospielern wirkt letztlich als Bremse. Auf der anderen Seite ist der Korridor für Reformen in Deutschland aber größer, als die Leute glauben. Die Politiker sind nur nicht kreativ genug, um die richtigen Wörter und Visionen für das zu finden, was notwendig ist. In London sitzen Dutzende Think Tanks, die ständig mit neuen Ideen auf den Markt kommen müssen, um wirtschaftlich zu überleben. In Deutschland sollten die Stiftungen der Parteien eigentlich die politischen Ideengeber sein. Das klappt aber nicht, weil das selbst Bürokratien sind.
BERLINER REPUBLIK: In ihrem Buch „Governance in Contemporary Germany – The Semisovereign State Revisited“ fordern Sie Reformen zur Verbesserung der deutschen Wirtschaftsleistung. War die Agenda 2010 in Ihren Augen also nur ein Reförmchen?
PATERSON: Im Vergleich zu Regierungen der Vergangenheit hat Rot-Grün große Schritte unternommen, aber im internationalen Vergleich waren das tatsächlich nur Reförmchen. Ich hätte der 68er-Generation in Bezug auf Wirtschaftsreformen allerdings auch nicht mehr zugetraut. In anderen Bereichen haben sie erwartungsgemäß mehr verändert, beim Staatsbürgerschaftsrecht zum Beispiel.
BERLINER REPUBLIK: Anderswo werden wir optimistischer beurteilt. Jüngst lobte der „Economist“ die deutsche Wirtschaft, die Weltbank erklärte uns sogar zum Reformland des Jahres. Wie passt das zu ihren Forderungen?
PATERSON: Ich behaupte nicht, dass die deutsche Situation hoffnungslos ist. In manchen Bereichen ist die deutsche Wirtschaft unglaublich erfolgreich. Viele deutsche Firmen haben die Herausforderungen der Globalisierung und des europäischen Binnenmarktes bewältigt. Trotzdem hat Deutschland 5 Millionen Arbeitslose und eine Neuverschuldung von 3,9 Prozent. Deutschland erntet die Früchte dieser Wirtschaftskraft also nicht – weil der Arbeitsmarkt nicht flexibel genug ist, die Lohnnebenkosten zu hoch sind und die öffentlichen Haushalte nicht in Schuss.
BERLINER REPUBLIK: Angela Merkel hat im Wahlkampf angekündigt, sie werde als Kanzlerin „durchregieren“. Könnte sie mit der Unionsmehrheit im Bundesrat wirklich zur deutschen Maggie Thatcher werden?
PATERSON: Nein. Zum einen ist sie nicht sehr beliebt. Das haben Blair, Thatcher und auch Schröder nämlich gemein: ihre Popularität, die sie für Reformen nutzten. Zweitens würde auch Merkel als Kanzlerin stets die nächsten Landtagswahlen im Blick haben – und somit unter großen Druck geraten. Drittens ist sie umgeben von mächtigen Rivalen. Im Übrigen hat Helmut Schmidt einmal gesagt, Deutschland brauche gar keine Maggie Thatcher, sondern einen Mann wie den radikalen britischen Streikführer Arthur Scargill – also einen, der völlig klar macht, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Den gibt es nicht; vielleicht, weil Deutschland in der Vergangenheit so lange Zeit erfolgreich war. In Großbritannien faulte 1979 der Müll auf den Straßen vor sich hin. Es stank zum Himmel. Da war klar: Etwas muss passieren.
BERLINER REPUBLIK: Sind die Briten denn heute wirklich zufriedener mit sich als die Deutschen?
PATERSON: Sicher sind die Deutschen depressiver, aber das ist ein Teil ihrer Mentalität. Ich bin allerdings der Meinung: Es bringt nichts, depressiv zu sein, wenn das nicht zu Taten führt.
BERLINER REPUBLIK: Ihr Buch handelt von den institutionellen Voraussetzungen des traditionell „semi-souveränen“ deutschen Staates, in dem viele Akteure an der Politik mitwirken. Politische Veränderungen entstehen in diesem System nur inkrementalistisch, also langsam, aber gründlich. Diese Strukturen, schreiben Sie, hätten sich seit der deutschen Einheit verändert. An welchen Stellen?
PATERSON: Da ist einiges in Bewegung gekommen. Die Parteienlandschaft hat sich beispielsweise verändert. Mittlerweile ist ein Fünf-Parteiensystem entstanden, das Koalitionsbildungen schwerer macht. Die Parteien sind – wie in anderen europäischen Ländern auch – schwächer geworden. Sie haben nicht nur weniger Mitglieder, die Menschen trauen ihnen auch weniger zu. Dann hat sich das föderalistische System verändert. Zwischen den Bundesländern sind neue Konfliktlinien entstanden, möglicherweise beobachten wir zurzeit einen Wandel vom kooperativen Föderalismus hin zum Wettbewerbsföderalismus. Auch die politische Kultur hat sich durch den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten verändert. Nicht zuletzt sind die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften schwächer als früher.
BERLINER REPUBLIK: Ist der „semi-souveräne Staat“ damit noch schwerer zu steuern als vor 1989? Wird er immer unsouveräner?
PATERSON: Ihre Frage hört sich so an, als würde „semi-souverän“ sogleich Stillstand bedeuten. Nein, Inkrementalismus galt lange Zeit als etwas Positives. Wenn nämlich viele relevante Akteure gemeinsam etwas beschließen, klappt üblicherweise anschließend die Umsetzung recht gut. Die Frage ist nur, ob der langsame Wandel, der mit dem politischen System Deutschlands einhergeht, heute noch ausreicht. Tatsächlich ist Regieren in Deutschland aber in mancherlei Hinsicht in den letzten 15 Jahren schwieriger geworden. Das hat nicht nur strukturelle Gründe. Aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten haben Verteilungsfragen beispielsweise eine ganz andere Dimension als früher – auch das ist ein Resultat der Einheit. Auf der anderen Seite hat die Bundesregierung, aufgrund der Schwäche der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände, an Steuerungsmöglichkeiten gewonnen.
BERLINER REPUBLIK: Ihre Rechnung lautet also: Schwächere Gewerkschaften gleich mehr Reformen. Bräuchten wir nicht einfach pragmatischere, weniger ideologische Gewerkschaften?
PATERSON: Schwächere Gewerkschaften erleichtern Reformen. Man muss sie ja nicht umbringen, so wie Thatcher das getan hat. Letztlich hängt alles vom Geschick der Gewerkschaften selbst ab. Sie sind schließlich dazu da, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Es gibt verschiedene Wege, das zu tun. Eine Möglichkeit sind protektionistische Maßnahmen. Dagegen möchte ich einwenden: Die Wählergruppe, die bei den Wahlen in Nordrhein-Westfalen von der SPD zur CDU ging, bestand vor allem aus Leuten mit Arbeitsplatz im Alter zwischen 30 und 45. Die müssen sich gedacht haben: Ich habe Arbeit und ein Interesse, diese langfristig zu behalten; deshalb bin ich für Reformen.