Abschied ohne Rückfahrkarte
D ie Piratenpartei ist der Aufsteiger des bundesdeutschen Parteiensystems schlechthin und lässt derzeit alle anderen Parteien alt aussehen. Binnen weniger Monate zogen die Piraten in vier Landtage in Folge ein. Erreichte die Partei bei ihrem ersten Wahlantritt im Januar 2008 in Hessen noch 0,3 Prozent, meinten im April 2012 laut Infratest dimap rund 50 Prozent der Befragten, es sei gut, wenn die Piraten nach der Bundestagswahl 2013 im Bundestag vertreten wären. Den Wiedereinzug der FDP in das höchste deutsche Parlament befürworteten in der gleichen Umfrage nur 36 Prozent.
Wer anfangs glaubte, der Einzug in das Berliner Abgeordnetenhaus sei die logische Artikulation der creative people und die Piratenpartei somit eine großstädtische Milieupartei, sah sich bei den Wahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen eines Besseren belehrt. Die Piraten können in gleichem Maße im ländlichen Raum Südwestdeutschlands oder zwischen Nord- und Ostsee gewinnen, wie auch in Nordrhein-Westfalen, das hinsichtlich seiner sozialräumlichen und wählerbezogenen Strukturen gemeinhin als „Kleine Bundesrepublik“ bezeichnet wird. Der nordrhein-westfälische Landtag gilt traditionell als neuen Parteien schwer zugänglich. Selbst wenn in Rechnung gestellt wird, dass die Einführung des Zweistimmensystems die Chancen kleiner Parteien verbessert hat, ist ein Ergebnis von 8 Prozent im bevölkerungsreichsten Bundesland keine Selbstverständlichkeit und gerade deshalb die wohl beste Ausgangsplattform der Piraten, um sich auch im Bundestag zu verankern. Gleichwohl bleiben die Piraten ein schillerndes neues Phänomen in der deutschen Parteienlandschaft und sind daher als Projektionsfläche für vielerlei Motive geeignet. Die Vielzahl jüngst erschienener Publikationen zeugt von breitem Interesse, dieses Phänomen zu ergründen.
Anders als die PDS 1990, die WASG 2005 oder Die Linke 2007 entwickelten sich die Piraten nicht durch Transformation einer bereits bestehenden Partei, durch Abspaltung oder Fusion, sondern gänzlich neu und mit dem Ziel, eine bestehende Repräsentationslücke im Parteiensystem auszufüllen. Insoweit erinnert ihr Aufstieg an den Aufstieg der Grünen Ende der siebziger Jahre, die damals von den anderen Parteien vernachlässigte Themenfelder wie Umweltschutz und Frauen- beziehungsweise Gleichstellungspolitik besetzten. Die Piraten repräsentieren infolge der „digitalen Revolution“ neu entstandene Themen wie Netzpolitik, Informationsfreiheit und Partizipation mit den Mitteln der digitalen Kommunikation.
Um langfristig erfolgreich zu sein, reicht es freilich nicht, als erster am Thementisch zu sitzen. Denn Themen suchen sich ihre Parteien und erfahrungsgemäß reagiert das Parteiensystem mittelfristig auf thematische Veränderungen. Durch eine geschickte Positionierung werden verschiedene gesellschaftliche Konfliktlinien kombiniert, um Machtchancen zu verbessern. Dass zwischenzeitlich die Mehrheit der Umweltminister in Bund und Ländern von CSU bis Linkspartei gestellt wird, hat den Grünen nicht geschadet, sondern verweist darauf, dass noch weitere Bestimmungsmomente für parteipolitische Durchsetzungsfähigkeit existieren.
Der Etablierung der Grünen lag die Herausbildung der damals neuen „postmaterialistischen“ gesellschaftlichen Konfliktlinie („Cleavage“) zugrunde. Charakteristisch an dem neuen Cleavage war, dass es weniger von sozialstrukturellen als vielmehr Einstellungs- und Lebensstilmerkmalen geprägt war und in Form des Umweltthemas, aus dem sich der Gegensatz Materialismus-Postmaterialismus speiste, quer zu den bestehenden kulturellen und ökonomischen Konfliktlinien lag. Ein Grund dafür, warum die Grünen anfangs auf der Links-rechts-Skala – ebenso wie die Piraten heute – nicht eindeutig zu verorten waren.
Ein neues Milieu, geprägt durch die digitale Revolution
Viel spricht dafür, dass sich in Deutschland eine durch die digitale Revolution geprägte Wählerschaft herausgebildet hat, mit einer eigenen Lebenswelt, die in der Piratenpartei ihren parteiförmigen Ausdruck sucht, da das herkömmliche Parteienspektrum dieses Milieu nur unzureichend erfassen kann. Dass die Piraten in dieser Konstellation eine single-issue party darstellen, ist keineswegs ein Manko, sondern Teil ihrer Authentizität. Sie geben freimütig zu, dass sie zu vielen Themen keine Meinung oder mehrere Ansichten haben und präsentieren Entscheidungs- und Programmfindungsprozesse als „Open-Source-Demokratie“, die mittels Schwarmintelligenz fortentwickelt wird.
In der bereits vor zwei Jahren bei der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) erschienenen Studie „Die Piratenpartei: Hype oder Herausforderung für die deutsche Parteienlandschaft?“ ordnen die Autoren die Wählerschaft der Piraten sozialen Milieus unter Rückgriff auf die Arbeiten des Heidelberger Sinus-Instituts zu. Die „Landkarte“ der Sinus-Milieus besteht aus einer Neun-Felder-Tafel, deren vertikale Achse die drei sozialen Lagen „Unterschicht/Untere Mittelschicht“, „mittlere Mittelschicht“ und „obere Mittelschicht/Oberschicht“ enthält und die horizontale Achse die Grundorientierungen „traditionelle Werte“, „Modernisierung“ sowie „Neuorientierung“. Auf dieser zweidimensionalen Karte finden sich zehn Milieus. Übereinstimmung mit der Wählerschaft der Piraten finden die Autoren bei den auf der Linie der „Neuorientierung“ liegenden Milieus („Moderne Performer“, „Experimentalisten“, „Hedonisten“) sowie dem von der Linie der „Modernisierung“ in die „Neuorientierung“ reichenden Milieu der „Postmaterialisten“.
Zunächst sei daran erinnert, dass soziale Milieus eine Beschreibung der in gewisser Hinsicht künstlich abgegrenzten Gruppen Gleichgesinnter darstellen, die im Zeitverlauf nicht stabil bleiben, sondern wachsen, schrumpfen, sich teilen, absterben oder neu entstehen. Gleichwohl werden die im Jahr 2010 veröffentlichten Annahmen zur Piraten-Wählerschaft durch die sozio-strukturellen Erkenntnisse der Wahlstatistik aus den vier jüngsten Wahlen bestätigt, bei denen die Piraten in Landtage einzogen.
Die HSS-Autoren sehen eine mittelstarke Übereinstimmung mit den Postmaterialisten, insofern sich die Piraten als „kultureller Vorreiter für die Verfügbarkeit von Wissen und kulturellen Gütern“ verstehen und somit „Freizeitinteressen und Sozialstruktur (Kreative, Intellektuelle, Jugendliche, Studierende) dieses Milieus“ abdecken. Mit dem von der mittleren Mittelschicht bis zur Oberschicht reichenden Milieu der Modernen Performer weisen die Piraten im Hinblick auf hohen Bildungsgrad, den Anteil von Studierenden und Selbständigen und dem hohen Anteil an den unter 30-Jährigen Deckung auf. Für dieses Milieu ist die Nutzung moderner Kommunikationsmittel selbstverständlicher Bestandteil des Alltags. Sie selbst verstehen sich laut der Studie als „unkonventionelle, technologische und kulturelle Elite“, die Reglementierung im privaten Raum tendenziell ablehnend gegenüber steht.
Die dritte Gruppe, die Hedonisten, ist im Hinblick auf ihre soziale Lage zum überwiegenden Teil der Unterschicht und der unteren Mittelschicht zugeordnet. In der Grundorientierung teilt sich diese Gruppe fast hälftig in Modernisierung und Neuorientierung. Zu den hedonistischen Milieus zählen auch die Experimentalisten, worunter eine stark individualistische neue Bohème zu verstehen ist, die hinsichtlich ihrer sozialen Lage zur mittleren Mittelschicht zu zählen ist. In beiden Milieus können sich die kreativen, kulturellen Vorreiter von den Piraten angesprochen fühlen, wobei der Protestwähleranteil steigt, je niedriger die soziale Lage ist.
Jung, männlich und konfessionslos
Verschiedene Erkenntnisse der HSS-Studie lassen sich als Erläuterungsfolie auf die zu den Landtagswahlen veröffentlichten Umfragedaten legen. Am Beispiel von Schleswig-Holstein-Wahl soll dies exemplifiziert werden.
Die vier wichtigsten wahlentscheidenden Themen für Piraten-Wähler im Nordwesten waren soziale Gerechtigkeit (34 Prozent), Netzpolitik (26 Prozent), Schulpolitik (24 Prozent) und Arbeitsmarktpolitik (21 Prozent). Gemessen am Durchschnitt aller Wähler sticht die Netzpolitik als besonderes Thema der Piraten heraus. Lediglich für die Wähler von SPD und Linkspartei waren die vier im Durchschnitt aller Wähler wichtigsten wahlentscheidenden Themen Wirtschaftspolitik, Schulpolitik, Soziale Gerechtigkeit und Arbeitsmarktpolitik ebenfalls wahlentscheidend. Alle anderen Parteien hatten, wie die Piraten, mindestens ein „Sonderthema“, CDU und FDP etwa die „öffentliche Verschuldung“.
Hinsichtlich der Einschätzung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage unterscheiden sich die Wähler der Piraten gleich mehrfach von denen anderer Parteien beziehungsweise vom Durchschnitt:
- Während sich 17 Prozent aller Wähler „große Sorgen“ um ihre wirtschaftliche Situation machen, sagte dies fast ein Drittel der Piraten-Anhänger über sich.
- Nur 29 Prozent der Piraten-Wähler gaben an, von der wirtschaftlichen Entwicklung zu profitieren, während 35 Prozent aller Wähler und knapp die Hälfte der CDU- und FDP-Wählerschaft dies von sich behaupteten.
- Gut die Hälfte der Piraten-Anhänger sah sich bei der „gesellschaftlichen Entwicklung“ auf der „Gewinner“-Seite, deutlich weniger als bei CDU, FDP und Grünen, etwa gleichauf mit den Anhängern der SPD.
- Die Frage „Sind Sie zufrieden mit der Demokratie?“ beantworteten 80 Prozent der CDU-Anhänger mit Ja, auch 73 Prozent der Grünen-Anhänger. Nur bei den Piraten war laut Infratest dimap mit 43 Prozent eine Minderheit zu verzeichnen – wobei die Anhänger der Linkspartei nicht ausgewiesen wurden.
Die Herkunft der Piraten-Anhänger aus Schleswig-Holstein bestätigte, ebenso wie die spätere Wahl in NRW, die Ergebnisse aus Berlin und dem Saarland: überdurchschnittliche Ergebnisse bei männlichen Erstwählern, Wählern unter 45 Jahren und besonders bei männlichen Wählern unter 35 Jahren. Die Wählerschaft der Piraten ist „jung, männlich, konfessionslos“, fasste Daniel Deckers in der FAZ vom 22. April 2012 prononciert zusammen. Hinzuzufügen wäre, dass die Anhänger der Piraten unzufrieden mit dem vorhandenen Parteienangebot und dem Zustand des politischen Systems sind. Stärker als der Durchschnitt betrachten sie ihre soziale Lage als prekär und blockiert, verbinden dies aber nicht mit einer Präferenz für klassische Arbeitsmarkt- oder sozialstaatliche Politikangebote, sondern mit Fragen der Netzpolitik und der Transparenz und Offenheit, also den Partizipationsmöglichkeiten des politischen Systems. Die Hypothese, dass es sich bei der Piratenpartei um den politischen Arm eines neuen „Generationen-Projekts“ handeln könnte, erhält weitere Bestätigung.
Worin drückt sich dieses Generationen-Projekt aus? Beschreibt „Protest“ die Wahlmotive der Piratenanhänger ausreichend? Die Erkenntnisse von Infratest dimap aus den im Oktober 2011 und im April 2012 für den Deutschlandtrend durchgeführten Befragungen scheinen dies zu bestätigen: Rund zwei Drittel der Befragten stimmten der Aussage zu, dass bei der Wahl der Piraten das Motiv im Vordergrund steht, anderen Parteien einen Denkzettel zu verpassen.
Wiederum rund zwei Drittel sahen in den Piraten eine Wahlalternative für diejenigen, die sonst gar nicht zur Wahl gehen würden. Ein Drittel lehnte diese Aussage ab. Während nur weniger als jeder Fünfte im Oktober 2011 der Aussage zustimmte, dass die Piraten eine echte Alternative zu den Mitte-Links-Parteien SPD, Grüne und Linkspartei seien, stimmte im April 2012 bereits ein Drittel der Befragten der Aussage zu, die Piraten seien eine Alternative zu den etablierten Parteien.
Ohne Ahnung und Programm? Piraten-Wähler stört das nicht
In diesem Kontext von Interesse ist die politische Verortung der Piratenpartei durch die Wähler im Allgemeinen und die eigene Anhängerschaft im Speziellen. Infratest dimap legt dabei das Links-rechts-Schema zugrunde, bei dem die Links-rechts-Einstufung auf einer Skala von 1 „links“ bis 11 „rechts“ für insgesamt sieben Parteien erfolgt. Im April 2012 wird die Piratenpartei von den Wählern mit 4,6 dem linken Parteienspektrum zugeordnet, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Grünen. Die Anhänger der Piratenpartei verorten die Partei dagegen mit 5,2 genau auf der durchschnittlichen Selbsteinstufung der Gesamtbevölkerung und sich selbst mit 5,1 in unmittelbarer Nachbarschaft dazu.
Nur ein Drittel der von Infratest dimap Befragten wollte im April 2012 den Piraten eine dauerhafte Rolle im bundesdeutschen parlamentarischen System zugestehen. Knapp zwei Drittel hielten die Partei für eine Zeiterscheinung. Bei den Piraten-Anhängern ist dieses Quorum naturgemäß spiegelverkehrt. Aber immerhin 36 Prozent der Piraten-Anhänger glaubten nicht an einen dauerhaften Wahlerfolg der eigenen Partei. Von den Anhängern der anderen etablierten Parteien waren im Frühjahr des Jahres diejenigen der Linkspartei mit 57 Prozent am wenigsten bereit, die Piraten als eine parlamentarische Zeiterscheinung zu sehen. Die Anhänger von SPD und CDU waren sich mit 67 beziehungsweise 68 Prozent diesbezüglich deutlich sicherer.
Gewählt oder nicht gewählt wird eine Partei auf der Basis der Vorstellungen, die die Wähler sich über die Partei machen. Vorstellungen über eine Partei entwickeln sich selten in Kenntnis der Programmatik einer Partei. Viel wichtiger ist die Vorstellung darüber, „wofür eine Partei steht“, sind ihr Habitus, ihre Kultur und ihre Werte. Weiter spielt eine bedeutsame Rolle, welches Verhältnis die Partei zu den anderen Parteien einnimmt und welche positiven, negativen, verärgerten oder anpassenden Reaktionen der anderen Parteien auf einen Erfolg der Partei erwartet oder erhofft werden. Schließlich spielen bei der Wahlentscheidung auch die Annahmen und Vorstellungen darüber eine Rolle, ob die Partei in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, im Alltag geerdet ist und realitätstaugliche Angebote hat, bei denen man sich vorstellen kann, „dabei“ zu sein.
Dass die Piratenpartei zu vielen Themen keine Position oder mehrere Meinungen hatte, war zwar in den Augen der politischen Konkurrenz ein Makel – nicht aber in den Augen der Bürger. Vielmehr wurde die programmatische Offenheit, die den etablierten Parteien als Taktik ausgelegt worden wäre, als Alternative zu den fertigen politischen Menüs der anderen Parteien wertgeschätzt. Wer Partizipation gut findet, sah in den Piraten die Option, Politik als offenen Prozess zu gestalten.
Insoweit können die Erfolge der Piratenpartei als Ausdruck des Bedürfnisses von Teilen der Wählerschaft gelesen werden, im politischen Feld Bewegung zu erzeugen. Die Partei in Landtage und im Herbst nächsten Jahres vielleicht in den Bundestag zu bringen, ist bereits die entscheidende Veränderung, weil sie neu ist und weil die anderen Parteien gezwungen sind, auf diese neue Option zu reagieren. Dass die Piratenpartei bis zur NRW-Wahl rot-grüne Optionen eher verschlechterte, machte sie in den Augen der Mitte-links-Parteien zum „Steigbügelhalter der Union“, wenn auch ohne Vorsatz. In den Augen der Piratenanhänger stellte dies allerdings keinen Nachteil dar, erscheinen die erstarrten, bekannten, ausrechenbaren Konstellationen und Optionen zwischen den parlamentarisch etablierten Parteien doch als ausgereizt. Für diese Rolle der neuen Partei braucht es weder ein umfangreiches Programm noch kompetentes Personal. Ihre Wahl als Abschiedsgruß ohne Rückfahrkarte an die anderen Parteien zu verstehen, trifft die Motivation der Piraten-Wähler deshalb vermutlich besser als die Etikette der „Protestwahl“, mit der die Zustimmung zu jeder neuen Partei simplifiziert wird, oder das den frühen Grünen entlehnte Motto der „Anti-Parteien-Partei“.
Das Bedürfnis nach Veränderung scheint in der Gesellschaft, zumal bei den unter Vierzigjährigen, weit verbreitet, aber geprägt von ideologischer Richtungslosigkeit im klassischen Sinn. Zuvor drückte sich die Auffassung, dass es so, wie es ist, nicht weitergehen kann, in der Wahl von Parteien auf den Polen „Markt/Individuum“ (FDP) oder „Staat/Gesellschaft“ (Linkspartei) aus. Jetzt steht die Wahlentscheidung für die Piraten gegen die Abschottung des politischen Systems vom Alltag, gegen „Politsprech“, für die Freiheit des Individuums und für gesellschaftliche, gemeinschaftliche Einrichtungen.
Dies wirft die Frage auf nach den gesellschaftlichen Konfliktlinien, nach den blockierten Entwicklungspfaden, auf die durch die Wahl der Piraten aufmerksam gemacht werden soll. Schaut man auf die Themen, mit denen die Piraten seit ihrer Gründung verbunden werden, so handelt es sich um große Fragen wie Eigentum, Rechte des Individuums, Rechte der Produzenten und Bürger in einer technologisch radikal veränderten Produktionsweise. Weil die Partei die Gemeineigentümer betont und soziale Gerechtigkeit ein wesentliches wahlentscheidendes Motiv ist, kann die Piratenpartei als Wiedergeburt des Sozialliberalismus unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet werden. Dieser Sozialliberalismus könnte verstanden werden als „Abfallprodukt“ der Legitimationskrise des Neoliberalismus und Antwort auf dessen Auswüchse: auf Entdemokratisierung und Ökonomisierung sowie das uneingelöste Versprechen entfalteter Individualität. Es geht um einen Ausbruch aus der scheinbaren Alternativlosigkeit von „Markt versus Staat“.
Den Bedürfnissen, die mit der Wahl der Piratenpartei zum Ausdruck kommen, können die etablierten Parteien nicht Rechnung tragen, indem sie netzpolitische Sprecher benennen und internetbasierter Mitbestimmungsinstrumente einführen. Die Piraten repräsentierten eine soziale Schicht, die sich in den Personen und Themen der anderen Parteien nicht wiedererkennt, weil sie quer zum Mainstream liegt – und keinen Grund (mehr) sieht, sich für das kleinere Übel zu entscheiden. Hier geht es nicht um Forderungen und Interessen, sondern um Werthaltungen, um Einstellungen und um Habitus, um kulturelle Codes. Und gleichzeitig um die Eigentumsfrage in neuer Gestalt – nicht weil der Kapitalismus am Ende ist, sondern weil sich die technologische Struktur der Wertschöpfung und der Gesellschaft radikal verändert hat, weil etwa technologisch gestützte Produktions-, Distributions- und Konsumweisen entstanden sind, die die Eigentumsfrage in neuer Gestalt akut machen.
Der Text basiert wesentlich auf der Themenausgabe zur Piratenpartei der „Wahlnachtberichte“ (http://wahlanalysen.wordpress.com), die der Autor gemeinsam mit Horst Kahrs herausgibt.