2017 beginnt jetzt!
In Amerika haben sie den schönen Begriff des „Monday morning quarterback“. Das ist einer, der nach dem Footballspiel vom Wochenende ganz genau weiß, woran das eigene Team gescheitert ist und was unbedingt anders hätte gemacht werden müssen. Auch in Deutschland, wo Millionen Männer traditionell nur zögerlich bereit sind, die Autorität des jeweiligen Fußballbundestrainers anzuerkennen, ist das Phänomen verbreitet. Hinterher wissen es nun einmal alle besser – und wollen dann im Übrigen auch immer schon lange im Voraus gewarnt haben.
Dass nach einer für das progressive Lager mehr als ernüchternd ausgegangenen Bundestagswahl jede Menge progressive „Monday morning quarterbacks“ unterwegs sind, kann so gesehen überhaupt nicht verwundern. Dass viele ihrer Argumente angesichts des deprimierenden Wahlausgangs überzeugend erscheinen, allerdings ebenfalls nicht. Frank Stauss zum Beispiel hat ja schlicht und unbestreitbar Recht, wenn er das eklatante „technische Versagen“ der sozialdemokratischen Wahlkampagne herausarbeitet. Ebenso richtig liegt Robert Misik, wenn er der SPD vorwirft, sie habe Angela Merkels katastrophale Eurokrisenpolitik in den vergangenen Jahren nicht frontal angegriffen und auch nie im Ernst den Kampf um eine alternative Deutungshoheit aufgenommen. Oder wer widerspräche Thomas Kralinski, der fragt, was um Himmels willen Kampagne und Kandidat der SPD geritten habe, ohne Not auf jedes Angebot an die Ostdeutschen zu verzichten. Noch 2002 verzeichnete die Partei im Osten 40 von 58 Direktmandaten – heute hält sie hier noch ein einziges.
Die Aufarbeitung dieser und vieler weiterer Fragen – der Süden, die Jungen, die Frauen, die Mittelschichten – hat in der Sozialdemokratie noch nicht einmal begonnen; die Probleme des Wiedereinzugs ins Kabinett Merkel hielten die Partei in den Wochen nach der Wahl hinreichend in Atem. Während bei den Grünen einige der federführenden Akteure des Wahlkampfs sogleich selbst die Rolle nachträglich nörgelnder „Monday morning quarterbacks“ übernahmen (wunderlicherweise ohne dabei ihre Kritik auch nur ansatzweise als Selbstkritik zu verstehen), hat sich die SPD in puncto schonungslose Analyse erst einmal eine Auszeit gewährt.
Das ist zwar erklärlich, doch die Gefahr ist groß. Schon bald könnten die Sozialdemokraten heftig ins Straucheln geraten bei dem Spagat, einerseits fortwährend das eigene Agieren in der Großen Koalition anpreisen zu müssen, andererseits zugleich aus der Juniorpartnerschaft mit Merkel heraus ein attraktives progressives Alternativprojekt über Merkel hinaus entwickeln zu wollen. Im Alltag setzt sich dann erfahrungsgemäß zügig das Dringende gegen das Wichtige durch, das Taktische gegen das Strategische, das Kurzfristige gegen das Langfristige – und in vier Jahren folgt das grauenvolle Erwachen.
Dagegen hilft nur der entschlossene Ausbruch aus dem politischen Modus des Ausweichens und Vertagens. Sozialdemokraten und alle anderen Progressiven in Deutschland haben absolut keine Zeit zu verlieren. Wenn es überhaupt noch jemals gelingen soll, diese Gesellschaft für die Idee einer für alle besseren, weil faireren und nachhaltigeren Zukunft zu begeistern, dann gilt tatsächlich: 2017 beginnt jetzt! Die Berliner Republik wird ihren Beitrag leisten.